Interview zur Lehrveranstaltung „Kindeswohl: Förderung – Schutz – Recht“ im Studium Fundamentale mit Dr. Mykola Marksteiner-Mishchenko und Yeshica Umaña
Lieber Herr Dr. Marksteiner-Mishchenko, liebe Frau Umana, im November gibt es einige wichtige Tage, die dem Thema Kindeswohl gewidmet sind. Der Lehrstuhl für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt konzentriert sich thematisch stark auf das Wohlergehen des Kindes und bietet jedes Semester im Rahmen des Studium Fundamentale zwei Kurse an. Wir haben gehört, dass sie bei den Studierenden sehr beliebt sind. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Der 18. November ist der Europäische Aktionstag gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern. Jedes Jahr lädt der Europarat verschiedene Institutionen ein, die ein bestimmtes Thema vorstellen. In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt auf den Barnahus-Strukturen in Europa zur Gewährleistung einer kinderfreundlichen Justiz. In Deutschland werden zum Beispiel die Hotlines des "Safer Internet Centre Germany" eine Kampagne auf ihren Social-Media-Kanälen durchführen, um Fragen zu sexualisierter Gewalt zu beantworten und über die Arbeit dieser Zentren zu informieren. Darüber hinaus wurde der 20. November als Weltkindertag festgelegt, da dies der Tag war, an dem die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Erklärung der Rechte des Kindes (1959) und 30 Jahre später die UN-Kinderrechtskonvention (1989) verabschiedet hat. Das Thema für 2022 ist Inklusion für jedes Kind.
Ihre Lehrveranstaltung stößt auch in diesem Semester auf große Resonanz. Wie kam die Idee zustande, zum Thema Kindeswohl eine interdisziplinäre Lehrveranstaltung anzubieten?
Yeshica Umaña: Die Lehrstuhlinhaberin für Kirchenrecht, Prof. Dr. Myriam Wijlens, beschäftigt sich seit mehr als 35 Jahren mit dem Thema Schutz und Förderung der Rechte von Minderjährigen. Sie war Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen im Vatikan und hat als Beraterin und Ermittlerin in zahlreichen Fällen von Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche auf der ganzen Welt gearbeitet. Während ihrer gesamten Berufslaufbahn hat Prof. Wijlens mit Expert*innen verschiedener Disziplinen und Nationalitäten zusammengearbeitet, die sich für die Förderung der Rechte von Kindern einsetzen. In Erfurt sah sie die Chance, das Thema Kindeswohl allen Studierenden der Universität nahe zu bringen und begann vor etwa 10 Jahren, im Studium Fundamentale Kurse zu diesem Thema anzubieten. Von Anfang an war sie mit mehr Studendierenden konfrontiert, die sich für den Kurs anmelden wollten, als Plätze zur Verfügung standen. In dem Kurs, der in deutscher Sprache druchgeführt wird, wurden und werden vor allem Expert*innen, die hier in Erfurt vor Ort sind, als Gastvortragende eingeladen.
Prof. Wijlens war sich bewusst, wie wichtig es ist, einen breiteren Blick auf das Thema zu haben und mit Expert*innen aus der ganzen Welt in Dialog zu treten. So kam die Idee, einen Kurs auf English anzubieten, damit die Studierenden Expert*innen aus der ganzen Welt zuhören, von ihnen lernen und Teil dieses Dialogs über das Wohlergehen von Kindern werden können – also eine globalen Perspektive auf die Thematik zu werfen. Als ich 2021 zum Team des Lehrstuhls für Kirchenrecht stieß und mein Wissen aus meinem Heimatland Mexiko und Spanien mitbrachte, wo ich Kirchenrecht studiert hatte, lud mich Prof. Wijlens ein, diesen Kurs auf Englisch zu unterrichten. Es ist wirklich ein erstaunlicher Kurs, denn die Gastvortragenden sind hochkarätige Expert*innen, z.B. ein Anwalt, der bei den Vereinten Nationen arbeitet, ein Leiter eines UNICEF-Büros, ein weltbekannter Kinderpsychiater aus Israel, der sich auf Selbstmord von Teenagern spezialisiert hat, eine Psychologin aus Großbritannien, der sich auf Kindertraumata spezialisiert hat und ein Philosoph aus Deutschland, der über die Würde des Kindes spricht. Der Kurs zeigt, dass die Probleme, mit denen Kinder konfrontiert sind, mit geografischen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren zusammenhängen, die in jedem Land unterschiedlich sind. Wir möchten daher, dass sich die Studierenden bewusst werden, dass Kinder in jeder Ecke der Welt auf die eine oder andere Weise von spezifischen Umständen betroffen sind, dass es aber auch ein universelles gemeinsames Interesse gibt, sie zu schützen.
