Mit bunten Farben und lautem Getöse tobt die fünfte Jahreszeit derzeit durch unsere Straßen. Doch für Angehörige der katholischen Kirche bedeutet das närrische Treiben weiter mehr als Ausgelassenheit: Mit dem heutigen Aschermittwoch beginnt für sie die Fastenzeit. Verzicht und Entbehrung sollen ein Leben nach dem Vorbild Jesus Christus fördern. Doch wie enthaltsam und arm lebte dieser eigentlich selbst? Unser Neutestamentler Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer wirft für THEOLOGIE AKTUELL einen Blick auf den historischen Jesus von Nazaret und hinterfragt, inwieweit seine Lehre als asketische Ethik betrachtet werden kann.
Hinweis der Redaktion: Mit einem Stern (*) markierte Fachbegriffe werden in einem Glossar am unteren Seitenrand erläutert.
von Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer
Mit dem Aschermittwoch beginnt für katholische Christinnen und Christen die Zeit der Vorbereitung auf das Osterfest – das Fest des Leidens, des Todes und der Auferweckung Jesu. Im deutschen Sprachraum hat sich für diese Tage die Bezeichnung “Fastenzeit” eingebürgert. Das “Fasten” wird dabei als körperlicher Ausdruck einer inneren Reue für das eigene Fehlverhalten gegenüber Gott und dem Nächsten, sowie als Zeichen der Trauer und der Bereitschaft zur Umkehr und Neuausrichtung verstanden. Christinnen und Christen sehen sich mit dieser frommen Praxis in der Nachfolge des Jesus von Nazaret, der nach dem Zeugnis der Evangelien dem Ruf von Johannes dem Täufer zur Buße und Umkehr folgte, und sich nach der Taufe durch Johannes in die Wüste zurückzog, um hier für vierzig Tage zu fasten, bevor er mit der Verkündigung des Heiles des Gottesreiches begann. Liest man allerdings die Evangelien aufmerksam, fällt auf, dass Jesus von Nazaret in seinem Leben und seiner Verkündigung als wenig asketisch erscheint.
Dem Fasten wurde neben anderen frommen Übungen in den christlichen Gemeinden bereits sehr früh eine große Bedeutung beigemessen. Im Zentrum der Bergpredigt des Matthäusevangeliums etwa wird Jesus von Nazaret eine Katechese* über die frommen Übungen “Almosen” (Mt 6,2–4), “Gebet” (Mt 6,5–15) und “Fasten” (Mt 6,16–18) in den Mund gelegt. Damit bezieht sich der matthäische Jesus auf drei frommen Übungen, denen im Judentum der Zeit eine besondere Bedeutung zugemessen wurde. Im Buch Tobit – eine jüdische Erbauungsschrift, die als Teil der griechischen Bibel (Septuaginta*) von den christlichen Gemeinden gelesen und rezipiert wurde – heißt es: “Es ist gut, zu beten und zu fasten, barmherzig und gerecht zu sein” (Tob 12,8).
Von den Juden übernahmen die christlichen Gemeinden die Praxis, an zwei Tagen der Woche zu fasten, wählten dafür aber als Zeichen der Abgrenzung andere Tage, nämlich Mittwoch und Freitag statt Dienstag und Donnerstag (Did. 8,1). Da dieses Fasten in den christlichen Gemeinden für alle Mitglieder vorgeschrieben wurde, handelte es sich nicht mehr um eine Form privater Frömmigkeit und Askese*, sondern um eine institutionalisierte Glaubenspraxis. Außerdem entwickelten sich bald besondere Fastenzeiten, vor allem als Vorbereitung auf das Osterfest mit dem Gedächtnis der Erlösung des Menschen in Kreuz und Auferweckung Jesu und der Feier der Taufe.
Das institutionalisierte Fasten ist Teil einer asketischen Ausrichtung und einer allgemeinen Hochschätzung von Formen der Enthaltsamkeit und des Verzichts in den christlichen Gemeinden. Viele Christinnen und Christen lebten spätestens seit dem zweiten Jahrhundert in der Nachfolge Jesu arm und ehelos. Sie wollten durch diesen Verzicht in besonderer Weise ihren Gehorsam und ihre totale Hingabe an den Willen Gottes zum Ausdruck bringen. Männer und Frauen, die sich in der Nachfolge Jesu für ein Leben in Armut und Ehelosigkeit entschieden, sahen dies als Ausdruck der Nachfolge und der Nachahmung ihres Herrn und Meisters Jesus Christus.
