Unsere Zeitschrift "Theologie der Gegenwart" behandelt in kurzen und übersichtlichen Artikeln aktuelle Fragestellungen aus dem Bereich derTheologie. Der Titel der aktuellen Ausgabe lautet "Wege aus der Diskriminierung". In diesem und dem folgenden Blog-Beitrag möchten wir zwei der Artikel vorstellen, in Form von kurzen Interviews mit den Verfasser*innen. Informationen dazu, wie sie die aktuelle Ausgabe bestellen und/oder die Zeitschrift abonnieren können, finden Sie in der Info-Box am Ende des Interviews.
In unserem ersten Beitrag haben wir mit Dr. Thomas Bahne gesprochen, der Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Moraltheologie und Ethik an unserer Fakultät ist.
In Ihrem Beitrag geht es um Altersdiskriminierung in der Medizin. Das Argument der Generationengerechtigkeit, also dass – sehr vereinfacht ausgedrückt – immer weniger junge Menschen die Kosten für die medizinischen Maßnahmen immer mehr älterer Menschen tragen müssen, ist vielen bekannt. Welche weiteren Gründe gibt es für die Diskriminierung älterer Menschen in der Medizin?
Der Einfluss von Altersbildern in einer Gesellschaft wirkt sich auch auf die kurative Gesundheitsversorgung aus. So erhält nur die Hälfte der über 60-Jährigen eine indizierte psychotherapeutische Behandlung, weil gesellschaftliche wie individuelle Altersbilder primär von der Annahme einer geringen psychischen Veränderbarkeit (Plastizität) im Alter geprägt sind sowie von der Einschätzung, dass ältere Menschen als schwierige Patienten und Patientinnen gelten. Häufig werden Demenzen und Depressionen nicht als Krankheit, sondern als Ausdruck eines natürlichen Alternsprozesses missverstanden. Der Begriff der „Altersdepression“ birgt die Gefahr, dass Mediziner wie auch Betroffene übersehen, dass depressive Symptome bis in das höchste Lebensalter therapierbar sind.
Negative Altersbilder können auch dazu führen, dass eine Rehabilitationsbedürftigkeit nicht erkannt und die Potentiale zur Rehabilitation nicht ausgeschöpft werden.
Dabei hat das Sozialgesetzbuch den zentralen Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ festgeschrieben. Ein Versorgungsdefizit älterer Menschen lässt sich auch für die Palliativmedizin konstatieren. Zudem nehmen Ärztinnen und Ärzte von „risikoreicheren“ Behandlungen bei älteren Patienten eher Abstand.
Mit ihrem sechsten Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland berichtet die Bundesregierung: „In der gesundheitlichen Versorgungspraxis kommt es bereits jetzt vielfach zu einer verdeckten Altersrationierung.“ Die Sachverständigenkommission spricht gar von nachgewiesenen „altersdiskriminierenden Mustern“ bei Behandlungen von Herzinfarkten, Herzinsuffizienzen oder koronaren Herzkrankheiten.
Sie sprechen sich in Ihrem Beitrag dafür aus, das Problem aus der Perspektive einer Ethik vulnerabler Personen neu zu betrachten. Können Sie ein oder zwei konkrete Änderungen nennen, die sich daraus ergeben könnten?
Es muss darum gehen, eine Alterssensibilität zu schaffen. Das medizinethische Konzept der Vulnerabilität verpflichtet zur Fürsorge gegenüber vulnerablen Personen bzw. Gruppen. Es versteht Vulnerabilität als eine allgemeinmenschliche Empfänglichkeit für Leid und Verwundung, die sich im Alter zu einer größeren Abhängigkeit und Verwundbarkeit entwickelt, zumal der gesundheitliche Allgemeinzustand bei Hochaltrigen schlechter ist. Daher begründet es besondere Schutzrechte für vulnerable Personen, die eine erschwerte Teilhabe an der bestmöglichen Gesundheit und Lebensqualität haben.
Nehmen wir das Beispiel der Organtransplantation. Ältere Patienten haben aufgrund ihres gesundheitlichen Allgemeinzustandes statistisch betrachtet weniger Aussicht auf die gleichen „qualitätsangepassten Lebensjahre“ (als Maßstab für die verbleibende Lebenslänge in Einheit mit der Lebensqualität) als jüngere Patienten. Wenn ich nach dem Nutzenprinzip nur auf die klinische Effektivität und die Kosteneffektivität schaue, führt das zu einer systematischen Altersrationierung. Dem wirkt das ethische Konzept der Vulnerabilität entgegen. Niemand soll aus dem Schutzbereich des Ethischen ausgeschlossen werden, am wenigsten kranke, pflegebedürftige oder behinderte Menschen.
Ein aktuelles Beispiel für die Diskriminierung vulnerabler Gruppen in der Medizin ist der Entwurf für das sogenannte Triage-Gesetz. Inwieweit genau hat der Gesetzesentwurf bestimmte Gruppen diskriminiert und wie könnte man ihn, Ihrer Meinung nach, in dieser Hinsicht verbessern?
Inzwischen wurde aus dem Referentenentwurf die sogenannte Ex-Post-Triage getilgt, der zufolge die bereits begonnene intensivmedizinische Behandlung eines Patienten bzw. einer Patientin zugunsten eines Patienten mit besseren Überlebenschancen hätte beendet werden sollen. Das hätte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 16. Dezember 2021, dass der Gesetzgeber Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen bei einer pandemiebedingten Triage treffen müsse, konterkariert, denn es bedeutet, dass die Lebenschancen zweier Menschen gegeneinander abgewogen werden. Das verstößt gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Lebenswertindifferenz. Der Gesetzgeber, vor dem jedes Leben gleich schützenswert ist, vertritt diesen Grundsatz, dass kein Leben gegen ein anderes abgewogen werden darf. Er achtet die Unantastbarkeit der Menschenwürde.
Der aktuelle Referentenentwurf nennt als Entscheidungskriterium jedoch immer noch die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“, ohne dass diese im Gesetz genau definiert wird. Ärztinnen und Ärzte müssen in der Praxis dann doch die Genesungschancen der Patientinnen und Patienten gegeneinander abwägen. Bei vulnerablen Gruppen, z.B. Hochaltrigen oder Patienten mit Behinderung, treten zur Covid-Grunderkrankung häufig Komorbiditäten auf. Hier sagt der Gesetzentwurf, dass diese ergänzenden Erkrankungen nur zu berücksichtigen sind, „soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern“. Jedoch wird ebenfalls nicht festgelegt, was unter Komorbiditäten zu verstehen ist und was diese von einer Behinderung unterscheidet. Zudem fehlen eine Meldepflicht, ohne die eine Kontrolle gar nicht möglich ist, sowie strafrechtliche Sanktionen, wo das vorgeschriebene Diskriminierungsverbot unterlaufen wird.
Man könnte alternativ andere Entscheidungskriterien im Triage-Gesetz verankern, etwa das der Randomisierung (Zufallszuteilung) oder das Prinzip, wer zuerst kommt, wird zuerst behandelt.
Der Deutsche Ethikrat hat jedenfalls in seiner Erklärung Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise vom 27. März 2020 vor „einem rein utilitaristischen Modus des Abwägens im Sinne einer bloßen Maximierung von Menschenleben oder Lebensjahren“ gewarnt. Die Intention des Bundesverfassungsgerichts liegt zudem darin, dass auch die Schwächsten eine Überlebenschance erhalten.
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