Als die Pandemie zu einer größeren Offenheit für das Angebot von Online-Kursen und -Seminaren führte, sahen wir eine Gelegenheit, diese renommierten Expert*innen in die Lehrveranstaltungen in Erfurt einzuladen, da nunmehr egal war, wo sie sich befinden. Wir hatten bereits Referent*innen aus Kanada, den USA, Deutschland, Australien, Argentinien, Äthiopien und den Philippinen, um nur einige zu nennen.
Mykola Marksteiner-Mishchenko: Als Vertreter der Professur für Kirchenrecht bin ich sehr glücklich und dankbar, diese einmalige Lehrveranstaltung zum Thema Kindeswohl, die von Prof. Wijlens, Prof. Dr. Heike Schulze, Professorin für Kindheit und Sozialisation an der Fachhochschule Erfurt und Herr Dr. med. Kay Großer, ehemaliger Chefarzt Kinderchirurgie & Kinderschutzambulanz am Heliosklinik Erfurt, der jetzt als Klinikdirektor Kinderchirurgie im Klinikum Kassel tätig ist, ins Leben gerufen wurde, weiterhin zu organisieren und anzubieten.
Die große Resonanz der daran teilnehmenden Studierenden über all die Jahre hinweg, verdeutlicht das große Interesse daran, sich mit dem Thema Kindeswohl näher und intensiver auseinanderzusetzen. Das Thema Kindeswohl aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, um Studierende für rechtliche, medizinische, soziale oder ethische Fragen zu sensibilisieren ist uns dabei ein großes Anliegen.
Da wir in jeder Sitzung einen anderen Gast mit je eigenem Schwerpunkt und eigener Expertise begrüßen dürfen, kommen wir diesem Anspruch schon sehr nahe. Wie dem Vorlesungstitel „Kindeswohl: Förderung-Schutz-Rechte“ zu entnehmen ist, sind uns diese drei Bereiche ein besonderes Anliegen. Es geht um die Frage, was man unter Kindeswohl überhaupt versteht und auf welche Weise Kindeswohl gefördert werden kann. Wo gibt es noch Luft nach oben und wie sieht das konkret aus? Wie kann das Kindeswohl geschützt werden? Durch wen und in welchem Umfang? Wo gibt es noch blinde Flecken und wo drohen Gefahren übersehen zu werden? Auch der rechtliche Aspekt wird nochmals aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Neben der interdisziplinären Ausrichtung profitieren die Teilnehmer*innen besonders von den Diskussionen und der Möglichkeit mit Expert*innen ins Gespräch zu kommen.
Welche Rückmeldungen bekommen Sie von den Studierenden, gerade unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Studienrichtungen?
Yeshica Umaña: Bislang war die Reaktion sehr positiv. Ich denke, die Zahlen sprechen für sich selbst: Als wir vor drei Semestern mit diesem Kurs begonnen haben, waren es fast 60 Studierende. Derzeit haben wir 89 Teilnehmer*innen in der englischen und 90 in der deutschen Lehrveranstaltung. Die Studierenden kommen auch selbst vielfach aus verschiedenen Ländern und haben unterschiedliche akademische Hintergründe, wie Psychologie, Pädagogik, Politikwissenschaft oder internationale Beziehungen. Am Ende ihrer Vorlesung bieten einige unserer Gastredner*innen den Studierenden die Möglichkeit, mit ihnen über Praktika in ihren Einrichtungen zu sprechen oder Informationen über Beschäftigungsmöglichkeiten zu geben. Die Studierenden nehmen dieses Angebot sehr gerne wahr.
Einige unserer deutschen Studierenden haben anfangs vielleicht ein wenig gezögert, weil der Kurs auf Englisch ist, aber später haben sie gemerkt, dass es nicht schwer ist, dem Kurs zu folgen. Vor allem, weil wir ihnen die Möglichkeit bieten, die Prüfung entweder auf Deutsch oder auf Englisch zu schreiben. Da sich der Kurs in den letzten Semestern weiterentwickelt hat, ist auch das Interesse der Referent*innen gestiegen. Jedes Mal, wenn sie zur Teilnahme eingeladen werden und die Struktur des Kurses kennen lernen, sind die Referent*innen von dem Projekt fasziniert und bereit, mehr als nur einmal teilzunehmen. Meiner Meinung nach sehen sie dies auch als eine Gelegenheit, an der Seite von Prof. Wijlens ein Netzwerk von Expert*innen weiter zu pflegen, welches sich mit Themen rund um das Wohlergehen von Kindern beschäftigt.
