"Vielleicht hätte ich auch gedacht, ein Gänseblümchen zu sein, hätte ich irgendwo gelesen, dass ein Manisch-Depressiver so etwas denkt."
Die Diagnose manisch-depressiv wirft die 16-jährige Christin vollends aus der Bahn. Klapse statt Strandurlaub heißt das für die Sommerferien. Zu Stimmungsschwankungen, Orientierungslosigkeit und Identitätsdiffusion der pubertierenden Protagonistin gesellen sich nun auch noch ständige Selbstbeobachtung und die Unsicherheit gegenüber dem eigenen Handeln. "So eine Diagnose zu bekommen, führt dazu, dass man nur noch überlegt: Was ist normal von dem, was ich mache, was ist krank? Das führt in eine Spirale der Selbstbeobachtung und birgt die Gefahr, diese kranke Identität wirklich mehr und mehr anzunehmen", sagt Charlotte Fritsch, Förderpädagogik-Studentin an der Universität Erfurt und "Schöpferin" von Christin. Charlotte Fritsch muss es wissen: Die 22-jährige Autorin des Buches "Zwischen mir und mir. Sommerferien in der Psychiatrie" macht im Alter von 16 Jahren die gleiche Erfahrung wie die Hauptfigur ihres ersten Romans: Ein Arzt diagnostiziert ihre Verhaltensauffälligkeiten als krankhaft und lässt sie über die Sommerferien in die Jugendpsychiatrie einweisen. Eine Fehldiagnose, wie sich später herausstellt. Aber eine Fehldiagnose, die Charlotte Fritsch auch tief in den Alltag einer psychiatrischen Klinik blicken lässt und ihr Erstlingswerk deshalb so authentisch macht.
Bereits während der Therapie beginnt die Jungautorin, ihre Erfahrungen aufzuschreiben. Später entwickelt sich aus den tagebuchhaften Mitschriften und um die reale Erfahrung herum mehr und mehr eine fiktive Geschichte. Sechs Jahre lang greift Charlotte Fritsch immer wieder zu ihren Aufzeichnungen, arbeitet weiter an der Geschichte, legt dann doch alles wieder zur Seite. "Eine letzte Chance gab ich dem Text dann doch noch", lacht sie. Sie schickt ihr 500-Seiten starkes Manuskript an einen Berliner Verlag. Neun Monate lang lässt der nichts von sich hören. Im Ostseeurlaub kommt dann aber doch noch unverhofft der Anruf und nur eine Woche später sitzt die Studentin beim Gespräch im Verlag. "Ich sollte mir ein bis zwei Sätze überlegen, eine Intention, was ich mit dem Buch sagen will", erinnert sich Fritsch. "Dann musste ich den sehr detaillierten Text, der aufgrund der vielen und langen Dialoge fast wie ein Theaterstück wirkte, auf diese Intention hin noch einmal überarbeiten." Die Intention lässt sich für sie schnell in Worte fassen: "Die Geschichte soll aufzeigen, wie sich die Diagnose einer psychischen Erkrankung auf das Selbstbild eines Jugendlichen auswirkt und welchen negativen Einfluss das auf die Entwicklung haben kann". Schließlich habe sie selbst erlebt, wie sie sich allein durch die Diagnose in ein Krankheitsbild hineingesteigert habe. "In meinem Studium der Förderpädagogik lernte ich dann auch die wissenschaftlichen Theorien kennen, die genau das untermauern: Eine Diagnose kann eine Störung aufrechterhalten oder verstärken", erklärt die 22-Jährige. Im Klartext heißt das: Wenn zu einem diagnostizierten Krankheitsbild gehören würde, sich als Gänseblümchen zu fühlen, dann fühlt man sich früher oder später auch so. Gerade für Jugendliche, die in der Pubertät sowieso eine schwierige Phase durchmachen, könne das negative Auswirkungen haben.
Charlotte Fritsch hat diese Erfahrung zum Glück nicht geschadet und viel Christin steckt heute auch nicht mehr in Charlotte. "Es gibt sicher Parallelen zwischen der 16-jährigen Charlotte und der 16-jährigen Christin. Aber meine Protagonistin hat mit mir heute nicht mehr viel zu tun", betont Fritsch. "Heute habe ich ganz andere Ansichten und bin gefestigt." Die Erfahrung, einen Sommer in der Psychiatrie zu verbringen, sehe sie als abgeschlossenen Lebensabschnitt, der an sich heute keinen Einfluss mehr auf ihr Leben habe – abgesehen davon natürlich, dass er ihr ermöglicht habe, dieses Buch zu schreiben, und dass sie jetzt neben dem Studentenleben noch ein weiteres, das einer Schriftstellerin, führe. Dazu gehört es auch, Marketing in eigener Sache zu betreiben, wie die Facebook-Seite zum Buch zu verwalten oder Lesungen zu halten, die sie von der Auswahl der Location bis hin zum musikalischen Rahmenprogramm auch selbst organisiert. Neun Lesungen hat Fritsch seit der Veröffentlichung ihres Werkes am 6. April bereits gehalten, nur fünf muss sie laut Vertrag jährlich bestreiten. "Es macht einfach großen Spaß. Am Anfang war ich noch etwas aufgeregt, trotz Bühnenerfahrung. Es ist schon etwas anderes, wenn man ganz allein mit einem eigenen Text vor Publikum spricht", sagt die Studentin. "Aber jetzt habe ich mich schon daran gewöhnt und das Publikum ist immer sehr dankbar. Manche kommen danach auch auf mich zu, sprechen ganz offen über eigene, ähnliche Erfahrungen. Auch Therapeuten hatte ich schon im Publikum, die mich im Anschluss gefragt haben, ob sie wirklich so rüberkommen", lacht Fritsch. Auch das Feedback von Kommilitonen und Professoren an der Universität Erfurt ist positiv. Auf dem Campus möchte Charlotte Fritsch dann ebenfalls bald lesen, ebenso in der Stadtbibliothek Weimar. Dort plant ihre ehemalige Deutschlehrerin des Schiller-Gymnasiums für ihre zehnten Klassen eine Lesung im neuen Schuljahr.
Jetzt im Sommer will sich die 22-Jährige jedoch erst einmal ganz ihrer Bachelor-Arbeit widmen. Denn der Erfolg als Autorin bringt sie nicht von ihrem beruflichen Ziel ab, Lehrerin zu werden. "Nach meinem Bachelor werde ich an der Uni Erfurt auf jeden Fall noch den Master absolvieren. Meine Praktika in verschiedenen sozialen Einrichtungen, ob in der Förderschule oder im Kinderheim, haben mir gezeigt, dass ich beruflich mit jungen Menschen arbeiten möchte", sagt Fritsch bestimmt und fügt hinzu: "Natürlich werde ich auch weiterhin schreiben, einfach um mich mit etwas auseinanderzusetzen oder um einen Moment festzuhalten". So bleibt das Schreiben für die angehende Förderpädagogin auf jeden Fall ein Hobby – oder auch eine Nebentätigkeit. Der Erfolg von "Zwischen mir und mir" jedenfalls spricht schon einmal dafür.
Charlotte Fritsch
Zwischen mir und mir – Sommerferien in der Psychiatrie
Periplaneta Berlin, 2013
ISBN: 978-3-943876-62-8
160 Seiten
12,50 EUR