Auf der Videoplattform YouTube, die auch 2022 nach google.com die seit Jahren meistaufgerufene Internetseite der Welt ist [1], tummeln sich sehr viele Kanäle, die Religion, im recht weiten Sinne, zum Thema machen. Dazu gehören zunächst affirmativ-bestärkende Perspektiven auf Religion und Glauben, meist gespeist aus eigenen religiösen Erfahrungen. Diese sogenannten Christ- oder Islamfluencer:innen [2], die eine mehr oder weniger institutionelle Verankerung aufweisen, geben Einblicke in ihren Glauben und werben nicht selten für diesen, durchaus im missionarischen Sinne. [3] Andere Personen distribuieren möglichst wertfreie, sach- und fachkundliche Informationen über Religionen und religiöse Praxis im Sinne eines audiovisuellen Bildungsangebots, z.B. im Format des Erklärvideos. [4] Daneben existieren vereinzelt Kanäle, die sich vorwiegend kritisch-ablehnend Religion gegenüber äußern. [5] Ihre Reichweiten changieren insgesamt im niedrigen bis mittelhohen Bereich, manche erlangen einen größeren Bekanntheitsgrad, die allermeisten eher nicht.
Religion und die beliebtesten YouTuber:innen
Einen Starstatus erreichen hingegen die sogenannten Top-YouTuber:innen, also jene Influencer:innen, deren Kanäle die meisten Abonnements und höchsten Aufrufzahlen auf YouTube vorweisen können. In Deutschland gehören zu den bekanntesten und beliebtesten YouTuber:innen BibisBeautyPalace, rezo oder auch Gronkh, die besonders ein jüngeres Publikum, die 12- bis 19-Jährigen Schüler:innen, erreichen. [6] Diese Influencer:innen widmen sich hauptsächlich Themen wie Lifestyle, Beauty, Gaming, Musik oder der Jugend- und Popkultur insgesamt und erreichen mit ihren Videos regelmäßig, mitunter täglich, ein Millionenpublikum – und das mittlerweile nicht mehr nur auf YouTube. Religion ist auf den ersten Blick überhaupt kein Thema solcher Kanäle.
Ein eingehender Blick lohnt dennoch. Neben ihren eigentlichen Kernthemen gibt es deutsche Top-YouTuber:innen, die in ihren Videos tatsächlich auch über Religion sprechen. Aufgrund ihres hohen Bekanntheitsgrades erreichen diese Videos höchste Aufrufzahlen, vereinzelnd im zweistelligen Millionenbereich. Die Video-Auswertung von über 30 solcher einschlägigen Videos von Top-Influencer:innen im Rahmen eines laufenden Dissertationsprojekts kommt zu dem Ergebnis: [7] deutsche YouTuber:innen stehen Religion auffallend kritisch bis ablehnend gegenüber, affirmativ-positive Positionen finden sich gar nicht, fachkundliche immerhin in einem Kanal. Doch wie begründen die Influencer:innen, die Religion kritisch gegenüberstehen, ihre Meinung? Und überhaupt, was meinen sie eigentlich, wenn sie von Religion sprechen?
