Bild: Pixabay/isabellaquintana
Frauen berichten, wie sie bei Konzerten von Casting Directors gezielt rekrutiert werden. Die Zielgruppe ist Anfang 20. Allerdings überprüft das niemand. Gesucht werden Mädchen, die sich als „ergebene Fans“ zeigen. Bekunden sie Interesse am Treffen mit dem Frontsänger, bekommen sie einen Dresscode zugeschickt. Vor dem Konzert werden sie hinter die Bühne in einen Raum geführt. Dort wählt sich der Sänger eine der Frauen aus. Die Erwählte soll sich bereithalten und zu einem bestimmten Zeitpunkt im Konzert alleine in einen abgesonderten Raum unter die Bühne kommen. Nach dem Konzert wird Ähnliches geschildert. Securities eskortieren weibliche Fans im Eilschritt in einen streng gesicherten, abgeschotteten Bereich. Dort werden ihnen die Handys abgenommen. Wenn die Frauen Bedenken äußern, beschwichtigen Securities und Casting Directors, alles sei völlig normal und in Ordnung. In diesem Raum werden ihnen Alkohol und Drogen verabreicht – bis schließlich der Star erscheint. Die Frauen erzählen, wie sie irgendwann mit Verletzungen im Intimbereich aufwachen, ohne sich an etwas erinnern zu können.
Diese Berichte finden sich aktuell überall in den Medien. Schockierend aufschlussreich und beschämend ist die sich darum drehende Debatte.
Wieder greifen die klassischen Mechanismen der Täter-Opfer-Umkehr: die Glaubwürdigkeit der Frauen wird untergraben. Es wird von typischen „Groupies“ gesprochen und beteuert, „die“ hätten doch genau gewusst, worauf sie sich da einlassen, wenn sie derart gekleidet hinter die Bühne gehen. Außerdem nutzen die Musiker im Namen ihrer künstlerischen Freiheit ohnedies Kontroversen wie Vergewaltigungsfantasien mit bewusstlosen Frauen und faschistoide Sprachspielchen um dick Asche zu machen. Wieso also jetzt dieser Aufschrei und die Verwunderung?
Die Influencerin Kayla Shyx, die selbst betroffen ist, bringt es in ihrer vielbeachteten Stellungnahme auf den Punkt:
„Es ist ganz wichtig zu realisieren, dass das alles ein Macht-Ding ist. Er [der Frontsänger] könnte sich für diesen ganzen Akt auch Escortdamen nehmen, Prostituierte nehmen, aber es geht dabei um Macht und es ist genau die Crux an der ganzen Sache, dass den Mädchen nicht gesagt wird, wofür es [die Einladung backstage] ist, und dass Druck ausgeübt wird und sie es dann doch machen, genau darum geht’s. Wenn ihr euch jetzt denkt, aber die Mädchen machen das doch mit… es ist genau das Ding, warum er Fangirls, die ihn idolisieren und ihn natürlich so auf das Podest stellen und sich denken… dass er die aussucht, hat alles mit Macht zu tun, dass er dann diesen Druck und diese Position als Gott für die ausnutzt und Sex mit ihnen hat.“ [1]
In den Berichten der betroffenen Frauen wird immer wieder der Faktor „Raum“ betont. Der physische Raum hinter oder unter der Bühne ist nicht nur die Kulisse, sondern auch die psychologische Grundbedingung für sexualisierte Macht und Gewalt. Der Raum ist abgeschottet, gesichert und schafft Angst. Dort gelten andere Gesetze. Das soll die durchdachte Inszenierung zumindest suggerieren. Räume der Angst sollen den Willen der Betroffenen brechen. An diesem eigens geschaffenen Ort der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins werden Freiheitsrecht und Menschenwürde gezielt außen vorgelassen, um Macht im Übermaß auszuüben.
Solche Räume der Angst gibt es nicht nur auf Konzerten, bei denen 300.000 Menschen Vergewaltigungsfantasien mit bewusstlosen Frauen grölen. Nein, es gibt sie überall, meist bleiben sie ungesehen und übersehen. Räume der Einschüchterung und Unterdrückung von Frauen gibt es viele, und oft ist es kaum möglich ihnen als Frau auszuweichen.
Sie sind alltäglich im doppelten Sinn. Das betrifft auf massive Weise Frauen, die häusliche Gewalt erleiden. Wie schnell vergessen wir, dass erst vor 26 Jahren, am 15. Mai 1997 nach einer heftigen Debatte Vergewaltigung in der Ehe verboten wurde. Auch hier zeugen unzählige Berichte davon, wie der private Raum, der vor Öffentlichkeit schützt, zur Grundbedingung für sexualisierte Macht und Gewalt gegen Frauen wird. Diese Woche wurden die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage veröffentlicht, bei der jeder Dritte der deutschen Männer (18 - 35 Jahre) es „eher“ oder „voll okay“ finden würde, Gewalt gegen seine Partnerin anzuwenden. [2] Zwar mag die Durchführung der Studie aufgrund der impliziten Milieufokussierung in Frage gestellt werden, dennoch passen die drastischen Ergebnisse zur beschämenden Wirklichkeit in unserem Land: In Deutschland stirbt im Durchschnitt jeden dritten Tag eine Frau, weil sie von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet wird. [3]
Unzählige Beobachtungen zu Topologien sexualisierter Macht und Gewalt gegen Frauen zeigen, wie vielfältig und perfide Angst räumlich vermittelt wird, um in diesen bewusst geschaffenen Räumen uneingeschränkt Macht auszuüben. Was diese Forschungsarbeiten verbindet, ist die Einsicht, wie fragil vermeintlich sichere Räume für Frauen bleiben.
Wie schnell kann ein harmloser und neutraler Raum zu einem Raum der Angst werden, der sexualisierte Macht und Gewalt zulässt?
Die U-Bahn, der Arbeitsplatz, der Nachhauseweg, die Parkbank, das Freibad, der Hörsaal, etc. Vielleicht sind es nicht die Kleidungsstücke, die Frauen zu Opfern machen… [4]
Raumtheoretische Untersuchungen verdeutlichen, dass Räume Gefüge sind, die Kohärenz und Homogenität bedürfen – das trifft auch auf Räume der Angst zu. Die Stabilität sozialer Räume lebt von der Zustimmung bzw. Ignoranz der Zuschauer:innen. Schon wenige Akteur:innen können Raumkonstellationen massiv irritieren, wenn sie z.B. innerhalb dieser Räume durch Sprechen und Handeln Zonen des Widerstands schaffen und damit eine neue Sprachfähigkeit für alle Beteiligten eröffnen. So liegt es an jenen, die nicht betroffen sind, überall und immer einzugreifen und aufzuschreien und das Gefüge aufzubrechen, wo Raumstrukturen der Angst auftreten – und nicht zuzuschauen oder im schlimmsten Fall sogar wegzuschauen. Auch wenn das bedeutet, dass Sie sich Ihren lieben Herrn Nachbarn zum Feind machen, weil Sie nicht mehr weghören, wenn er sie schlägt.
[1] ¹ Was wirklich bei Rammstein Afterpartys passiert, 2023, [YouTube] https://www.youtube.com/watch?v=9YLsMXyo3Uc, 22:46-23:30.
[2] https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-06/umfrage-frauen-maenner-gewalt-homosexualitaet-plan-international-deutschland
[3] https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/femizide-101.html
[4] https://www.prosieben.de/serien/joko-klaas-gegen-prosieben/videos/maennerwelten-joko-klaas-15-minuten
Thomas Sojer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Philosophie.