359.338 Menschen haben im Jahr 2021 die Kirche verlassen. Das geht aus der kürzlich veröffentlichten Kirchenstatistik hervor. Dass diese Zahl emblematisch ist für die tiefe Krise, in der sich die Kirche zur Zeit befindet, kann kaum bestritten werden. Wie umgehen damit, dass für viele Gehen die einzige Option zu sein scheint? Mit Julia Knop (Dogmatik), Benedikt Kranemann (Liturgiewissenschaft) und Maria Widl (Pastoraltheologie) haben drei unserer Professor*innen versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Für alle drei steht fest: Es muss sich jetzt etwas ändern.
Austritte en masse sind kein Schicksal
von Julia Knop
Die Austrittszahlen steigen schon lang, aber wenn sie neue Höchstwerte erreichen, gibt es meist einen Anlass: Die Peaks von 2014 und 2019 finden in den Finanzskandalen in den Bistümern Limburg und Eichstätt eine plausible Erklärung, die Spitzenwerte von 2010 und nach 2018 im öffentlichen Erschrecken über das Ausmaß sexualisierter Gewalt durch Kleriker und ihrer Vertuschung durch die Bistumsleitungen. Auch 2021 bot reichlich Anlass auszutreten, allen voran die Leitungs- und Vertrauenskrise im Erzbistum Köln. Sie hatte sich am Umgang des Erzbischofs mit zwei Missbrauchsgutachten entzündet. Sie erschöpft sich aber nicht darin und reicht in ihrer negativen Strahlkraft weit über die Region hinaus. Das katholische Köln wurde zum Symbol der Wahrnehmung der katholischen Kirche überhaupt: Es mag in der Vergangenheit geschehen sei, was wolle, es möge aktuell laufen, wie es wolle, und künftig kommen, was wolle: Das System steht fest und unverrückbar. Das war auch andernorts zu erleben: 2021 hatten die Erzbischöfe von Hamburg und München dem Papst (nicht den Gläubigen) ihren Rücktritt anboten, um als Repräsentanten dieser Kirche Verantwortung zu übernehmen und an einem „toten Punkt“ (Reinhard Marx) einen Neuanfang zu ermöglichen. Der Papst lehnte ihr Angebot ab. Also blieben sie, wie es in katholischer Diktion heißt, „gehorsam“ im Amt. Und es ging weiter wie bisher. Auch das 2022 (päpstlich verordnete) Rücktrittsangebot des Erzbischofs von Köln blieb bisher ohne Folgen. Gemeinden, Verbände und Gremien des Erzbistums hatten zwar bis in die höchste Leitungsebene hinein dem Kardinal ihr Misstrauen ausgesprochen. Die Austrittszahlen in Köln sind horrende (40.772). Aber ihre Stimme zählt nicht. Solange der Papst nicht eingreift (was er jederzeit tun, aber eben auch lassen kann), bleibt der Erzbischof im Amt.
2021: Bischöfe bleiben, Gläubige gehen. Den drei angebotenen Rücktritten von Bischöfen steht die hundertzwanzigtausendfache Zahl vollzogener Austritte von Gläubigen gegenüber.
Deren Zahl entspricht der Größe ganzer Bistümer wie Fulda, Hamburg oder Berlin. Wer austritt, macht kein Angebot auf Widerruf, sondern zieht souverän einen Schlussstrich. Das tun mittlerweile nicht mehr nur Menschen, für die es im Alltag kaum einen Unterschied macht, ob sie formell Kirchenmitglied sind oder nicht. Es treten immer mehr Menschen aus der Mitte der Gemeinden, der Verbände und der Gremien aus der katholischen Kirche aus, hochengagierte und hochverbundene, sogar hochbetagte Katholik:innen: Menschen, die spürbar fehlen, wenn sie gehen. Und es treten Menschen aus, die sie sich in einem ethischen Dilemma wiederfinden, wenn sie blieben. Die gehen, weil sie es vor ihrem Gewissen nicht mehr vertreten können, diese Kirche durch Mitgliedschaft, ehren- oder hauptamtliches Engagement zu stützen und künstlich am Leben zu erhalten. Manche von ihnen verlassen die katholische Kirche, um ihren Glauben bewahren zu können. Ihre Empörung und Enttäuschung werden nicht mehr aufgewogen durch die guten Erfahrungen, die sie in ihrer Kirche auch gemacht haben. Sie erwarten von der Umkehr-, Aufbruchs- und Erneuerungsrhetorik der Bischöfe keine Erneuerung mehr, weil sie keine Umkehr und keinen Aufbruch erleben. Die bischöflichen Reaktionen auf die aktuellen Austrittszahlen geben ihnen letztlich Recht: Da ist viel (und ziemlich routiniert) von Erschütterung, Bedauern und Schmerz (der Bischöfe!) die Rede und davon, den Menschen „in ihren Nöten“ weiterhin nahe bleiben zu wollen – aber nicht davon, dass die Wut, die viele aus der Kirche treibt, Resonanz fände, und erst recht nicht von freimütigen, couragierten Konsequenzen auf persönlicher, spiritueller oder struktureller Ebene.