Ablehnung von Religion – Kritikpunkte und Themen
Zentrale Kritikpunkte über alle Videos hinweg sind in erster Linie religiöse Institutionen und Personen, insbesondere ihre Unglaubwürdigkeit und ihr dogmatisches Auftreten sowie Kritik an der Wahrheitsfähigkeit der Bibel. Individuelle Religiosität wird hingegen selten thematisiert. Die Themen und Gründe, die die YouTuber:innen im Kontext ihrer Videos nennen, sind mitunter sehr unterschiedlich. Sie nennen u.a. eine Theodizee-artige Ernüchterung [8]
„ich find das alles unlogisch ganz ehrlich wieso lässt er [Gott, M.G.] da die Leute verrecken teilweise“ [9],
die Forderung nach Abschaffung religiöser Institutionen aufgrund ihrer Unzeitmäßigkeit
„ich glaub dass die Institution Kirche fürn Arsch ist […] die aktiven Institutionen, die es halt derzeit gibt, die kannste alle abschaffen, meiner Meinung nach“ [10],
mögliche Ersparnisse, die ein Kirchenaustritt mit sich bringt
„Übrigens es ist total simpel aus der Kirche auszutreten wusstet ihr das? Das ist gar kein großer bürokratischer Aufwand. Und man spart sich danach so Zeug wie Kirchensteuer. die verdienen doch mit dem best-verkauften Fantasieroman der Welt eh schon genug oder?“ [11]
sowie auch eine dezidiert religionsdestruktive Haltung
„Viele sagen, die Bibel sei nicht wörtlich zu nehmen und steckt nur voller Symbolik und Metaphern. […] Die Wahrheit ist, die Bibel ist Schwachsinn. Aber die Kirche kann nicht zugeben, dass sie Schwachsinn ist, weil ja dann rauskommen würde, dass Religion Schwachsinn. […] [M]an kann sich alles so hinbiegen, wie man es gerne haben will, um der Wahrheit aus dem Weg zu gehen und den Leuten Dünnschiss zu verkaufen. Das liebe Freunde [zeigt auf die Bibel in seiner Hand, M.G.] ist Dünnschiss“ [12]
werden genannt bzw. gezeigt. Charakteristisch für diese Videos ist, dass die YouTuber:innen Religion als Thema nicht selbst initiieren. Sie verweisen stattdessen auf Anfragen seitens der Zuschauenden. Ein solches Mitwirken durch die Community dokumentiert einen für Influencer:innen typischen zirkulären Führer-Gefolgschafts-Mechanismus: Die Zuschauenden folgen den YouTuber:innen und die YouTuber:innen folgen den Anweisungen ihrer Zuschauenden. Wer führt hier eigentlich wen?
Dieses Phänomen zeigt sich auch beim beliebtesten Let´'s Player Gronkh in einem von mehreren Videos, in denen er Religion, en passant während er das Videospiel Minecraft spielt, thematisiert: „Ich wurde ja auch gebeten ob ich nicht mal wieder nen paar mehr Witze über Zeugen Jehovas und sowas machen kann“ [13]. Das mit dem Interesse der Zuschauenden eingeleitete Sprechen über religionsbezogene Themen, hier Witze über Zeugen Jehovas zu machen, geht im Video in eine Selbstpositionierung des YouTubers über, der Religion – hier gleichgesetzt mit Sekten, religiösen Institutionen und religiöser Sprache – kritisch-ablehnend gegenübersteht. Dabei formuliert er auch generalisierte Äußerungen, die in einem theologisch-philosophischen Diskurs eher als nicht-diskursiv zurückgewiesen werden würden: „Religion lässt ja wenig Platz für eigene Meinungen oder für eigene Überzeugungen“ (ab 00:13:26).
Solche verallgemeinernden, generalisierten Äußerungen finden sich in vielen Videos deutscher Top-YouTuber:innen. Folglich bestimmt nicht der argumentative, womöglich herrschaftsfreie Diskurs das Sprechen über Religion, sondern der Modus der Meinungsfreiheit, der hier nicht zwingend diskursiv gedacht wird. Im Zentrum steht vielmehr die Erklärung der eigenen Meinung, die Stammtisch ähnliche Züge annehmen kann. Das passt auch zum früheren Motto YouTubes Broadcast Yourself – die zentralen Akteur:innen, die YouTuber:innen, ihr Denken und ihr Handeln, stehen im Vordergrund. In solchen Reden fügen sich dann auch die Kritik am finanziellen Reichtum von Kirchen, Hexenverbrennungen „oder wie auch so ne Kirche einfach mal mit Adolf Hitler zusammenarbeitet; jawohl das sind alles Dinge die geschehen sind“ (ab 00:11:54) zu einem in sich geschlossenen, fließenden Monolog zusammen.
