Was die Erde gegeben hat

Forschung & Wissenschaft
Buchcover "Lively Oracles of God"

Theologinnen und Theologen verschiedener christlicher Konfessionen, alle aus dem englischen Sprachraum, haben im vergangenen Jahr den Sammelband „Lively Oracles of God“ herausgegeben. Die einzelnen Texte sind durch die Traditionen anderer Länder, Kirchen und Theologien geprägt. In den kommenden Wochen werden wir hier einzelne Thesen aus diesen Aufsätzen in englischer und deutscher Sprache veröffentlichen. Nach Essays der anglikanischen Theologin Bridget Nichols und des Jesuiten John Baldovin folgt ein Beitrag von Christopher Irvine, Church of England, vom Mirfield Liturgical Institute mit dem Titel „What earth has given“.

Christopher Irvine
Christopher Irvine

Das Vereinigte Königreich steuert auf eine Ernährungskrise zu. Dies ist nicht einfach eine Schlagzeile der Regenbogenpresse, sondern eine wohlüberlegte Meinung, die sich im Hinblick auf den Klimawandel, die Fragen des Transports und der Arbeit infolge des katastrophalen Brexits, den Krieg in Europa und die Kräfte des Marktes ergibt. Dieses Zusammenspiel verschiedener Faktoren wird durch die Notwendigkeit, mehr Wohnraum für eine wachsende Bevölkerung zu schaffen, noch verstärkt, und all dies hat Landwirte und Erzeuger dazu veranlasst, ihr Land dafür zu verkaufen. Diese Entwicklung ist besonders in Kent und im Südosten Englands zu beobachten: Gegenden, die einst liebevoll als „der Garten Englands“ bezeichnet wurden. An einem Kreisverkehr an einer Ringstraße einer der immer größer werdenden Städte steht ein Protestschild mit der Aufschrift „no farms, no food“. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist ein notwendiges und öffentliches Gut, und ein besonders differenziertes Verständnis der griechischen leitourgia, von der sich ‚Liturgie‘ herleitet, ist eine Arbeit, die dem öffentlichen Wohl dient, so dass beides ähnlicher ist, als man zunächst annehmen könnte. Ich behaupte sogar, dass sich beides überschneidet und tief in der Heiligen Schrift verwurzelt ist. In den hebräischen biblischen Schriften gibt es die Rituale der Erstlingsopfer (Deuteronomium), ferner die Segnungen von Lebensmitteln wie Öl und Käse, die in die frühen christlichen Eucharistien integriert wurden. Obwohl diese liturgischen Riten in den letzten Jahren wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren haben, wurden sie oft als Vorläufer moderner landwirtschaftlicher Feste wie dem im 19. Jahrhundert in England populär gewordenen Erntedankfest angesehen. In einem Aufsatz in dem Buch Lively Oracles of God: Perspectives on the Bible and Liturgy (2022) habe ich über eine liturgische Performance im Freien, die Rogationsprozession, geschrieben. Die Ursprünge der Rogationsprozession sind vielfältig und wurden von John Baldovin herausgearbeitet. [i] Was mich interessiert, ist die Art und Weise, wie diese Prozession im Freien in einigen aktuellen liturgischen Quellen umgewidmet wird, um die natürliche Umwelt durch die Segnung von Feldfrüchten und Gärten stärker ins Bewusstsein zu heben und die Gläubigen dadurch wieder mit der Quelle der Nahrung in Verbindung zu bringen.

Danken für das, was produziert wird, ist eine Sache, aber ein liturgisches Interesse daran zu haben, wo und wie etwas angebaut wird, ist eine ganz andere. Es mag überraschen, dass es hier einen reichen Schatz an liturgischen Texten und Praktiken gibt, die sich in Form von Segnungen direkt auf den Anbau von Lebensmitteln und die Versorgung mit sauberem Wasser beziehen.

Diese Segenssprüche, die in mittelalterlichen Büchern vom späten Angelsächsischen bis zu Texten aus der Mitte des 12. Jahrhunderts zu finden sind, waren in den letzten Jahren Gegenstand der Forschung von Tamsin Rowe. [ii] In diesen Quellen finden sich Gebete zur Segnung von Kräutern, Obstbäumen, Äpfeln, Birnen und Nüssen sowie zur Segnung von Brunnen und Wasserquellen. Als Mediävist befasst sich Rowe vor allem mit der Typologie dieser weit verbreiteten Texte, von denen die meisten übrigens aus benediktinischen Klostergemeinschaften stammen. Was mich jedoch an dieser Gebetsgattung fasziniert, ist die zugrundeliegende theologische Überzeugung, dass Gott in irgendeiner Weise an den natürlichen organischen Prozessen beteiligt ist, insbesondere wenn die göttliche Macht angerufen wird, die Fülle an Fruchtbarkeit und an Gutem freizusetzen, was die Erde geben und hervorbringen kann. In der Praxis bedeuteten diese liturgischen Segnungen, aufs Feld, in den Obstgarten und in den Wald zu gehen, um mit der Natur in Verbindung zu sein und dadurch die Liturgie buchstäblich zu „erden“.