Die Veranstaltung hat auch die Aufmerksamkeit anderer Universitäten auf sich gezogen. Vor kurzem wurde ich eingeladen, dieses Konzept an einer Universität in Madrid sowie in Portugal vorzustellen.
Mykola Marksteiner-Mishchenko: Da es sich um eine Wahlpflichtveranstaltung innerhalb des Studium Fundamentale handelt, sind wir von dem überaus großen Interesse sehr überwältigt. Jedes Semester bieten wir diese Lehrveranstaltung an, die von ca. 90 Studierenden besucht wird. Leider sind unsere räumlichen Kapazitäten begrenzt, sodass wir jedes Jahr viele Anfragen für Restplätze sogar mit Motivationsschreiben erhalten. In diesen wird zum Beispiel von angehenden Lehrkräften bzw. Studierende, die später einmal mit Kindern und Jugendlichen arbeiten möchten, auf die Wichtigkeit und Bedeutung der Thematik Kindeswohl eingegangen. Dieses Anliegen verdeutlicht sich auch in den Sitzungen.
Obwohl sich die Lehrveranstaltung an alle Studierende der Universität Erfurt richtet, kommen die meisten Teilnehmer:innen aus dem pädagogischen Bereich. Jedoch kristallisiert sich bei allen Teilnehmer:innen das Anliegen heraus, wie sie Kinder und Jugendliche unterstützen und begleiten können, wie sie sich in ihrem zukünftigen Arbeitsbereich richtig in komplexen Situationen verhalten und an wen man sich konkret wenden kann, wenn die eigenen Kompetenzen ausgeschöpft sind.
Das heißt, es geht um konkretes Handlungswissen im rechtlichen, sozialen, ethischen und medizinischen Horizont, das durch unsere Expert*innen vermittelt wird, was unsere Studierenden laut ihrer Rückmeldungen als sehr positiv und bereichernd erfahren, gerade in Bezug auf die Berufspraxis. Auch konnten durch den Besuch der Lehrveranstaltung mögliche Praktikaplätze aufgezeigt werden, die einige Studierende so nicht vor Augen hatten.
Frau Umaña, Sie sind für die Durchführung der englischen Lehrveranstaltung verantwortlich. Unterscheidet sich diese von der Vorlesung auf Deutsch nur durch die Sprache und Auswahl der Gäste oder gibt es auch inhaltliche Unterschiede, wie z. B. einen stärkeren Fokus auf internationale Rechtssprechung?
Yeshica Umaña: Die Kurse sind völlig unabhängig voneinander, haben aber das gleiche Ziel: eine interdisziplinäre Studie über die Rechte und das Wohlergehen von Kindern. Die Gastdozent*innen sind in beiden Kursen unterschiedlich, ebenso wie die behandelten Themen. In beiden Kursen werden die Themen aus philosophischer, theologischer, medizinischer, juristischer und anderen Perspektiven behandelt. Zu den Themen gehören u.a. sexueller Missbrauch, die Auswirkungen der Pandemie, Kinderheirat, das Kind in der digitalen Welt, die Würde des Kindes, Minderjährige und bewaffnete Konflikte. Am Ende jeder Präsentation führen mein Co-Dozent Thomas Sojer und ich anregende Gespräche zwischen uns, den Studierenden und den Referent*innen, entsprechend unserer Studienfächer, der Philosophie bzw. dem Recht.
Der Kurs umfasst zwischen zwölf und vierzehn Präsentationen, je nach Dauer des Semesters. Ich möchte jedoch betonen, dass sich unser Ziel nicht darauf beschränkt, diese Vorträge anzubieten. Wir haben ein großes Interesse daran, die Studierenden miteinzubeziehen und sie für Themen zu sensibilisieren, die sowohl in Deutschland als auch im Rest der Welt von aktueller Bedeutung sind. Aus diesem Grund teilen wir mit den Studierenden in ständigem Austausch relevante Artikel und Nachrichten, darunter auch dieses Interview, das wir anlässlich der beiden oben genannten wichtigen Termine organisiert haben.
Ein weiteres Ziel ist es also, den Studierenden auf verschiedene Weise die Dynamik hinter den von unseren Gästen präsentierten Themen zu zeigen und das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass jeder von uns eine wichtige Rolle beim Schutz von Kindern spielen kann und dass jeder eingeladen ist, sich an den verschiedenen Projekten zum Schutz von Kindern zu beteiligen, sei es auf nationaler, regionaler oder weltweiter Ebene.
