Im Jahr 1945, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, errichtete Erzabt Benedikt Baur OSB (1877–1963) in Beuron ein Institut für die Vorbereitung einer Edition der Reste des älteren lateinischen Bibeltextes, dessen Anfänge in der Zeit vor Hieronymus liegen. Das Vetus Latina-Institut Beuron und die von ihm verantwortete Edition ist noch heute das international bedeutendste und renommierteste Forschungsvorhaben zum lateinischen Bibeltext. Seit 2014 ist Thomas Johann Bauer von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt als Wissenschaftlicher Leiter für Institut und Edition verantwortlich. Zum Jubiläum des Instituts gibt er einen Einblick in seine Forschungsarbeit und Geschichte.
Vetus Latina (zu ergänzen Versio oder Translatio) ist die heute gebräuchliche Bezeichnung für unterschiedliche Formen der ältesten lateinischen Bibelübersetzung, deren Anfänge vielleicht noch im 2. Jahrhundert n.Chr. liegen und die in der lateinisch-sprachigen Kirche des Westens bis ins 9. Jahrhundert und in Teilen sogar noch bis ins 2. Jahrtausend hinein in Gebrauch blieben (so vor allem in Irland, Gallien und Spanien). Nur sehr langsam wurde die Vetus Latina von der sogenannten Vulgata verdrängt. Die Vulgata wurde (möglicherweise) von Papst Damasus († 384) initiiert. Anlass dafür war, dass die damals vorhandenen Handschriften der lateinischen Bibel in ihrem Text an vielen Stellen erheblich voneinander abwichen. Der unterschiedliche Wortlaut der vorhandenen lateinischen Übersetzungen, oft verbunden mit unterschiedlichen theologischen Akzentsetzungen, wurde bei innerkirchlichen Streitigkeiten und Auseinandersetzungen zunehmend als Problem empfunden. Genau besehen war jedoch die Klage über den uneinheitlichen lateinischen Bibeltext nicht zu groß und dort, wo sie vorgetragen wurde, eher situativ motiviert. Theologen wie Ambrosius, Augustinus und andere wussten in ihren theologischen Schriften und in ihren Homilien abweichende Lesarten durchaus auch kreativ als Anregung und Hilfe bei der Auslegung der „Schrift“ einzusetzen (einschließlich eines abweichenden griechischen Textes). Verbunden ist die Vulgata mit dem Namen des Theologen Hieronymus († 419), auf dessen Übersetzungs- bzw. Revisionsarbeit jedoch nur einige Teile des Alten Testaments sowie die Evangelien des Neuen Testamentes zurückgehen. Die übrigen Teile des Alten und Neuen Testamentes wurden aus den vorhandenen alten Übersetzungen übernommen und teilweise von verschiedenen, namentlich nicht sicher fassbaren Theologen (des frühen 5. Jahrhunderts) bearbeitet.
Als Produkt mehrerer Übersetzer und Revisoren ist die Vulgata in Wortwahl, Syntax und Stil keineswegs einheitlich. Sie unterscheidet sich dennoch deutlich von den vorausgehenden Formen der Vetus Latina. Dies ist im Alten Testament dadurch bedingt, dass sich die Vulgata im Unterschied zur Vetus Latina nicht mehr am Text der Septuaginta, der griechischen Ausgabe der alttestamentlichen Schriften, orientierte, sondern an dem davon an vielen Stellen stark abweichenden Text der hebräischen Bibel. Damit brach Hieronymus mit der Überzeugung von der Septuaginta als dem inspirierten und normativen Text. Dies hat mit dazu beigetragen, dass seine Übersetzung zunächst auf Ablehnung stieß. Im Neuen Testament gehen die Unterschiede darauf zurück, dass sich ab dem 4. Jahrhundert im Westen jene Form des griechischen Textes durchsetzte, die den großen Handschriften nahestand, die heute als beste Zeugen des neutestamentlichen Textes gelten (Codex Sinaiticus, Codex Alexandrinus, Codex Vaticanus). Die Vetus Latina des Neuen Testaments dagegen geht auf eine im (späten) 2. und 3. Jahrhundert verbreitete Textform zurück, die an vielen Stellen auffällige Erweiterungen, gelegentlich aber auch Auslassungen bietet (traditionell meist als „westlicher“ Text bezeichnet).
