von Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer
Was sich derzeit im Osten Europas ereignet, schockiert nicht nur wegen Tod und Leid so vieler Menschen. Es schockiert und macht sprachlos, weil es mit der Hinfälligkeit völkerrechtlicher Vereinbarungen konfrontiert und die Frage aufwirft, ob im Zusammenleben der Völker nicht Stärke und Überlegenheit das einzig gültige Prinzip sind, an dem sich entscheidet, was Recht und was Unrecht ist. Diese Erfahrung ist nicht neu und wurde bereits in der Antike diskutiert und theoretisch reflektiert.
Ein Blick zurück in die Geschichte …
Im Winter 416/415 v. Chr. müssen sich die Bewohner der kleinen Kykladen-Insel Melos dem übermächtigen Athen und seinen Verbündeten ergeben, nachdem sie einige Monate in der eingeschlossenen Stadt standgehalten hatten. Die Athener lassen alle erwachsenen Männer töten. Die Frauen und Kinder werden in die Sklaverei verkauft. Dem kleinen Gemeinwesen der Melier war zum Verhängnis geworden, dass sie glaubten, sich der Unterwerfung unter die Hegemonie Athens im attisch-delischen Seebund entziehen zu können. Selbst ein neutrales Melos sah die Seemacht Athen in seinem Kampf gegen Sparta als eine potenzielle Gefahr für die eigene Vorherrschaft in der Ägäis, da ein neutraler Hafen von feindlichen Schiffen genutzt werden und zum Stützpunkt für das Eindringen von Feinden in den athenischen Herrschaftsraum werden konnte.
Das kleine Melos und sein Schicksal sind nicht vergessen, sondern bleibend in die kulturelle Erinnerung der westlichen Welt eingegangen, weil der athenische Politiker und Historiker Thukydides (vor 454 v. Chr. – 399/396 v. Chr.) das Ende des Gemeinwesens der Melier in sein voluminöses Geschichtswerk über den Peloponnesischen Krieg aufgenommen und ihm so ein dauerhaftes Denkmal gesetzt hat (5,84–116). Die Eroberung von Melos durch Athen ist eine der berühmtesten Episoden dieses Geschichtswerkes, weil Thukydides das für den Verlauf und Ausgang des Peloponnesischen Krieges an sich nebensächliche Geschehen zum dramatischen Lehrstück über das Recht des Stärkeren in Politik und Diplomatie ausgestaltet hat. Das tragische Ende der Stadt wird dabei nur knapp berichtet (5,116). Der Hauptteil ist der sogenannte „Melierdialog“, eine von Thukydides selbst formulierte Verhandlung zwischen den Gesandten Athens und den Amtsträgern und Ratsherren der Stadt Melos (5,85–113).
Wer schwach ist, hat kein Recht …?
Es ist nicht zufällig, dass die Athener als die Stärkeren das erste und letzte Wort in der Debatte erhalten und sie so 14mal das Wort ergreifen, während die Melier als die Schwächeren im Dialog mit ihrer Position nur 13mal zu Wort kommen. Athen beharrt auf der Ausdehnung seiner Herrschaft auf Melos und seine Gesandten lassen den Meliern die Wahl zwischen freiwilliger Unterwerfung und gewaltsamer Eroberung. Die Melier versuchen verzweifelt, sich mit Argumenten der Unterwerfung unter die Hegemonie Athens zu erwehren und ihre Freiheit zu retten. Die Athener eröffnen das Gespräch mit der Feststellung, dass man sie vor die Amtsträger und Ratsherren der Melier geführt habe, weil man offenbar fürchte, sie könnten mit ihren Worten die Volksversammlung der Melier allzu leicht überzeugen und für eine Unterwerfung gewinnen.
Die Athener leiten aus dem Faktum ihrer militärischen Überlegenheit und Stärke das Recht ab, ihren Einflussbereich auf die Stadt und Insel der Melier auszuweiten. Die Melier, die sich ihrer ausweglosen und unterlegenen Position sehr wohl bewusst sind, halten dagegen und benennen Gründe, warum es für die Athener vielleicht besser und klüger sein könnte, sie unbehelligt zu lassen und ihre Neutralität im Krieg zwischen Athen und Sparta zu akzeptieren.
Die Melier müssen sich von den Athenern jedoch sagen lassen, dass Gleichheit der Kräfte die notwendige Voraussetzung dafür ist, dass unter Menschen das Recht zur Geltung komme. Wo keine Gleichheit der Kräfte gegeben ist, müssen sich die Schwachen dem Willen des Starken fügen, da ihnen ohnehin keine andere Möglichkeit bleibe.
Eine freiwillige Unterwerfung sei für die Melier und Athener jedoch gleichermaßen von Nutzen und vorzuziehen, weil die Melier dann geschont werden und die Athener sie nicht mit militärischer Gewalt vernichten müssen, um ihren Feinden wie auch ihren Freunden und neutralen Staaten keine Schwäche zu zeigen. Angesicht der eigenen Schwäche, sei freiwillige Unterwerfung für die Melier ohnehin ein Zeichen und Gebot von Klugheit.