Als treue Schülerinnen und Schüler wollten sie leben, wie er es ihnen vorgelebt hatte. Jesus war für diese Männer und Frauen nicht einfach der Bote des Heils, sondern der Lehrer eines Weges, der durch Selbstkasteiung und Verzicht auf Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse nicht nur zum Heil, sondern zu einer höheren Stufe sittlicher Vollkommenheit und zu einer Form höherer Erkenntnis und einer Vorwegnahme der Schau Gottes bereits in diesem irdischen Leib und Leben führen konnte.
Auch wenn frühe Christinnen und Christen Jesus und seine Botschaft so verstanden, muss man fragen, ob sich diese Deutung mit dem deckt, was sich in den Evangelien als authentische Erinnerung an das Leben und Wirken, an die Worte und Taten des Jesus von Nazaret erhalten hat. War Jesus von Nazareth ein Asket? Hat er seine Jüngerinnen und Jünger aufgefordert, in seiner Nachfolge besondere “Verzichtsleistungen” zu erbringen? Wollte Jesus von Männern und Frauen, die ihm nachfolgen wollten, dass sie alles verkauften, bevor sie ihm nachfolgten (vgl. Mk 10,17–31 par.)? Wenn ja, forderte er dies dann ohne Unterschied von allen oder nur von einer kleinen Gruppe, die von Gott in besonderer Weise dazu erwählt und bestimmt worden sind?
Sicher ist, trotz manch popularwissenschaftlicher Thesen: Jesus war unverheiratet und hatte keine Kinder. Schwierig dagegen ist bereits die Frage, ob der historische Jesus von Nazaret wirklich arm war und nichts sein eigen nennen konnte. Unzweifelhaft ist: Jesus von Nazaret selbst hat im Unterschied zu Johannes dem Täufer nicht im eigentlichen Sinn als Asket gelebt und keine strenge Askese gepredigt und gefordert. Während es in den Evangelien über den Täufer heißt, dass er in der Wüste von wildem Honig und Heuschrecken lebte (Mt 3,4) und dass er kein Brot aß und keinen Wein trank (Lk 7,33), findet sich im Blick auf Jesus der Vorwurf, er wäre ein Fresser und Säufer, ein Freund der Zöllner und Dirnen (Mt 11,19; Lk 7,34).
Dieses wenig schmeichelhafte Urteil über Jesus verdankt sich kaum der christlichen Gemeinde, sondern bewahrt eine authentische Erinnerung an das Verhalten Jesu, mit dem er bei vielen seiner Zeitgenossen Anstoß erregte, da sie von einem Propheten und Boten Gottes zumindest Fasten und den Verzicht auf Wein erwartet hätten. Dieses Urteil über Jesus passt zu den zahlreichen Erzählungen der neutestamentlichen Evangelien, die Jesus als Gast bei den festlichen Gastmählern seiner reichen Zeitgenossen zeigen.
Der Widerspruch zwischen dem, was Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien selbst gelebt hat, und dem, was in den Evangelien als Forderungen für das Verhalten seiner Jüngerinnen und Jünger in der Nachfolge Jesu formuliert ist, war frühen Christinnen und Christen durchaus bewusst. Sie bemühte man sich um eine Lösung bzw. Erklärung, die diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen der Praxis des irdischen Jesus und des vorösterlichen Jüngerkreises auf der einen und der Praxis der nachösterlichen Jesus-Bewegung auf der anderen Seite relativieren und einordnen sollte. Eine Erklärung fand die frühe Kirche in einem möglicherweise authentischen Jesus-Wort, das in Mk 2,18f. überliefert ist:
“Da die Jünger des Johannes und die Pharisäer zu fasten pflegten, kamen Leute zu Jesus und sagten: Warum fasten deine Jünger nicht, während die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer fasten? Jesus antwortete ihnen: Können denn die Hochzeitsgäste fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Solange der Bräutigam bei ihnen ist, können sie nicht fasten.” (Mk 2,18f.; vgl. Mt 9,14f.; Lk 5,33–35)
Erst mit dem Tod und der Erhöhung Jesu, das heißt mit seiner leiblichen Abwesenheit von der Gemeinde, tritt eine Situation ein, in der das Fasten angemessen ist. Solange Jesus bei den Seinen leibhaft anwesend ist, ist eine Zeit des Festes und der Freude, in der für Fasten als Zeichen der Trauer kein Raum bleibt.