Dies führte dazu, dass mit der Vulgata eine neue Form des lateinischen Bibeltextes entstand, die sich deutlich und klar erkennbar von den bisher gebräuchlichen lateinischen Übersetzungen unterschied. Deshalb wurde der neue lateinische Bibeltext bereits zur Zeit seiner Entstehung als so fremd und ungewohnt wahrgenommen, dass man ihn in den christlichen Gemeinden des Westens teilweise sogar erbittert ablehnte. Die Vulgata wurde deshalb nur zögerlich rezipiert, und die älteren lateinischen Übersetzungen blieben im kirchlichen Leben, in der Liturgie, der Verkündigung und Glaubensunterweisung, aber auch in der theologischen Diskussion weiter in Gebrauch. In den Schriften der lateinischen Kirchenschriftsteller der Spätantike und des frühen Mittelalters finden sich Bibelzitate deshalb oft in einem Wortlaut, der deutlich vom Text der Vulgata abweicht. Mag an der einen oder anderen Stelle auch ein freies Zitat oder eine absichtliche oder unabsichtliche Änderung des Bibeltextes vorliegen, an vielen Stellen erklärt sich jedoch der abweichende Wortlaut durch die Abhängigkeit von den älteren lateinischen Bibelübersetzungen, die der Vulgata vorausgehen.
Dass es sich bei Bibelzitaten, in denen lateinische Kirchenschriftsteller vom Text der Vulgata abweichen, nicht einfach um freie und ungenaue Zitate handelt, zeigt sich daran, dass diese Kirchenschriftsteller in ihren Abweichungen von der Vulgata auffällig, oft bis in den genauen Wortlaut hinein übereinstimmen, auch wenn sie zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Regionen lebten und wirkten. Mit der endgültigen Durchsetzung der Vulgata im 8. und 9. Jahrhundert bricht die Überlieferung des älteren lateinischen Bibeltextes, der Vetus Latina, schließlich weitgehend ab und das Wissen um den älteren lateinischen Bibeltext verschwindet schließlich.
Als in den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts eine päpstliche Kommission unter Leitung von Antonio Kardinal Carafa (1538–1591) daran ging, gemäß dem Auftrag des Konzils von Trient eine neue Edition der lateinischen Bibel vorzubereiten, kam erstmals wieder das Phänomen in den Blick, dass die Bibelzitate in den Werken der lateinischen Kirchenschriftsteller im Wortlaut von der Vulgata abweichen und dass auch in der Liturgie biblische Texte teilweise in einer von der Vulgata abweichenden Form verwendet wurden. Mit der systematischen Erschließung und wissenschaftlichen Aufarbeitung der Bestände der europäischen Bibliotheken – verbunden mit der Etablierung der Diplomatik und Handschriftenkunde – fanden sich zunehmend alte, bisher wenig beachtete Handschriften biblischer Bücher, die eine von der Vulgata abweichende lateinische Übersetzung boten und zugleich auffällige Übereinstimmungen mit den ebenfalls von der Vulgata abweichenden Zitaten bei den lateinischen Kirchenschriftstellern der Spätantike und des Frühmittelalters zeigten.
Da der lateinische Bibeltext dieser Handschriften eine deutliche Nähe zu den Bibelzitaten in den Schriften des Cyprian von Karthago († 258) und bei den Kirchenvätern und Kirchenschriftstellern des 4. Jahrhunderts zeigte, war ausgeschlossen, dass es sich hier um eine nachträgliche Veränderung oder um eine verderbte Überlieferung des Vulgata-Textes handelt. Demnach musste es sich um Zeugen jenes lateinischen Bibeltextes handeln, dessen Anfänge bereits in der Zeit vor der Vulgata lagen und der längere Zeit neben der Vulgata in Verwendung war.