YouTube und Theologie
Für die Theologie sind solche kritischen Ablehnungen aufschlussreich, denn sie geben Auskunft über Wissenstatbestände und Haltungen zu Religion auf einer der reichweitenstärksten Plattformen. Die Videos der YouTuber:innen sind eigenständige Kommunikate, die zeitversetzt und auch über Jahre hinweg rezipiert werden und auch außerhalb YouTubes rezipiert werden. Hierzu sei nur an die Diskussion um das Video „Die Zerstörung der CDU“ [14] des YouTubers rezo erinnert. Die dort zu sehenden Bewegtbilder greifen Inhalte aus verschiedenen Teildiskursen auf, sowohl aus analogen wie aus digitalen, überschreiten damit die Grenzen des digitalen Raumes. Eine analytische Trennung in digitale und analoge Welt ist dann zwar möglich, wirkt jedoch allzu theoretisch; beide Welten sind zunehmend Teile eines gemeinsamen Diskursraums, ineinander verwoben und sich gegenseitig bedingend. Viera Pirker und Klara Pišonić drücken diese Entwicklung wie folgt aus: „In einer postdigitalen Welt können online und offline kaum mehr auseinandergehalten werden.“ [15]
Neben dem Hauptmodus, der kritisch-ablehnenden Haltung Religion gegenüber, sind in einigen Videos auch Differenzierungen wahrzunehmen. Dies betrifft etwa das gemeinsame Video von rezo und Julia Beautx, die zunächst vorwiegend pauschal-negative Aussagen über den Religionsunterricht machen, dann aber Jesus als religiöse Figur mit allein positiven Attributen versehen, etwa dass er Flüchtlinge aufnehmen würde. [16] Oder auch bei Gronkh, der von positiven Erfahrungen mit seinem Religionslehrer berichtet: „also unser Religionslehrer war Pastor mit dem hab ich mich super verstanden; das war einer der interessantesten Menschen so von den Gespräch her die ich so kennenlernen durfte war wirklich extrem gut“ (ab 00:11:16). Daneben wird Religion auch beispielsweise in Quizformaten thematisiert, ohne dass hier eine Selbstpositionierung vonnöten ist. Und auch das nicht-Thematisieren von Religion ist aufschlussreich, etwa wenn BibisBeautyPalace, die römisch-katholisch ist und nach ihrer Religion gefragt wird, einzig den Kommentar abgibt „unwichtig“ [17].
Auch wenn Religion durch die Top-Influencer:innen vor allem negativ-kritisch abgelehnt wird, besteht weitestgehend ein gewisses Interesse an Religion: ob der Glaube an den Himmel eines aus der katholischen Kirche ausgetretenen Akteurs des YouTuber-Kollektivs PietSmiet, der an Diskursen mit religiösen Menschen interessierte Gronkh, rezo als Kind eines Pfarrers und einer Pfarrerin mit positivem Jesusbild oder LeFloid und seine in Videos dokumentierte Suche nach dem Kern von Religion. Sie stehen, bei aller Kritik an Religion – meist an ihrer institutionalisierten Form – Religiosität, Glaube und Gott zunächst offen bzw. gesprächsbereit gegenüber.
Das unterscheidet sie deutlich von jenen religionskritischen Positionen im gesellschaftlichen Diskurs, für die Religion nur eine nützliche, aber fehlgeleitete Hirnfunktion darstellt, die es zu überwinden gilt. Eine aggressive Religionskritik mit naturalistischen Zügen und laizistischen Forderungen ist auf YouTube eher selten.
Welche Bedeutung diese und weitere Erkenntnisse über Influencer:innen und ihre Videos für die Theologie haben und was Theologie von und über diese Videos lernen kann, das ist ein noch zu füllendes Desiderat, dessen Bearbeitung mittlerweile aber voranschreitet. [18]
Markus Globisch ist seit 2021 Doktorand an der Katholisch-Theologischen Fakultät.
[1] Vgl. Semrush.com (2022): Most Visited Websites by Traffic in the world for all categories, December 2022 [https://www.semrush.com/website/top/] <24.01.2023>. Dies gilt auch für Deutschland, siehe dafür Sereda, Evgeni (2022): Die meistbesuchten und meistaufgerufenen Websites in Deutschland – TOP 100 in 2021 und 2022 (Website Ranking) [https://de.semrush.com/blog/top-der-meistbesuchten-webseiten/] <24.01.2023>.