Herr Dr. Marksteiner-Mishchenko, die Lehrveranstaltung auf Deutsch scheint in diesem Jahr mit Themen wie dem Schicksal von Heimkindern in der DDR auch einen regionalen Fokus zu haben. Sind Ihnen solche regionalen Themen und die Zusammenarbeit mit Institutionen hier in Erfurt ein besonderes Anliegen?
Mykola Marksteiner-Mishchenko: Beim Thema Kindeswohl fallen hoffentlich vielen die UN- Kinderrechtskonventionen ein, die am 20. November 1989 verabschiedet worden sind und von den meisten Ländern der Welt unterzeichnet wurden. Diesen Tag feiern wir als Tag der Kinderrechte. Für uns ist es besonders interessant zu erfahren, wie diese Konvention in Deutschland umgesetzt wird. Dazu hören die Teilnehmer:innen dieses Semester einen Vortrag von Constanze Graf, die als stellv. Referatsleiterin im Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport tätig ist. Ebenfalls aus dem Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport begrüßen wir die Ableitungsleiterin Martina Reinhardt, die über Kindeswohlgefährdung aus Sicht des Jugendamtes spricht. Thematisch anknüpfend referiert Prof. em. Dr. Dr. iur. h.c. Eberhard Eichenhofer über Kinderschutz im und durch Sozialrecht in Deutschland sowie Carsten Nöthling, Geschäftsführer Kinderschutzbund Landesverband Thüringen e.V., der über Kinderschutz – ein Kinderrecht auf Prävention spricht. Konkrete Einblicke in familiengerichtliche Verfahren erhalten die Teilnehmer*innen durch Georg von Schmettau, der als Familienrichter am Amtsgericht Erfurt über den Schutzauftrag der Familiengerichte berichtet und Christoph Bauch, Verfahrensbeistand aus der Praxis für Mediation und Konfliktmanagement, der in seinem Vortrag die Interessensvertretung der Kinder in solchen Verfahren in den Blick nimmt.
Aus dem medizinischen Bereich sprechen der Mitbegründer der Lehrveranstaltung zu Kindeswohl Dr. med. Kay Großer, über Erfahrungen aus der Erfurter Medizinischen Kinderschutz-Ambulanz sowie Dr. Ekkehart D. Englert, Chefarzt der Kinder-und Jugendpsychiatrie an der Heliosklinik in Erfurt, der die seelischen Folgen von Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen analysiert. Was unter Kindeswohl und Kindeswille verstanden wird, erläutern die Mitbegründerin Prof. Dr. Heike Schulze und Ihre Kollegin Prof. Dr. Christine Rehklau, die ebenfalls an der Fachhochschule Erfurt im Fachgebiet Diversität und interkulturelle Soziale Arbeit lehrt und in Bezug auf Kindeswohlgefährdung die Folge von gesellschaftlicher Desintegration und Kinderarmut thematisiert.
Da die Lehrveranstaltung von der Professur für Kirchenrecht an der katholisch-theologischen Fakultät durchgeführt wird, ist es uns ebenfalls ein Anliegen das Thema Kindeswohl aus der theologisch-biblischen Perspektive zu beleuchten. Dafür konnten wir Prof. Dr. Norbert Baumgart, Inhaber der Professur für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der Katholisch-Theologische Fakultätder Universität Erfurt gewinnen. Das Thema von Herrn Manfred May, der als Künstler arbeitet, sensibilisiert durch seinen Vortrag "Sagen-Verstummen-Sagen: Das schwierige Gespräch mit ehemaligen DDR-Heimkindern" für wichtige Akzente in Bezug auf das Kindeswohl. Konkrete und auch praktische Einblicke gewähren den Teilnehmer*innen Sarah Dressler und Patrick Kleinau, die als Sozialpädagog*innen der Kinder- und Jugendzuflucht „Schlupfwinkel“ in Erfurt arbeiten und über den Clearingprozess in der Krisenintervention sprechen. Des Weiteren begrüßen wir Antje-Christin Büchner aus dem Flüchtlingsrat Thüringen e.V., die das Kindeswohl geflüchteter Kinder und Jugendlicher in Thüringen aus asyl- und aufenthaltsrechtlicher Sicht in den Blick nimmt. Wir sind sehr dankbar für das großartige Engagement aller beteiligter Gäste, die unsere Lehrveranstaltung zum Thema Kindeswohl auf herausragende Weise bereichern. Deshalb freuen wir uns sehr die Lehrveranstaltung Kindeswohl im kommenden Semester erneut anbieten zu können.
Nähere Informationen finden Sie auf der Website der Professur für Kirchenrecht der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt.