Ob Work-Life-Balance eine Kompetenz oder zeitgeistiger Unfug ist, erweist sich für den Philosophen und Publizisten Michael Andrick als eine ernstzunehmende Frage. Gesellschaftlich lassen sich derzeit zwei Extreme beobachten: Einerseits wird darüber geklagt, dass sich zunehmend eine Party-Gesellschaft ausbildet. Ottmar Fuchs warnt deshalb, dass durch die Verfestlichung des Alltags und die Verzweckung von Feiern (z.B. bei Firmenfeiern, die rein der Vernetzung mit Berufskollegen/-kolleginnen dienen) das Erhabene des Festes verloren geht. Andererseits rücken Studien zunehmend in den Fokus, dass gerade Frauen durch die Doppelbelastung von Job und Care-Arbeit gefährdet sind, an Depressionen oder Burnout zu erkranken.
Arbeit und Ruhe sind anthropologische Grundthemen – auch in der Bibel. Arbeit gehört zum Lebensalltag des biblisch-israelitischen Menschen selbstverständlich dazu, sodass sie nicht eigens systematisch besprochen wird, sondern häufig als Nebenthema in den Texten des Alten und Neuen Testaments aufscheint. Die hebräischen Begriffe für Arbeit avoda und melacha sind in ihrer Grundbedeutung nicht negativ konnotiert. Melacha beispielsweise hat erst durch die jiddische Tradition einen solchen Beiklang erhalten, sodass wir unter dem abgeleiteten Malochen ein kräftezehrendes, mühevolles Sich-Abarbeiten verstehen. Das hebräische Verb avad (arbeiten) z.B. steht in Zusammenhang mit allgemeinen Arbeitskontexten (Gen 4,2), der Sklavenarbeit Israels in Ägypten (Ex 1,13.14) sowie mit Diensten im kultischen Bereich (Num 8,11).
Das Ideal von Arbeit formuliert die zweite Schöpfungserzählung: Der Mensch soll bebauen (avad) und behüten (schamar) (Gen 2,15). Arbeit ist herrschaftsfrei, d.h. sie ist nicht als Sklavenarbeit für andere oder für Götter zu verstehen. Ebenso ist sie keine Strafe, sondern die Möglichkeit zur menschlichen Mitwirkung an der Schöpfung. Mit dem Sündenfall nähert sich das Bild von Arbeit den realen Erfahrungen des Alltags an: In erster Linie ist der biblisch-israelitische Mensch Ackerbauer (Gen 3,23), wobei sein Tun jetzt mühselig (Gen 3,17), schweißtreibend (Gen 3,19) ist. Der Bruderkonflikt zwischen Kain und Abel eröffnet eine weitere Perspektive: Indem Gott das Opfer Abels ansieht und Kains nicht, macht Kain die Erfahrung, dass Arbeit erfolgreich sein oder misslingen kann (Gen 4,3-5). Der Misserfolg führt zu Enttäuschung und Hass, die im Brudermord münden (V 8), denn Kain sieht sich nur als Arbeiter und nicht als Hüter. So antwortet er gegenüber Gott auf die Frage, wo sein Bruder ist:
Bin ich der Hüter meines Bruders? (Gen 4,9).
Die ideale Verbindung von Arbeiten/Bebauen und Bewahren ist zerbrochen. Welche Folgen der Verlust dieses Ideals hat, verarbeitet der jüdische Dichter und Literaturwissenschaftler Dan Pagis in seinem Gedicht „Autobiographie“ (1975). Er verleiht dem erschlagenen Abel darin eine Stimme:
Ich starb am ersten Schlag und wurde begraben / auf dem felsigen Feld.[1]
Abel wirft Kain vor:
Mein Bruder erfand das Töten, / meine Eltern das Weinen, / ich das Schweigen.[2]
Dan Pagis verfasst diese Worte auf dem Hintergrund des Nationalsozialismus, den er selbst in Arbeits- und Konzentrationslagern erlebte und überlebte. Menschengruppen, denen man jegliche Würde absprach, wurden nicht mehr als Arbeitende, sondern als Arbeitsmittel gesehen. Dieses Beispiel zeigt in extremer Weise die Auswirkungen eines missverständlichen Arbeitsbegriffs, wenn Arbeit nicht mehr als Aufgabe sondern als alleiniger Lebens- und Existenzgrund verstanden wird.
Arbeit als eine menschliche, existenzsichernde geistige oder körperliche Tätigkeit erfolgt organisiert und rhythmisiert. Demnach besteht ein Wechsel zwischen aktiven und ruhenden Phasen. Biblisch wird die nötige Ruhe sogar ausgeweitet, wenn es in Ex 23,12 heißt:
Sechs Tage kannst du deine Arbeit verrichten, am siebten Tag aber sollst du ruhen, damit dein Rind und dein Esel ausruhen und der Sohn deiner Sklavin und der Fremde zu Atem kommen.
Neben der Arbeitsruhe sind es ebenfalls Feste, die Arbeitsprozesse unterbrechen (vgl. Num 9,1-4). Über das Wesen von Festen schreibt Ottmar Fuchs:
Feste zu feiern ist menschlich und, wie der Philosoph Odo Marquard hinzufügt, nur menschlich. Das Feste-Feiern scheint den Menschen noch ausschließlicher zu charakterisieren als Intelligenz, die man vielen Tieren ja nicht absprechen kann. Doch was macht das Fest so bedeutsam?[3]
Feste setzen die Routine außer Kraft. Sie verfügen über eine eigene Zeitlichkeit, heben bestehende gesellschaftliche Verhältnisse für einen kurzen Zeitraum auf oder karikieren sie karnevalistisch und Feste stiften Gemeinschaft.
Für die biblischen Texte sind Arbeit, Ruhe und feiernde Unterbrechung keine getrennten Aspekte, sondern anthropologische Grundthemen, die miteinander verbunden sind. Dass sie, wie zum Beispiel die Ruhe am siebten Tag (Gen 2,3), eine theologische Begründung erfahren, zeigt, wie sensibel ihr Zusammenspiel ist.
Den Fragen: Was ist Arbeit? Wie können Arbeit und Ruhe lebensförderlich ausbalanciert werden? –nähert sich das Seminar „Arbeitende Frauen und feiernde Männer. Ein Disput über die Work-Life-Balance in biblischen Erzählungen und in der Gegenwart?!“ im Rahmen des Studium Fundamentale im WS 2024/2025. Die Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmer setzen sich hierzu aus bibelwissenschaftlicher, philosophischer und sozial-ökonomischer Perspektive mit dem Thema auseinander. Sie erarbeiten dabei einen neuen Schwerpunkt für die Wanderausstellung „Marginalisiert und dennoch stark. Die Frauen im Stammbaum Jesu (Mt 1,1-17)“, die bereits auf den 103. Katholikentag in Erfurt gastierte und derzeit im Dom St. Peter & Paul in Zeitz (vom 22.11.2024 bis 26.12.2024) zu sehen ist.
Dr. Cornelia Aßmann ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Exegese und Theologie des Alten Testaments.