Wohl kaum ein Thema scheint den Titel eines philosophischen ,Dauerbrenners‘ so zu verdienen wie das der Zeit. Ihre Ursache mag diese besondere philosophische Ergiebigkeit im eigentümlichen paradoxalen Charakter der Zeit haben, auf den bekanntlich schon Augustinus im elften Buch seiner Confessiones hingewiesen hat: „Was ist also ,Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“[1]
Bereits hier deutet sich an: Zeit ist eine Selbstverständlichkeit. Sie bildet den natürlichen Orientierungs- und Bezugsrahmen, in dem wir uns und unsere Welt tagtäglich erleben und auslegen. Gerade weil sie aber ein (oder gar das) Erleben ist und immer nur im Moment ihres Übergangs bewusst wird, ist sie, sobald wir sie begrifflich festzuhalten versuchen, schon vorübergezogen und nicht mehr einholbar. In anderen Worten: Sobald wir die Zeit fassen möchten, haben wir sie bereits verpasst, ja ist sie uns schon unter der Hand zerflossen. Wenn wir über die Zeit reflektieren, verändern wir sie, weil wir dabei versuchen, sie in die selbst zeitlosen Formen und kategoriellen Raster unseres Denkens zu übersetzen.
Hierin scheint gerade die Spannung einer jeden begrifflichen Beschäftigung mit dem Phänomen der Zeit zu liegen. Während unsere Zeit vorbeizieht, sind wir dazu in der Lage, über sie zu sprechen, sie zu messen und damit zu einer Abstraktion zu machen, obwohl dies gerade bedeutet, sie festzuhalten und damit ihrer wesenseigenen Zeitlichkeit bzw. Sukzession zu berauben. Wir können paradoxerweise Abstand von ihr nehmen, obwohl sie der unhintergehbare, unmittelbare Rahmen ist, in dem wir uns und unsere Welt erleben. Wir können sie als stillstehende Gleichzeitigkeit betrachten, obwohl sie wesentlich Prozess ist.
Der Umgang mit der Zeit in der Geschichte der Philosophie lässt sich grob als ein Ausloten dieser beiden skizzierten Dimensionen verstehen, des subjektiven Erlebens und der objektiven Denkbarkeit der Zeit, mit wiederkehrenden Vermittlungsversuchen. So finden wir beispielsweise bei Aristoteles die Interpretation der Zeit als Messzahl der Bewegung innerhalb des Früher und Später,[2] bei Augustinus wiederum ihre Auffassung als innere Gegenwart des Vergangenen, Gegenwärtigen und Zukünftigen im Sinne von Erinnerung, Augenschein und Erwartung.[3]
Bei Kant begegnet uns hingegen ein Syntheseversuch, bei dem Zeit als Anschauungsform begriffen wird, d.h. alsKonstituierungsleistung unserer Erfahrung bzw. als Bedingung der Möglichkeit davon, dass wir die Welt überhaupt als formhafte sinnlich erfassen können. Die Sinnlichkeit zeichnet sich für Kant nämlich gerade nicht durch die bloße Individualität des Sinnmaterials aus, das in ihr verfügbar ist, sondern durch bestimmte fundamentale Formen, in denen das Individualmaterial vorgeordnet erkannt wird. Sie steht gewissermaßen zwischen Subjektivität und Objektivität.[4]
Mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert beginnt auch die Vorstellung einer abstrakten, messbaren Zeit in Europa wieder an Dominanz zu gewinnen. Der Anspruch, die Zeit aus ihrer engen Verwobenheit mit unserem Wirklichkeitserleben zu lösen, hat verschiedene kritische Reaktionen hervorgebracht, von denen Henri Bergsons sicherlich eine der schärfsten ist.
Sie ist deswegen besonders interessant, weil Bergson die Zeit nicht bloß in die Subjektivität zurückzuführen versucht, sondern sie letztlich als das Prinzip von Übergang bzw. Prozesshaftigkeit schlechthin bestimmt.
So wird das, was er zu Beginn seines Schaffens in Zeit und Freiheit noch als ,Dauer‘ im Sinne des Vollzugs unseres subjektiven Erlebens bezeichnet, im Verlauf seines Werkes schrittweise verallgemeinert und avanciert so in der Schöpferischen Evolution schließlich zum sog. élan vital („Lebensschwungkraft“) als dem kreativen Prinzip eines jeden Formgebungsprozesses im Kosmos. Bergsons Zeitphilosophie ist also nicht nur im Hinblick auf die Zeitbetrachtung als solche relevant, sondern auch als kritische Reaktion auf den sog. Objektverlust der Philosophie, d.h. die sukzessive historische Verlagerung bestimmter Themen vom Geltungsbereich der Philosophie in jene der Naturwissenschaften (z.B. das Abwandern des Psychischen vom Geltungsbereich der Philosophie in jenen der naturwissenschaftlichen, experimentell orientierten Psychologie zu Bergsons Lebzeiten).
Und es lässt sich noch ein dritter Grund ausmachen: der erhebliche Einfluss von Bergsons Zeitphilosophie auf andere wirkmächtige philosophiehistorische Strömungen des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, vor allem die Existenzphilosophie.
Hierfür ist Bergson insofern von zentraler Bedeutung, als er mit seiner minutiösen Analyse der Subjektivität als Werden und der Bestimmung des Menschen als fundamental freies Wesen einen Grundstein für die ethische Beschäftigung mit der Existenz des einzelnen Menschen und seiner lebensweltlichen Situiertheit gelegt hat.
Insbesondere Heidegger ist aber in diesem Zusammenhang hervorzuheben, hat es die Zeit in Sein und Zeit doch sogar ausdrücklich in den Kontext einer Analyse der Existenz des Einzelnen, ja sogar in den Titel seines wirkmächtigen Hauptwerks geschafft. Heidegger diskutiert Bergson zwar lediglich an vier verschiedenen Stellen in Sein und Zeit explizit,[5] doch die Zeit nimmt thematisch in der Existenzuntersuchung Heideggers viel Platz ein. Er fasst sie als sog. Existenzial auf, will meinen: als fundierenden, unhintergehbaren Sinnhorizont eines jeden konkreten lebensweltlichen Verhaltens unserer selbst. Hier gibt es also noch viel zu entdecken!
Übrigens auch im Hinblick auf einen sog. christlichen Existenzialismus, wie Gabriel Marcel ihn prominenterweise vertritt. Er ist erheblich von Bergson beeinflusst und lässt in seine Vorstellung von Gott als dialogischem Einheitszusammenhang unseres Erlebens, der uns immer wieder mit neuen Erfahrungsqualitäten konfrontiert, wesentliche Momente von Bergsons Dauer einfließen. Auch seine Abgrenzung von einer verräumlichenden Vorstellung der menschlichen Lebenswirklichkeit als bloße Umgebung, in der Objekte nichts anderes tun, als Naturgesetzen zu gehorchen, verweist motivisch auf Bergson zurück.
Literatur
Aristoteles (2021): Physik. Teilband I: Bücher I–IV. Gottfried Heinemann [Hrsg. und Übers.]. Hamburg: Meiner.
Augustinus, Aurelius (2007): Bekenntnisse / Confessiones. Jörg Ulrich [Hrsg.] und Joseph Bernhart [Übers.]. Frankfurt am Main/Leipzig: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag.
Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
Kant, Immanuel (1977): Werke in zwölf Bänden. Wilhelm Weischedel [Hrsg.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Mehr Informationen zu Matthias Ernst Bähr finden Sie auf der Website der Professur für Philosophie oder in dem kürzlich hier veröffentlichten Interview, das wir mit ihm geführt haben.