Die frühe Bezeugung bei Cyprian von Karthago lässt vermuten, dass die Wurzeln der Vetus Latina in den schon früh lateinisch-sprachigen Gemeinden Nordafrikas liegen. Möglicherweise wurden hier zunächst bei den Gottesdiensten die Lesungen aus den biblischen Büchern ad hoc mündlich ins Lateinische übertragen, weil die Mitglieder der Gemeinden – anders als beispielsweise in Rom – zunehmend kein Griechisch mehr verstanden. Diese ersten mündlichen Übersetzungen wurden wohl allmählich verschriftlicht, gesammelt und ergänzt, so dass sukzessive Übersetzungen für ganze Bücher der Bibel entstanden. Am Anfang standen wohl die Übersetzungen der Evangelien und der Psalmen, da diese bei Weitem am häufigsten in Liturgie und Glaubensunterweisung verwendet wurden. In privaten Initiativen wurden die vorhandenen Übersetzungen immer wieder überarbeitet, um sie besser an die gebräuchlichen griechischen Vorlagen und an eine sich entwickelnde lateinische theologische und kirchliche Begrifflichkeit anzupassen. Dies führte dazu, dass der älteste lateinische Bibeltext allmählich in einer Vielzahl unterschiedlicher Formen vorlag.
Umstritten bleibt in der Forschung allerdings, ob die Vetus Latina in ihren verschiedenen Textformen in allen Büchern und Schriftengruppen tatsächlich auf eine einzige „Urübersetzung“ zurückgeht, die sich durch Revisionen in unterschiedliche Formen ausdifferenziert hat, oder ob nicht zumindest bei einzelnen Büchern anzunehmen ist, dass mehrmals und an verschiedenen Orten der Versuch einer Übertragung ins Lateinische unternommen wurde. Bezeugt ist der Text der Vetus Latina in Handschriften und Zitaten bei Kirchenvätern und Kirchenschriftstellern des 1. Jahrtausends sowie in der liturgischen Überlieferung in einer Vielzahl von Ausprägungen, die neben auffälligen Abweichungen auch deutliche Übereinstimmungen zeigen.
Nach derzeitigem Stand der Forschung gibt es keine einzige Handschrift der Bibel, die durchgehend für alle Bücher des Alten und Neuen Testamentes einen Text der Vetus Latina überliefert. Handschriften aus dem 4. bis 13. Jahrhundert bezeugen jeweils nur für einzelne Bücher einen älteren, der Vulgata vorausgehenden Text der lateinischen Bibel. Auf der Grundlage dieser Handschriften und mit Hilfe der Zitate bei den Kirchenschriftstellern aus der Zeit vom 3. bis zum 8./9. Jahrhundert ist es jedoch möglich, die Vetus Latina als eine der Vulgata vorausgehende und sich parallel zu ihr entwickelnde Übersetzungstradition zu rekonstruieren. Für die meisten biblischen Bücher lässt sich sogar die Geschichte und Entwicklung des Vetus Latina-Textes und die Abfolge unterschiedlicher Texttypen und regionaler Varianten der Vetus Latina nachzeichnen.
Nach ersten, ungenügenden Versuchen im 15. und 16. Jahrhundert legte im 18. Jahrhundert der französische Benediktiner Pierre Sabatier (1682–1742) aus der Kongregation von S. Maur auf der Grundlage neu entdeckter Vetus Latina-Handschriften eine nach damaligen Maßstäben umfassende Rekonstruktion und vollständige Dokumentation für den „ältesten“ Text der lateinischen Bibel vor. Das monumentale Werk erschien in den Jahren 1739–49 in drei Bänden (Reims; 2. Auflage Paris 1751). Da in den vorliegenden Handschriften manche Bücher nur in Teilen oder gar nicht bezeugt waren, bemühte sich Pierre Sabatier die fehlenden Stellen mit Hilfe der Bibelzitate bei den älteren lateinischen Kirchenschriftstellern (vor allem Ambrosius, Augustinus und Lucifer von Calaris) und aus der liturgischen Überlieferung zu ergänzen. Dabei blieben jedoch noch immer zahlreiche Lücken.
Mit der Entdeckung weiterer Handschriften, die für Teile oder einzelne Bücher der Bibel einen von der Vulgata abweichenden Text der Vetus Latina bieten, sowie einer vertieften kritischen Reflexion über die Methoden und Prinzipien der Edition der Reste der Vetus Latina zeigte sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zunehmend die Notwendigkeit einer grundlegenden Neubearbeitung des monumentalen Werkes von Pierre Sabatier. Nachdem mehrere Versuche gescheitert waren, begann in München Pfarrer Josef Denk (1849–1927), angeregt durch Eduard Wölfflin (1831–1908), den Begründer des Thesaurus Linguae Latinae, systematisch alle Belege für einen von der Vulgata abweichenden lateinischen Bibeltext in Handschriften und Zitaten bei Kirchenschriftstellern zu sammeln. Obwohl er 1914 ein Probeheft mit dem Text des Buches Rut und des Judasbriefes veröffentlichte und das unmittelbar bevorstehende Erscheinen des vierbändigen Gesamtwerkes ankündigte, kam das Werk nie zu einem Abschluss.