Die Sorge um die Erde, „unser gemeinsames Haus“, wurde auch von Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato Si' zum Ausdruck gebracht. Der Papst schreibt mit prophetischem Nachdruck darüber, wie unsere Sorge um die natürliche Welt mit sozialer Gerechtigkeit verbunden ist. Hin und wieder verweist er in seiner Enzyklika dabei auch auf die Eucharistie. Hier finden wir einige besonders lyrische Sätze, die eine sakramentale Mystik zum Ausdruck bringen: „In der Eucharistie findet die Schöpfung ihre größte Erhöhung. ... /... die Eucharistie ist von sich aus ein Akt der kosmischen Liebe“. [iii] In diesen Sätzen konzentriert sich Papst Franziskus auf die Teleologie des eucharistischen Brotes und Kelches, über die der Dank gesprochen wird, also auf das, was sie als res et sacramentum werden. Aber in einer Zeit, in der wir uns der Auswirkungen der Klimakrise darauf, was und wo wir unsere Nahrung anbauen und wie wir uns den Zugang zum Wasser sichern können, stärker bewusstwerden, kann unsere Aufmerksamkeit durchaus darauf gelenkt werden, dass Brot und Wein als Elemente des Abendmahls ihren organischen Ursprung eben in den Früchten des Feldes und des Weinstocks haben.

Mit Blick auf die Erde möchte ich zwei Überlegungen anstellen. Die erste bezieht sich auf die Biosphäre, auf die Ökologie der Lebewesen und der Materie auf der Erdoberfläche, die zweite auf die Geosphäre, die ‚deep time‘ der Schöpfung bei der Entstehung der Erde. Zunächst wenden wir uns der Biosphäre zu und gehen damit einen Schritt weiter in der Aufmerksamkeit, die neuerdings den materiellen Dimensionen der Liturgie, dem organischen Ursprung der eucharistischen Elemente, Brot und Wein, die „die Erde gegeben hat“, zuteilwird.

In der Feier der Eucharistie gibt und nimmt die christliche Gemeinschaft „das, was die Erde gegeben hat“, und in diesem Ritual wird sie an ihre Abhängigkeit von dem erinnert, was in Gestalt von Weizenkorn und Weinstock gepflanzt, gepflegt und gewachsen ist.

Wie David Power schrieb: "[it] makes us mindful of the material world and the cosmos as God’s creation and as humankind’s dwelling place." [iv] Das Essen und Trinken in der Eucharistie hat in den letzten Jahren beträchtliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren, vor allem durch die Arbeiten von Andrew McGowan und Thomas O'Loughlin, [v] aber wie bereits angedeutet, zwingt uns die sich verschärfende Klima- und Umweltkrise dazu, über die Produktion von Lebensmitteln und Getränken hinaus auf ihre organischen Ursprünge zu schauen, auf die biologische Materie selbst, aus der unsere Lebensmittel und Getränke gewonnen und hergestellt werden. Und das führt uns letztlich zurück zum Boden, nicht nur bei der Betrachtung des Ursprungs unserer Speisen und Getränke, sondern auch bei unseren Überlegungen zum Stoff der Eucharistie. Wir müssen bei unseren Überlegungen zur Eucharistie zum Material der Erde zurückkehren, denn, wie Irenäus betonte, das Brot der Eucharistie ist „aus der Erde“ und der Wein „Teil der Schöpfung“ (Adv. Haer. 4.17.5). Alles, was wächst, hängt nicht nur vom Wasser ab, sondern auch von der Gesundheit und Qualität des Bodens selbst. Es ist diese Oberfläche und die zerbrechliche Ebene der Erde, die hier so entscheidend ist. Ein Dankgebet in der antiken Didache erinnert uns daran, dass das Brot, das geteilt wird, aus dem Korn gemacht wurde, das auf den Hügeln verstreut und gewachsen war, und dass das, was gesät wird, im Boden keimt und wächst. Das mag an Bilder aus dem biblischen Gleichnis vom Sämann erinnern, aber das Bedeutende am Boden ist, dass er nicht nur ein lebloses Material ist, sondern selbst lebendig. Ein zeitgenössischer Naturschriftsteller verweist auf diese verblüffende Tatsache: „Beneath every square metre of ground are ten million, million bacteria…, ten thousand protozoa and five million nematodes“, [vi] und dazu kommen noch all die verschiedenen Würmer und wirbellosen Tiere, die den Boden bereichern und die notwendigen Nährstoffe für das Wachstum der Pflanzen liefern. Eine solche Sicht der Biosphäre erweitert sicherlich den Sinn und die symbolische Bedeutung dessen, was in der Eucharistie genommen, gesegnet, gebrochen, ausgeschenkt, gegeben und als Gnadengabe empfangen wird.

