„Mir ist klar, dass die Kirche ein weltweites ‚Unternehmen‘ ist, in dem Änderungen nur langsam herbeizuführen sind“, räumt Myriam Wijlens ein. „Trotzdem hoffe ich, mit Menschen sprechen und einige Augen für einen notwendigen Wandel öffnen zu können.“ Denn ändern muss sich vor allem eines, meint die Theologin: die Mentalität, mit der Kirche geleitet und Entscheidungen insbesondere auf Führungsebene getroffen werden. Wie kann ein solcher Wandel hin zu einer aufgeschlossenen Mentalität gelingen, die auch Laien mehr Gestaltungsspielräume einräumt? Wie ist das theologisch zu begründen und was muss sich dafür in der Ausgestaltung von Kirche und ihrer Gremien ändern? Dies sind die leitenden Fragen des Forschungsvorhabens.
Zu diesem Zweck laufen im Projekt zwei zentrale Fäden aus der bisherigen Forschung der Kirchenrechtlerin zusammen: Bereits seit 1998 ist Myriam Wijlens Mitglied im „Peter und Paul Seminar“. Seit 2004 leitet sie die Forschungsgruppe, die sich mit der Reform der katholischen Kirche auseinandersetzt. Aus kirchenrechtlicher sowie ökumenischer Perspektive reflektiert sie darüber, wie eine zunehmend dezentralisierte Weltkirche verantwortungsvolle Entscheidungen treffen kann, ohne dabei die Idee einer Einheit dieser Kirche zu gefährden. Darüber hinaus forscht die gebürtige Niederländerin seit den 1980er-Jahren zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche. Seit 2002 hat sie in etwa 100 kirchlichen Verfahren die sog. strafrechtliche Voruntersuchung im Auftrag von Bischöfen und Ordensoberen durchgeführt. Papst Franziskus hat sie 2018 in die päpstliche Kinderschutzkommission im Vatikan berufen. Durch ihre Arbeit ist Wijlens vertraut mit einer Vielzahl von Studien, die sich der Aufarbeitung sexueller Missbrauchsfälle angenommen haben. In Deutschland hatte zuletzt die sogenannte MHG-Studie für einen gesellschaftlichen Aufschrei gesorgt. „Doch egal ob diese Studien aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, den USA oder Irland kommen – sie alle haben gezeigt, dass in der römisch-katholischen Kirche ernsthafte systematische Probleme vorliegen, sowohl im Hinblick auf den Missbrauch selbst als auch auf dessen Aufarbeitung“, konstituiert die Theologin. „Wenn zum Beispiel entsprechende Vergehen eines Geistlichen bekannt waren und er es trotzdem schaffen konnte, die Karriereleiter bis zum Kardinal hinauf zu klettern – dann muss man sich ernsthaft fragen: Was läuft in den Ernennungsverfahren schief und was muss geändert werden?“
Wie genau dieses System funktioniert – und vor allem wie es zu ändern ist –, darüber forscht Wijlens nun in ihrem neuen Projekt. In „Transparency – Accountability – Responsibility: Reform of Church Structures and Practices“ soll ihre bisherige Forschung im Bereich Dezentralisierung der Kirche und Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs zusammenfließen, um darauf aufbauend über die titelgebenden Schlagworte des Projektes und ihrer Anwendungen auf die katholische Kirche nachzudenken: Transparenz, Rechenschaftspflicht und Verantwortung. Um diese Begriffe mit Leben zu füllen, verlässt Prof. Wijlens dabei bewusst theologische Gefilde und setzt die aktuelle Lage der Kirche mit der Expertise anderer Disziplinen in Bezug: „Wir werden z. B. mit Menschen aus dem Bereich Business und Management sprechen, um zu schauen, wie die umfassende Transformation einer Unternehmenskultur etwa in der Non-Profit Organisationen funktioniert und was wir daraus für die Kirche lernen können“, erklärt die Professorin. Ein wichtiger Gesprächspartner wird dabei etwa der „Leadership Round Table“ in Washington D.C. sein, eine Vereinigung katholischer Unternehmerinnen und Unternehmer zur Beratung der Kirche in Managementfragen. „Und auch die Psychologie ist eine wichtige Ressource für uns, wenn wir uns mit der Frage auseinandersetzen: Wie kann ein nachhaltiger Mentalitätswechsel gelingen und wie schaffen wir es, Verantwortlichen ‚eine neue Brille‘ aufzusetzen?“ Um mit Expertinnen sowie Kirchenvertretern zu sprechen, wird Myriam Wijlens – sofern die Covid-19-Pandemie es erlaubt – in den nächsten zwei Jahren viel reisen.
Um Zeit für die Forschung zu haben ist Prof. Wijlens für zwei Jahre von der Lehre freigestellt und es wird eine Vertretungsprofessur finanziert. Prof. Wijlens freut sich sehr, dass Dr. Mykola Marksteiner-Mishchenkodie Vertretung übernimmt. Er kommt aus der Ukraine, hat Kirchenrecht an dem von den Jesuiten geleiteten Päpstlichen Orientalischen Institut in Rom, welches mit der Gregoriana verbunden ist, studiert und dort auch promoviert. Er ist schon länger in Deutschland und arbeitet bereits seit dem Frühjahr 2019 am Lehrstuhl in Erfurt.