Noch vor dem Tod von Josef Denk gelangte das von ihm zusammengetragene Material in die Erzabtei Beuron im Oberen Donautal. Hier wurde von den Benediktinern die Arbeit am älteren lateinischen Bibeltext, für den sich in dieser Zeit die Bezeichnung Vetus Latina etablierte, fortgesetzt. Im Jahr 1945 wurde dafür das Vetus Latina-Institut errichtet, das seit dieser Zeit die von Josef Denk begonnene Kartei mit allen Belegen des älteren lateinischen Bibeltextes kontinuierlich erweitert und anhand der aktuellen Editionen patristischer Texte aktualisiert. Von Bonifatius Fischer OSB (1915–1997), dem ersten Leiter des Instituts, wurden Prinzipien und Methoden für eine möglichst vollständige Edition der Vetus Latina erarbeitet. Als erster Band der Beuroner Edition erschien in den Jahren 1951–54 die Vetus Latina der Genesis. Bis heute ist die Edition erst ungefähr bis zur Hälfte abgeschlossen.
Getragen wird die Arbeit des Instituts zusammen mit der Erzabtei von der Stiftung Vetus Latina, die 1951 auf Initiative des Verlegers Theophil Herder-Dorneich (1998–1987) in Freiburg im Breisgau gegründet wurde. Über den Stand der Arbeit an der Beuroner Edition der Vetus Latina und über weitere Forschungen des Vetus Latina-Instituts informiert ein regelmäßig publizierter Arbeitsbericht.
Das Beuroner Institut entwickelte und etablierte sich rasch als Kompetenzzentrum für vielfältige Fragen zu Text und Geschichte der lateinischen Bibel. Dies dokumentiert die Beteiligung des Instituts und seiner Mitarbeiter*innen an verschiedenen internationalen Forschungsvorhaben.
Ab 1958 war das Institut maßgebend beteiligt an der Erarbeitung einer Handausgabe der Vulgata, die von der Württembergischen Bibelanstalt in Stuttgart geplant und 1969 in erster Auflage publiziert wurde. Zur 1975 erschienenen zweiten Auflage erarbeitete Bonifatius Fischer eine Konkordanz; dabei setzte er bereits die neuen Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung ein. An allen weiteren Ausgaben der Stuttgarter Vulgata bis einschließlich der aktuellen 5. Auflage von 2007 war das Institut beteiligt.
Das Vetus Latina-Institut arbeitete auch an wichtigen Vorhaben zum griechischen Text der Bibel mit. Bereits 1967 führte Bonifatius Fischer ein erstes Gespräch mit Kurt Aland und anderen Mitarbeitern des Instituts für neutestamentliche Textforschung in Münster über das Vorhaben einer Editio Critica Maior des griechischen Neuen Testaments, die zu einer Mitarbeit bei diesem Unternehmen und zur Aufnahme von Bonifatius Fischer in das Editionskomitee führten. Gleichzeitig sagte das Institut 1969 die Mitarbeit an der Neuauflage des Greek New Testament (3. Aufl.) und an der Neuauflage des Novum Testamente Graece (Nestle-Aland, 26. Auflage) zu.
Internationale Vernetzung prägte die Arbeit des Vetus Latina-Institut von Anfang an. Heute bestehen intensive Kontakte und Kooperationen mit Forscher*innen in Großbritannien, Italien, Belgien, Frankreich, Irland, Finnland, Australien und den USA. Besonders hervorzuheben sind das Institute for Textual Scholarship and Electronic Editing (ITSSE) an der University of Birmingham, die Université catholique de Louvain und das Pontificium Institutum Biblicum in Rom.
Von Anfang an war für das Institut und seine Arbeit eine ökumenische Ausrichtung wichtig. Diese zeigt sich bis heute in der Kooperation mit Institutionen und Forscher*innen über die Grenzen der Katholischen Theologie und Kirche hinaus. Wichtige Mitarbeiter*innen des Instituts und der Edition kamen und kommen aus protestantischen Kirchen.