Prof. Dr. Michael Gabel war von 2003 bis 2020 Professor für Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät und hatte von 2011 bis 2017 das Amt des Dekans inne. Anlässlich seiner Abschiedsvorlesung haben wir ein Interview mit ihm geführt.
Herr Gabel, Sie blicken nicht nur auf eine lange, sondern auch auf eine sehr bewegte akademische Karriere zurück. Gibt es irgendeinen Moment, an den Sie sich besonders gerne zurückerinnern?
Bewegend war für mich der Abschluss meiner Arbeit über Max Scheler. Das war nicht nur eine rein akademische Arbeit, sondern mehr und mehr auch so etwas wie ein persönliches Verhältnis. Und weil Max Scheler in Köln auf dem Südfriedhof beerdigt ist und zu diesem Zeitpunkt die Mauer noch nicht gefallen war, bin ich nach Berlin auf den Dorotheenstädtischen Friedhof gefahren zu den Geistesgrößen und habe dort auch an Max Scheler gedacht und daran, dass es schön ist, wenn man in dieser Welt des Geistes ein bisschen unterwegs sein darf. Das war mir ein wichtiges Anliegen.
Erinnern Sie sich, wann Sie das erste Mal auf Scheler oder die Phänomenologie im Allgemeinen gestoßen sind?
Wir haben in unserem Studium eine Vorlesung gehört, in der es um die Geschichte der Philosophie im 20. Jahrhundert ging und da ist Scheler eher beiläufig erwähnt worden. Und tatsächlich bin ich dann auf ihn gestoßen, als es darum ging, ein Promotionsvorhaben festzulegen. Da kam unter anderem die Überlegung, wie es mit dem kirchlichen Philosophisch-Theologischen Studium weitergehen solle. Wir können doch nicht nur die Neuscholastik immer weiter fortsetzen, sondern müssten - egal wie der Marxismus sich in der DDR entwickelt - den Anschluss an die Philosophie der Gegenwart suchen. Da bot sich als ein mögliches Thema die Phänomenologie an. Da wiederum Heidegger für die Theologie schon sehr weit durchgearbeitet war, Husserl auch, und wir überdies in unserer Bibliothek die Quellen und die einschlägige Sekundärliteratur nur teilweise zur Verfügung hatten, kam der Gedanke, sich mit Max Scheler auseinanderzusetzen und etwas zum Offenbarungsverständnis bei ihm zu machen. Ich hatte von Phänomenologie kaum eine Vorstellung, jedenfalls nicht als Methode, und konnte deswegen auch dieses Thema so nicht unmittelbar angehen.
Im Grunde genommen wurde die Arbeit eine Auseinandersetzung mit dem, was Phänomenologie unter dem Fingerzeig Max Schelers bedeutet. Also, die Grundlagen – und daran habe ich mich abgearbeitet und mir meinen eigenen Zugang geschaffen. Eigen war er vor allem deshalb, weil es in Erfurt keine Gesprächspartner gab. Ich war auf den heimlichen Kontakt mit befreundeten Professoren aus der Bundesrepublik angewiesen, den ich anfangs einmal im Jahr für 30 Minuten haben konnte. Für ein solches Treffen in Berlin hatte ich einmal ein kleines Exposé angefertigt und dem Professor übergeben, der es mitnehmen wollte. Die Grenzbehörden der DDR haben dieses Exposé bei ihm gefunden und den Vorwurf erhoben, hier würden verbotenerweise Wissenschaftskenntnisse der DDR in den Westen verschleppt. Andere Gründe kamen hinzu, so dass orientierende Gespräche weithin ausbleiben mussten bis die Arbeit fertig war. Wenig später fiel die Mauer, die deutsche Einheit kam - und endlich konnte man sich austauschen.
Das heißt also, für mich war das eine an allen Schulen und Traditionen vorbei erfolgende Auseinandersetzung, die von daher eben auch ihre Einseitigkeiten hat – aber sie ist eben meins. Und was für mich ein – wie soll man das nennen – Evidenzkriterium war: Als ich für kurze Zeit nach Freiburg kam, habe ich festgestellt: Die haben ja so eine ähnliche Sprache, wie ich sie mir habe zurechtlegen müssen. Für mich war klar, wenn Sprache unabhängig voneinander so entsteht aus der Beschäftigung mit diesen Texten, dann kann’s ja nicht ganz falsch gewesen sein.
Wenn Sie auf Ihre Studienzeit in der DDR zurückblicken: Was sind Dinge, die für die heutigen Studierenden selbstverständlich sind, die damals wirklich schwer waren oder gab es auch Dinge, die vielleicht einfacher gingen, als man das heute rückblickend erwarten würde?
