von Frank-Joachim Stewing & Thomas Woelki
Bei Archivrecherchen zur Geschichte der Stadt Erfurt und ihrer geistlichen Institutionen im Mittelalter und in der Frühneuzeit konnten in der Bibliothek des Evangelischen Ministeriums zwei Ablassurkunden aufgefunden werden, die Nikolaus von Kues während seines Aufenthaltes in Erfurt Anfang Juni 1451 zwei Erfurter Pfarrkirchen gewährte. Die von der Professur für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit (Prof. Dr. Jörg Seiler) initiierten Recherchen wurden von Frank-Joachim Stewing durchgeführt.
Der 1448 von Papst Nikolaus V. zum Kardinal erhobene Nikolaus von Kues gilt als eine herausragende Persönlichkeit des Spätmittelalters, der in einer von tiefgreifenden Umbrüchen gekennzeichneten Epoche als Philosoph, aber auch als Kirchenreformer und Kirchenpolitiker tiefe Spuren hinterließ. Die Legationsreise von 1451/1452 markiert den Höhepunkt seiner reformerischen und kirchenpolitischen Wirksamkeit. Sie verfolgte zwei Hauptziele, nämlich die Verkündigung des Jubiläumsblasses des heiliges Jahres 1450 und die Einleitung einer umfassenden Kirchenreform in den zu bereisenden Territorien. Zugleich war sie aber auch dem Anliegen verpflichtet, nach dem Ende des Basler Konzils und der Verabschiedung des Wiener Konkordats eine Aussöhnung zwischen der deutschen Kirche und Rom herbeizuführen. Im Rahmen seiner Legationsreise bewilligte Kues für zahllose Kirchen, Kapellen und Klöster Ablässe, um die Anziehungskraft der geistlichen Institutionen zu erhöhen und Frömmigkeitsübungen der Gläubigen zu belohnen. Gleichzeitig waren für ihn Ablässe ein Mittel zur pastoralen Kompensation einer als defizitär erkannten Seelsorgepraxis, bei der die Beichtväter, oft aus Unkenntnis, ihre Absolutionsvollmachten überschritten.
In Erfurt bedachte Cusanus, wie aus den neu aufgefunden Urkunden hervorgeht, zwei Pfarrkirchen mit Ablässen. Sie verhießen den Gläubigen, die an bestimmten hohen kirchlichen Festtagen (Herrenfeste, Marienfeste und die von Johannes dem Täufer und den beiden Aposteln Peter und Paul) sowie zur Kirchweihe und dem Patronatsfest die Michaeliskirche aufsuchten, dort an den liturgischen Feierlichkeiten teilnahmen und für den Erhalt der Kirche tatkräftig spendeten, einen Ablass von 100 Tagen, denjenigen aber, die während der vorösterlichen Fastenzeit zur Vesper nach der Komplet zum Lob der Gottesmutter dem Salve regina beiwohnten, einen Ablass von 30 Tagen. Die wenigen Tage, an denen sich Nikolaus von Kues Ende Mai und Anfang Juni 1451 in Erfurt aufgehalten und an denen er nachweislich auch drei Mal öffentlich gepredigt hatte, beeinflussten für Jahrzehnte die Entwicklung der innerstädtischen Sakrallandschaft. Insbesondere die von ihm initiierte Reform der zahlreichen klösterlichen Gemeinschaften in Erfurt wirkte nachhaltig.
Das kirchenpolitische Wirken des Nikolaus von Kues ist neben seinem philosophischen und theologischen Werk seit Jahrzehnten Gegenstand einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Seit 1976 wird es in Form der Acta Cusana in bislang über 5700 Regesten chronologisch dokumentiert. Das Gesamtwerk, seit 2010 an der Humboldt-Universität (Berlin) als Forschungsstelle Acta Cusana angesiedelt, soll 2026 zum Abschluss gebracht werden. Eine Edition der beiden neu aufgefundenen Erfurter Ablässe wird Stewing im Rahmen eines Beitrags in dem für 2021 angekündigten Tagungsband der Tagung „Kirchenreform und Landesherrschaft im 15. Jahrhundert. Studien aus den Acta Cusana“ vorlegen. Die beiden Neufunde lassen auf eine intensivere und flächendeckendere Ablasspraxis schließen, als es durch die bislang bekannten Urkunden erscheinen mag. Sie unterstreichen erneut mit Nachdruck, dass trotz jahrzehntelanger Vorarbeiten (nicht nur) aus Erfurter Perspektive die Archive und Bibliotheken für stadt-, kirchen- und universitätsgeschichtliche Fragestellungen und Forschungen auch künftig bislang unbekanntes Material bereithalten, das der Forschung immer wieder neue Impulse zu verleihen vermag. Ihre Auffindung und Erschließung hat höchste Priorität.
Abbildung: Ablass für die Erfurter Georgskirche vom 5. Juni 1451.