Austritte en masse sind kein Schicksal. Sie sind nicht nur Ausdruck von allgemeinen Transformationen des Religiösen. Austritte in dieser Größenordnung zeigen vielmehr, wie viel Anteil die Kirchen selbst an der Entkirchlichung des religiösen Lebens haben. Wenn Engagement und Einspruch der Gläubigen fortgesetzt verpuffen, wenn Systemerhalt um jeden Preis jegliche ernst zu nehmende Veränderung verhindert und Aufarbeitungsrhetorik den nötigen Systemwechsel ersetzt, sind Wut und Resignation so vieler Menschen verständlich und wahrhaftig und ihr Schlussstrich am Ende nachvollziehbar.
Wer sich nicht ganz dem Fatalismus hingeben will, muss jetzt handeln
Die Zahlen der aktuellen Kirchenstatistik sind ein Debakel. Kirchliches Leben ist im Niedergang. Während sich die Öffentlichkeit vor allem auf die exorbitant hohen Austrittszahlen konzentriert, droht eine andere Zahl fast ins Hintertreffen zu gelangen: „Der Gottesdienstbesuch ist – coronabedingt – in 2021 mit 4,3 Prozent erneut zurückgegangen.“ Seit den 1950er Jahren ist dieser Rückgang zu beobachten. Wie auf einer Rutschbahn ging es schließlich immer rasanter bergab. Der Verlust ist sicherlich nicht (nur) „coronabedingt“. Die Geschwindigkeit, mit der die Zahlen nach unten tendieren, dürfte gleichwohl auf die Pandemie zurückzuführen sein. Der Blick in jeden beliebigen Kirchenraum zeigt schon seit vielen Jahren, wie massiv die Zahl der Menschen rückläufig ist, die insbesondere am Sonntag gemeinsam Eucharistie feiern. Warum dieser kontinuierliche Niedergang?
Sicherlich wird man (auch) die sinkende Akzeptanz des christlichen Glaubens in Rechnung stellen müssen – ein Faktum, das in der aktuellen Diskussion zu kurz kommt. Die Vorstellung, jeder Mensch sei homo religiosus und am besten gleich „anonymer Christ“, lässt sich nicht halten. Doch nach wie vor gibt es viele Menschen, die ihren Glauben gerne auch liturgisch leben und artikulieren würden und die Erwartungen an die Kirche haben – denen aber die kirchlichen Formen des Gottesdienstes und der Umgang mit ihnen nichts mehr sagen. Das Ärgerliche: Das ist nicht neu, sondern lange bekannt und immer wieder kritisiert worden. Doch viele Probleme schiebt die Kirche seit Jahrzehnten vor sich her. Das stößt bis in den Kern von Gemeinden Menschen vor den Kopf: Wer darf predigen, wer leiten, wer wie segnen? Wem wird Verantwortung für die Liturgie überlassen? Welche Formen von Liturgie werden gepflegt, wo gibt es neue Versuche und Experimente?
Zugleich stimmt für viele die Qualität des Gottesdienstes nicht mehr. Die Glaubensfeier ist vom eigenen Leben, den Nöten, Sorgen, Freuden oft weit entfernt. Sie ist vielen, gerade jungen Leuten, nicht mehr einsichtig.
In den beiden vergangenen Pontifikaten sind zukunftsführende Lösungen bis in die Ortskirchen und ihre Gemeinden hinein schlicht verhindert worden. Viele liturgierechtliche Regelungen erwiesen sich als kleinmütig, theologisch engstirnig, bürokratisch. Von der Weite und Liberalität des Katholizismus blieb oftmals nur eine stickige Atmosphäre übrig. Die Pandemie hat schließlich bei vielen quer durch die Generationen zur Einsicht geführt, dass man diese Art der Liturgie nicht mehr brauche. Eine echte „Zeitenwende“ ist unumgänglich: hin zu mehr Vielfalt, mehr Verantwortung für und von Nichtordinierten, mehr Ringen um das, was Liturgie für Glauben im alltäglichen Leben bedeuten kann. Ja, weniger Klerikalismus, mehr Rechte für alle Getauften und ihre Kompetenzen, mehr Mut zu Neuem in der Liturgie. Ob das angesichts von Auflösungserscheinungen der Glaubensgemeinschaft helfen wird, lässt sich nicht prognostizieren. Aber wer sich nicht ganz dem Fatalismus hingeben will, muss jetzt handeln. Die Zeit läuft davon.