Also, das Studium selbst, die Bedingungen des Studiums waren völlig andere als heute. Das wichtigste war, dass dieses Studium kein anerkanntes Hochschulstudium in der DDR war. Es tauchte auch im Hochschulverzeichnis nicht auf. Und das andere wichtige war: Man konnte in Erfurt nur studieren, wenn man Priester werden wollte. Also, ein freies Laienstudium war verboten - von der DDR, nicht von der Kirche. Das heißt also, wenn man sich entschieden hat, ich will dort studieren, hieß das zunächst mal: Es gibt kein zurück. Ich erreiche das Ziel oder die Jahre sind verloren. Und ob man beim Ausscheiden noch woanders eine Chance hat, weiß man nicht. Allerdings galt auch: Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Die meisten haben ihren Weg gefunden. Aber grundsätzlich wäre es das beste gewesen, man würde so ein Studium beginnen, wenn man schon einen Beruf hat. Ich hatte aber ein staatliches Abitur und mehr nicht. Und von daher war das natürlich schon ein eigenes Wagnis.
Andererseits hatte dieses Studium, gerade weil es komplett abgeschlossen war, den westlichen Bildungskanon in der Theologie und Philosophie. Wir waren im Unterschied zu den staatlichen Hochschulen wesentlich näher am europäischen Bildungskanon dran. Und teilweise in der Literatur. Denn es wurde immer auch darauf geachtet, dass es wenigstens ein Miniprogramm z. B. an Kunst und eben vor allem auch an Literatur, und auch ein wenig an Musik gab.
So wie Sie das jetzt beschreiben, gab es innerhalb des Studiums in Erfurt wahrscheinlich einen sehr starken Zusammenhalt. Wie haben Sie es dann - auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrung - erlebt, als das Studium als Fakultät in die Universität integriert wurde?
Also, für mich ist der entscheidende, wichtige Unterschied zwischen dem Studium als Einrichtung in der DDR - und notgedrungen auch noch in den 90er Jahren, da allerdings nicht mehr so stark -, dass wir in der Zeit der DDR eine Wissenschaft ohne lebendige interdisziplinäre Kontakte waren. Die Fakultätswerdung in 2003 bedeutete , dass wir als Teil der Universität in einem ganz anderen Maße jetzt auch die Möglichkeit hatten zu interdisziplinären Kontakten, Verknüpfungen, gemeinsamem Arbeiten. Wobei das wiederum immer voraussetzt, dass es ein Grundverständnis von Gemeinsamkeit gibt, um überhaupt zusammenarbeiten zu können. Das ist für mich die große Neuerung.
Ein anderer wichtiger Punkt, der heute eine große Rolle spielt, ist der Dialog zwischen Theologie und Gesellschaft. Welche Rolle sollte Theologie als Wissenschaft Ihrer Meinung nach in der Gesellschaft spielen?
Also, dass die Theologie sich als ein Gesprächspartner der Menschen präsentieren und anbieten muss, halte ich für absolut notwendig, wenn wir Zukunft haben wollen. Und dabei geht es nicht nur um den wissenschaftlichen Diskurs als wissenschaftlichen Diskurs, sondern um eine verantwortete Gottesrede, die wir aber gegenüber denen, die keine Glaubensvoraussetzungen mitbringen, einüben müssen. Da gibt es sicher viele Möglichkeiten, die wir aber neu suchen müssen. In der DDR gab es auch solche Möglichkeiten, die zwar eher im Persönlichen waren, die sich aber daraus speisten, dass viele Menschen mit dem System unzufrieden waren und Aufklärung wollten über das, was da nicht stimmt, und da auch gerne mit Theologen gesprochen haben. Auch heute gibt es sicher eine Vielfalt von Fragen, die schlicht das tägliche Leben mit sich bringt oder die großen, auch schwierigen, schlimmen Ereignisse, die Menschen fragen lassen. Da kommt es eben darauf an, dass wir eine Gesprächsbereitschaft haben, in der wir auf das eingehen, was die Menschen umtreibt.
Aber man darf sich da keinen Illusionen hingeben. Ich glaube, dass das ein langer, langer, langer Weg ist. Mein ehemaliger Kollege und Freund, der Bischof von Magdeburg, hat mal in einer bemerkenswerten Predigt sinngemäß gesagt: „Wir sind gerne als Christen bereit, dem ersten Petrusbrief zu folgen und Rechenschaft von unserer Hoffnung abzulegen. Nur was machen wir, wenn das niemand hören will?“ Und mit dieser Möglichkeit müssen wir eben auch rechnen.
Deshalb kann ich nur betonen, es hilft am Ende nur, dass man einfach mit den Menschen zusammenlebt. Und wir müssen eben auch geduldig warten, dass ein wechselseitiges Interesse entsteht. Ich merke, dass es nicht so zielführend ist, wenn die Leute den Eindruck haben: „Die betreiben nur Nabelschau und streiten sich über ihre inneren Angelegenheiten.“ Das interessiert die Menschen nicht. Sondern wenn, dann müssen wir die Themen so vortragen, dass die Menschen darin auch ihre Fragen wiedererkennen oder ihre Suche oder ihre Erfahrungen. Das ist aber nicht leicht.
Hatten Sie selbst das Gefühl, dass Ihre wissenschaftliche Arbeit und Ihre Arbeit als Seelsorger voneinander profitiert haben?