In der Feier der Eucharistie werden Zeit und Raum miteinander in Beziehung gesetzt. Denn die Elemente, die genommen und auf den Altar gelegt werden, symbolisieren nicht nur die Biosphäre, sondern durch das, was im eucharistischen Gebet rezitiert wird, werden sie auch zum Zeichen für die ‚deep time‘ der Schöpfung, den Ursprung von allem, was ist. Verweise auf die Schöpfung in diesem Sinne sind integraler Bestandteil der Narrative der Danksagung. Dies wird deutlich in der narrativen Struktur von Psalm 136, einer Danksagung (in der die Erschaffung der Welt gefeiert [V. 4–5] und das Erlösungswerk Gottes verkündet wird [V. 10–24]), sowie in verschiedenen antiken und zeitgenössischen eucharistischen Gebeten. Aber dieser Sinn für die ‚deep time‘ oder geologische Zeit, der mit der Eucharistie verbunden ist, zeigt sich auf beeindruckende Weise im markanten Altar der Kirche der ‚Community of the Resurrection‘in Mirfield.

Altar der Kirche der ‚Community of the Resurrection‘ in Mirfield
Nahaufnahme des Altars der Kirche der ‚Community of the Resurrection‘ in Mirfield

Dieser relativ neue Steinaltar, der 2018 eingeweiht wurde, ist mit einem Durchmesser von etwa 2,40 m (8 Fuß) und einer Tiefe von 2,10 m (7 Fuß) sehr groß, und seine Permanenz im Raum erinnert an das Bild von Christus, dem Felsen, einer konstanten und absolut zuverlässigen Präsenz. Der Altar wurde von James Elliott entworfen und besteht aus fossilem Mandale-Kalkstein aus einem Steinbruch auf dem Chatsworth-Anwesen hoch oben im Peak District in Derbyshire, Großbritannien. In den Stein, der schätzungsweise 350 Millionen Jahre alt ist, sind Fossilien von einigen der frühesten Lebensformen auf dem Planeten Erde eingeschlossen. Es handelt sich um Seelilien, Brachiopoden, Korallen und Haifischzähne. Die ‚deep time‘, die dieser Altar repräsentiert, macht jede Eucharistie, die hier gefeiert wird, zu einer „Messe im Universum“ (mit Referenz an Teilhard de Chardin), die an die Vision des kosmischen Christus in Kolosser 1,15–20 erinnert, den Christus, der „vor aller Schöpfung ist“ und in dem „alles Bestand hat“. Und wenn an diesem Altar für das gedankt wird, was „die Erde gegeben hat“, wird das Leben des Planeten Erde symbolisch in die rituelle Handlung des gekreuzigten und lebendigen Herrn einbezogen, „durch den und für den alle Dinge geschaffen wurden“. Und so scheint es, dass wir, ob wir am Altar versammelt sind oder im Garten arbeiten oder ruhen, immer wieder verkünden können, dass die Erde dem Gott des Himmels gehört, der "allem Fleisch Nahrung geben will", weil die Huld des Gottes des Himmels ewig währt (Ps 136,25f.).

[i] John Baldovin, Prozessionen, in: Reallexikon für Antike und Christentum 28 (2018), 393–434.

[ii] Vgl. zum Beispiel Tamsin Rowe, ‚Bless. O Lord, this fruit of new trees’. Liturgy and nature in England in the central Middle Ages, in: God’s Bounty? The Church and the Natural World. Ed. by Peter Clark. Woodbridge 2010, 53–65.

[iii] Enzyklika Laudato si‘ von Papst Franziskus über die Sorge für das gemeinsame Haus. Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn 52022 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 202), Nr. 236.

[iv] David N. Power, The Eucharistic Mystery: Revitalizing the Tradition. Dublin 1992, 315.

[v] Vgl. Andrew McGowan, Food, Ritual, and Power, in: Late Ancient Christianity. Ed. by Virginia Burrus. Minneapolis 2005, 145–164, und Thomas O’Loughlin, The Eucharist: Origins and Contemporary Understandings. London – New York 2015, Kap. 3 und 4.

[vi] Mark Cocker Claxton, Field Notes from a Small Planet. London 2014, 28.

Christopher Irvine ist Honorary Teaching Fellow am St Augustine’s College of Theology und lehrt am Mirfield Liturgical Institute, College of the Resurrection (UK). Er war Rektor des College of the Resurrection in Mirfield. Er ist Mitglied der Liturgischen Kommission der Kirche von England und Vorsitzender des Alcuin Clubs.

Wissenschaftliche Interessen: die Beziehung zwischen Liturgie und Kunst sowie der sakrale Raum.

Ausgewählte Publikationen:

  • The Art of God. The Making of Christians and the Meaning of Worship. London 2005.
  • The Use of Symbols in Worship. London 2007 (Alcuin liturgy guides 4).
  • The Cross and Creation in Christian art and liturgy. London 2013 (Alcuin Club collections 88).
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