Distanz zu diesem „Verein“. Die aktuelle Statistik der Kirchenaustritte aus pastoraltheologischer Perspektive
von Maria Widl
"Verein zur Befriedigung religiöser Bedürfnisse"
Die neueste katholische Kirchenstatistik hat innerkirchlich schockiert: So viele Menschen wie nie sind aus der Kirche ausgetreten. Meist wird die eigene Schuld im Missbrauchsskandal dafür verantwortlich gemacht. Das ist sicher ein wesentlicher Faktor und Anlass. Die Problematik scheint mir jedoch viel umfassender. Theologisch gesehen ist es das Wesen von Kirche, Menschen den Kontakt zum Gott ihres Lebens und des Lebens generell zu eröffnen und gestalten zu helfen. Und dann den Segen und die Kraft, den Trost und die Barmherzigkeit Gottes im eigenen Leben zu erfahren und die Zusammenhänge von Gottes Zuwendung und Unmittelbarkeit zu verstehen und weiterzutragen. All das wird von vielen Menschen nicht wahrgenommen, nicht erfahren, nicht verstanden, vielleicht auch seitens der Kirche vermisst. Sie scheint vielen ein „Verein zur Befriedigung religiöser Bedürfnisse“, die sie selbst nicht haben, oder eben anders haben.
Erfolgsrezept und Grenzen der Gemeindelogik
Die Sicht beruht nicht nur auf Missverständnissen, sondern hat seine wesentliche Ursache im binnenkirchlichen Erfolgsrezept der Kirche im letzten ½ Jahrhundert: Gemeinde zu sein, auf die Sammlung zu setzen, die eigene Qualität des Miteinander zu verbessern nach den Maßstäben derer, die da sind, nach den dafür passenden Strukturen zu suchen und diese mit den vorhandenen kritisch abzugleichen. Die andere Seite, dass es der Sinn der Sammlung ist, gemeinsam eine Sendung zu verfolgen, die im Dienst der Welt, der Kultur, aller Menschen steht und diese explizit zum Maßstab macht, tritt dabei in den Hintergrund.
Dennoch war die aktive Gemeinde für einige Jahrzehnte ein Erfolgskonzept. Diesem wird jedoch durch kulturelle Entwicklungen der Boden entzogen. Alle Vereine klagen über Mitgliederschwund. Das hat ganz unterschiedliche Ursachen. In dem Maß, als sich das alltägliche Leben ab dem Grundschulalter als immer dichter getaktet, stressiger und fordernder zeigt, sehen sich die Menschen nach unverplanter, terminfreier Freizeit. Diese soll zugleich entspannt und beglückend, ereignisreich und möglichst anforderungsfrei sein. Eine riesige Fülle an Freizeitangeboten bedient dieses Feld. Vereinsmitgliedschaften werden nur dort nötig, wo man auf ihre Strukturen angewiesen ist: Mannschaftssport und Leistungssport zählen dazu; Wandern und Radfahren kann man auch ohne Verein, glauben auch. So ist es auch ein Faktor der Geldeinsparung, aus der Kirche auszutreten, sobald man deren sakramentale Initiationsriten nicht mehr braucht. Das gesamte andere Angebot ist ja frei zugänglich und nicht mit einer Mitgliedschaft verbunden.
Mitgliedschaft und Identifikation
Zudem sind Mitgliedschaften unter diesen Voraussetzungen ein Zeichen der Identifikation: mit einem Fußballclub oder einer Vereinsidee zum Beispiel. Von daher eignet sich der Kirchenaustritt als passables Signal um zu zeigen: mit dieser Kirche kann und will ich mich nicht identifizieren.
Zudem: War es früher erklärungspflichtig, nicht der / einer Kirche anzugehören, so muss man sich gegenwärtig bei uns eher dafür rechtfertigen, warum man eigentlich noch dabei ist.
Da hat neben den Missbrauchsskandalen und ihrer gelinde gesagt ungeschickten Handhabung auch die Pandemie als Brandbeschleuniger gewirkt. Viele auch gläubige Menschen haben angesichts geschlossener Kirchen und Gemeinderäume entdeckt, dass ihnen eigentlich nichts fehlt, dass sie im Gegenteil viel freie Gestaltungszeit gewonnen haben, die sie neu nutzen konnten. Sie kehren nach der Öffnung nicht oder nur eingeschränkt zurück.
Was bleibt als Perspektive?
Zuerst einmal täte der Abschied vom Anspruch absoluter Mehrheiten als Normalfall gut: das gibt es in einer differenzierten postmodernen Kultur in keinem Bereich mehr. Und dann und vor allem: Gottesbeziehung für Menschen wieder als bedeutsam erschließen:
als eigene Berufung zu dem, was in meinen ganz individuellen Möglichkeiten liegt und diese so entwickelt, dass andere es zu schätzen wissen,
als Beistand und Trost, als Kraft und Herausforderung in allen Krisen, Schwierigkeiten und Höhepunkten des Lebens,
als Orientierungswissen, wie ein gutes Leben angesichts der Weltvision Gottes aussehen kann. Gerade daran wird die Theologie noch viel zu arbeiten haben.