Der historische Jesus von Nazaret hat dieses Wort gewiss nicht so verstanden. Er wollte zum Ausdruck bringen, dass er sich als derjenige verstand, mit dem endgültig das im Bild des Hochzeitsmahles vorgestellte Gottesreich angebrochen ist, das heißt die spürbare und heilschaffende Gegenwart Gottes bei den Seinen. Wo das Heil wirkmächtig erfahrbar und bleibend gegenwärtig geworden ist, da ist nur Platz für Freude, nicht aber für Fasten, das Ausdruck der Buße und Trauer ist. Für die nachösterliche Gemeinde aber war das Wort eine willkommene Möglichkeit, die eigene Fastenpraxis zu rechtfertigen und in der Verkündigung des vorösterlichen Jesus zu verankern, obwohl er selbst und sein Jüngerkreis sich durch den Verzicht auf das Fasten, das nach damaliger Überzeugung für ein ernsthaftes religiöses oder philosophisches Leben eigentlich unverzichtbar war, signifikant und auffällig von anderen Gruppen des Judentums, aber auch von hellenistischen Philosophenschulen unterschieden und dafür auch kritisiert wurden.
Jesus von Nazareth hat die asketische Lebensweise des Täufers Johannes, aus dessen Bewegung und Schülerkreis er selbst hervorgegangen ist, nicht fortgesetzt und eine solche Lebensweise nicht propagiert und von seinen Jüngern eingefordert. Das Zeugnis der Evangelien ist hier eindeutig: Die Jünger Jesu fasteten nicht (Mk 2,18f.) und die Praxis Jesu, an festlichen Gastmählern teilzunehmen und beim fröhlichen Mahl mit religiös und gesellschaftlich Ausgegrenzten zu essen und zu trinken, erregte Kritik (Mt 11,18–20). Jesus selbst lebte zwar ehelos, aber diese Lebensweise hat er seinen Jüngerinnen und Jüngern nicht als verpflichtend auferlegt. Jesus verzichtete auf die Sicherung seines Lebensunterhalts durch eigene Arbeit und er hat zweifelsohne auch Armut und Besitzverzicht als einen besonderen Wert verkündet, aber er ließ sich von reichen Freunden und vor allem von vermögenden Gönnerinnen, das heißt von Frauen aus der Oberschicht, das zum Leben Notwendige geben.
Jesus hat nicht von allen, die ihm nachfolgten, radikale Armut und keinen vollständigen Besitzverzicht gefordert. Als jedoch die Worte und das Leben Jesu in den nachösterlichen Gemeinden mehr und mehr in eine theologische Deutung eingehüllt wurden, wurden seine Lebensweise und sein Verhalten zunehmend in eine asketische Lebensweise umgedeutet und als vorbildliche und wegweisende Gestalt christlichen Lebens und Denkens dargestellt.
– Thomas Johann Bauer
Der historische Jesus von Nazaret hat in seiner Umgebung verschiedene Formen der Nachfolge geduldet, ohne einer von ihnen den Vorzug zu geben und ihr damit einen höheren Wert beizumessen. Die Lehre Jesu kann nicht als eine asketische Ethik bezeichnet werden, auch wenn seine überlieferten Worte Aussagen enthielt, an die später solche Forderungen einer konsequenten Askese anknüpfen konnten. Bei der Entwicklung einer spezifisch asketischen Ethik in den frühen christlichen Gemeinden handelt es sich um ein Phänomen der Akkulturation, das heißt der Anpassung an Vorstellungen, Werte und Ziele in der Umwelt der ersten Gemeinden. Denn Formen des asketischen Lebens waren der antiken Gesellschaft vertraut, sowohl im jüdischen als auch im paganen Raum der hellenistisch-römischen Kultur.
Mit der Forderung nach Ehelosigkeit und der Absage an die materielle Welt partizipierte das Christentum zudem an dualistischen und leibfeindlichen Tendenzen, wie sie auch sonst im Denken der antiken Menschen – bei Juden nicht weniger als bei Griechen und Römer – fassbar werden, vor allem in der platonischen Philosophie, die der vergänglichen materiellen Welt die ewigen und immateriellen Ideen entgegenstellte.
Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer ist Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Universität Erfurt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Johannesoffenbarung, die Anfänge des Christentums und seiner Literatur im Kontext der Kultur- und Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit ebenso wie neutestamentliche, frühchristliche und antike Briefe sowie Geschichte und Überlieferung der lateinischen Bibel. Seit Juli 2017 steht er der Katholisch-Theologischen Fakultät seit als Dekan vor. Zudem ist Prof. Bauer seit 2014 wissenschaftlicher Leiter des Vetus Latina-Instituts Beuron zur Erarbeitung einer kritischen Edition der Vetus Latina des Lukasevangeliums.