Ja, ja, das habe ich total. Da würde ich sagen, für mich ist die Phänomenologie nicht nur eine inhaltliche Wissenschaft, sondern eine Methode, die hilft, wichtige Anliegen einzelner Wissenschaften besser zur Sprache zu bringen, auch die der Theologie und insbesondere dessen, was Offenbarung ist und was Mensch sein bedeutet. Und darüber zu arbeiten, wie man da phänomenologisch tiefer dringen und welche Einsichten man fruchtbar machen kann. Das hilft dann auch in der Seelsorge. Das hilft einmal einem selbst im Auseinandersetzen und Ergründen von Fragestellungen, das hilft mir aber auch in der Predigt. Oder wenn ich hier in der Lokalpresse schreibe, dann versuche ich das normalerweise immer als Beschreibung von Erfahrung zu tun. Bis dahin, dass ich schon den Eindruck habe, wesentliche Themen des Glaubens spielen durchaus auch in der Phänomenologie eine entscheidende Rolle : Was heißt Hören? Was heißt Sehen?
Einen wichtigen Zusammenhang hat Heidegger herausgearbeitet: Die Korrespondenz zwischen Zugang und dem, was ich in diesem Zugang finde. Das hilft mir, die Menschen zu verstehen. Es kann nämlich bedeuten, dass man auch die Frage stellen muss: Gibt es möglicherweise einen eigenen Zugang für Gott.
Wenn jemand sagt, er kann mit Gott nichts anfangen, dann muss das nicht heißen er will nicht glauben. Es kann heißen, dass er diesen Zugang, ja noch nicht einmal die Suche nach ihm, noch nicht gefunden hat. Ja und man kann noch nicht mal vorweg urteilen, der wird das ablehnen oder der wird dem zustimmen. Das wissen wir schlicht und einfach nicht. Deshalb kommt es darauf an, Zugänge zu erschließen und vorzuschlagen. Und wir sollten uns nicht wundern, wenn in solchen Gesprächen sich Neues erschließt – nicht nur bei unserem Gegenüber, sondern viel mehr noch bei uns selbst. Sogar über das, was wir mit dem großen Wort Transzendenz bezeichnen, würde ich sagen: ja, das prägt alle, aber jeden prägt es auf seine Weise. Und das bedeutet, wenn wir Transzendenz realisieren, kommen wir dem großen Geheimnis näher, aber jeder geprägt von seinen speziellen Voraussetzungen her. Deshalb ist es unendlich spannend, was da von wem auch immer entdeckt wird. Ich würde von daher sagen, auch die Transzendenz geschieht in endlicher Gestalt. Unendlichkeit ist kein strukturloser Brei des immer Gleichen, sondern etwas unglaublich reich sich Erschließendes.
War es schon immer so, dass Sie die grundlegenden, philosophischen Fragen am meisten interessiert haben? Haben Sie das Gefühl, das ist auch so eine Art Charaktersache?
Ja. Eine Sache: Mein Religionsunterricht, der von meinem Pfarrer gehalten wurde, war sicher pädagogisch kein Eins-A-Unterricht. Er begann immer mit der Frage: ‚Welcher Angriff gegen den Glauben ist in der Schule vorgetragen worden?‘ Dann wurde ein Thema benannt und alle haben gemeinsam diskutiert, wie man darauf antwortet. Das war Apologie im besten Sinne und damit eben auch schon Fundamentaltheologie. Und weiter: Im Gymnasium war mein Mathematiklehrer ein bekennender evangelischer Christ. Ich und drei, vier andere Schüler wurden abends eingeladen zu ihm. Da haben wir nicht über Mathematik gesprochen, sondern über Glaube und Ökumene. Und schließlich: der ideologische Anspruch, den der Marxismus hatte, nämlich Wissenschaft zu sein, während Religion nur falsches Bewusstsein sei, der hat uns ja beschäftigt. Und wir wollten darauf eine Entgegnung finden. Wir sind in der Schulzeit eigentlich kaum weitergekommen als zu sagen, es gibt aber auch noch eine andere Wahrheit. Und das ist nicht so befriedigend. Von daher war diese Frage von Anfang an für mein Studium wichtig.
Noch etwas: Dieser Mathematiklehrer hat mir heimlich ein Buch in die Hand gedrückt, nämlich Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos. Teilhard de Chardin war gerade erst auf dem Konzil rehabilitiert worden. Da war plötzlich der Hauch einer Antwort da, dass nämlich Naturwissenschaft und Glaube und Theologie durchaus ein gemeinsames Anliegen haben und sich treffen können. Für mich war es wirklich eine Entdeckung, dass Thomas schon vor 700 Jahren zwischen Erst- und Zweitursache unterschieden hatte, dass Karl Rahner mit Transzendental- und Kategorialursache gearbeitet hat und Teilhard de Chardin mit dem Punkt Omega. Das waren wirkliche Lichtpunkte, um zu einem verantwortbaren Weltbild zu kommen. Diese Entdeckungen waren nicht nur Studienstoff, sondern sie waren existenziell, würde ich sagen. Und dafür bin ich unendlich dankbar.
Fragen und Redaktion: Sophie v. Kalckreuth