[2] Siehe zu den Christfluencer:innen die Studien von Krain, Rebekka/Mößle, Laura (2020): Christliches Influencing auf YouTube als ‚doing emotion‘. In: ÖRF 28, 1, 161–178 und Kühn, Jonathan/Simojoki, Henrik (2021): Kommunikation des Evangeliums und Populäre Religion. Annäherung an ein Spannungsverhältnis am Beispiel des YouTube-Kanals „Jana glaubt“, in: Zeitschrift für Religion, Geschichte und Politik 5, 195–220.
[3] Dies gilt selbstverständlich auch für Influencer:innen aus anderen Religionen.
[4] Zu den bekanntesten gehört MrWissen2Go, vgl. zu den Erklärvideos solcher YouTuber:innen Käbisch, David/Lindner, Konstantin (2022): Kirchengeschichtsdidaktik ‚up to date‘. Grundlegungen und Perspektiven am Beispiel von MrWissen2go, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 74, 3, 326–340 und Zimmermann, Mirjam/Schlegel, Frank (2022): Erklärvideo. In: WiReLex [https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/201009/] <24.01.2023>.
[5] Vgl. zu nicht-religiösen Influencer:innen im arabischen Sprachraum Elsässer, Sebastian (2021): Arab Non-believers and Freethinkers on YouTube: Re-Negotiating Intellectual and Social Boundaries, in: Religions 12, 106, [https://doi.org/10.3390/rel12020106] <24.01.2023>.
[6] Vgl. hierzu die JIM-Studien 2015–2022 [https://www.mpfs.de/studien/] <24.01.2023>.
[7] Ein Abstract zum Dissertationsprojekt findet sich hier: https://www.kaththeol.uni-halle.de/arbeitsbereiche/religionspaedagogik/schwillus/forschung/religionskritik/.
[8] Die folgenden Textausschnitten entsprechen nicht der deutschen Rechtschreibung, sondern folgen den Transkriptionsregeln Talk in Qualitativ Research (TiQ).
[9] Frag PietSmiet (2014): Wie religiös seid ihr? [https://www.youtube.com/watch?v=jcJhB-pflxs] <24.01.2023>, ab 00:01:03.
[10] Ebd., ab 00:03:30.
[11] LeFloid (2018): Wenn sich wahnsinnige YouTuber verprügeln lassen wollen... & die Kirche einfach widerlich ist... [https://www.youtube.com/watch?v=bQgOG8fUfv8] <24.01.2023>, ab 00:05:42.
[12] Meinungsblog (2018): JuliensBlog Bibelkunde komplett [https://www.youtube.com/watch?v=VJNf7pOrFfE] <20.01.2023>, ab 00:09:45.
[13] Gronkh (2011): Let's Play Minecraft #458 [Deutsch] [HD] - Von Sekten, Göttern, Religionen [https://www.youtube.com/watch?v=7Hi_jmcHKVU] <24.01.2023>, 00:02:35.
[14] Rezo ja lol ey (2019): Die Zerstörung der CDU [https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ] <24.01.2023>.
[15] Pirker, Viera/Pišonić, Klara (2022): Virtuelle Realität zwischen Transzendenz und Transzendierungen – zur Einleitung, in: Dieselben (Hg.): Virtuelle Realität und Transzendenz. Theologische und didaktische Erkundungen, Freiburg i. Br., 7–15, hier: 9, Hervorhebungen i.O.
[16] Vgl. dazu die im Video zu sehende Tafel zu den 10 Geboten und dem Anschrieb „Jesus würde Flüchtlingen helfen“ und „Jesus würde Seehofer wrack finden“ in rezo (2018): Wenn SCHULFÄCHER Rapper wären | mit Julia Beautx [https://www.youtube.com/watch?v=hv31vOJzpps] <24.01.2023>, ab 00:02:55.
[17] BibisBeautyPalace (2013): Nur 1 Wort TAG [https://youtu.be/WGexirSgWLY] <24.01.2023>, ab 00:04:28.
[18] Für diese Bearbeitung ist zwingend auch der plattformübergreifende Blick nötig. Das „Frankfurter Fachgespräch: Religion auf Instagram“ vom 03.02.2023 widmet sich insbesondere Religion auf Instagram, die gesamte Tagung ist unter https://youtu.be/K3EQu0fDEsc zu finden.