Die Melier halten dagegen, dass ihre Freiheit auch für Athen von Vorteil und Nutzen sein könne. Sie erinnern die Athener an die Vergänglichkeit ihre Stärke und Macht und verweisen darauf, dass eine Unterwerfung und Vernichtung der Melier die noch neutralen Städte in Angst versetzen und zu einem Bündnis mit den Feinden der Athener verleiten könnte. In der Absicht, die eigene Macht auszudehnen, würden die Athener somit die eigenen Feinde stärken und die eigene Macht und Vorherrschaft gefährden.
Das Argument der Melier, dass im Krieg die Kräfteverhältnisse sich anders darstellen könnten als zuvor vermutet, weisen die Athener als leere Hoffnung und Selbsttäuschung zurück. Solche Hoffnung führe nur ins Verderben. Es sei besser, sich zu retten, solange dies noch möglich ist. Dann müsse man am Ende nicht vergeblich auf göttliches Eingreifen hoffen. In der Hoffnung auf die Götter nämlich täuschen sich die Melier; denn die menschliche Vorstellung von den Göttern (wie sie sich in den Mythen der Griechen zeige) bestätige das Gesetz, dass herrsche, wer die Macht dazu hat.
Das von den Meliern vorgebrachte Vertrauen auf Sparta, dem sie durch gemeinsame Abstammung verbunden sind, weisen die Athener damit zurück, dass auch Sparta die Anschauung teile, dass das Angenehme schön, d.h. moralisch gut, und das Nützliche gerecht ist. Deshalb sollten die Melier nicht darauf setzen, Sparta könne ihnen zu Hilfe kommen, um den eigenen Bundesgenossen nicht unverlässlich und treulos zu erscheinen. Sparta würde den Meliern auf ihrer Insel nicht zu Hilfe kommen, da es um die militärische Überlegenheit Athens auf dem Meer wisse.
Die Tragik des Schwachen …
Die Gesandten Athens erklären den Amtsträgern und Ratsherren der Melier schließlich, es sei nichts vorgebracht worden, was ihre Absicht ändern könne. Die Melier sollten sich deshalb der Macht Athens unterwerfen und Tribut entrichten. So könnten sie unbehelligt und im Genuss ihres Besitzes bleiben. Scham und Ehre zum Prinzip des Handelns zu machen und sich deshalb Athen zu widersetzen, ignoriere die Realität und sei Ausdruck von Verblendung und Unverstand.
Die Melier jedoch erklären, dass sie ihre über 700 Jahr bestehende Freiheit, d.h. die Selbstbestimmung über die inneren und äußeren Angelegenheiten ihres Gemeinwesens, nicht aufgeben wollen. Sie setzen ihr Vertrauen auf die Hilfe Spartas und die Gunst der Götter, die sie auch bisher geschützt und erhalten hätten. Ihr Angebot, Freundschaft und Neutralität in einem Vertrag zu vereinbaren, ignorieren die Athener. Dies entspricht konsequent der zu Beginn von den Athenern formulierten Position, dass das es rechtliche Vereinbarungen nur in der Beziehung zwischen Gleichstarken geben könne; sonst habe der Schwächere sich dem Stärkeren zu fügen.
Ist es für den Schwachen nicht klüger, sich freiwillig zu unterwerfen?
Das Vorgehen der Athener gegen Melos und seine Bewohner wurde offenbar bereits in der Antike als ungewöhnlich hart und grausam empfunden. Der große attische Redner Isokrates (436–338 v. Chr.) fühlte sich zu einer Verteidigung Athens für das grausame Vorgehen gegen die Melier herausgefordert (or. IV. 100–110; XII. 62–65). Auch der aus Athen stammende Historiker Xenophon (ca. 430–355/354 v.Chr.) schreibt, dass noch am Ende des Peloponnesischen Krieges die Athener bei einem Sieg der Spartaner Vergeltung für ihr Vorgehen gegen Melos fürchteten (Hell. II. 2,3).
Durch die Schilderung und Ausgestaltung des Thukydides ist die Episode als bleibendes Beispiel für den Zynismus der Macht in die Geschichtsschreibung und Rechtsphilosophie eingegangen. Thukydides selbst verzichtet in seiner Darstellung auf jede explizite Wertung und zwingt so bis heute seine Leser:innen, sich selbst mit dem Geschehen und den Argumenten der Melier und Athener auseinanderzusetzen und sich selbst ein Urteil zu bilden. In gewisser Weise resultiert daraus auch die Aporie, vor die der „Melierdialog“ seine Leser:innen stellt. Die Argumentation der Athener ist nämlich nicht anders als die der Melier von Rationalität bestimmt und kreist um die Frage, was für beide Seiten gleichermaßen von Vorteil und Nutzen und damit vernünftig ist.
Die einleitende These der Athener, dass es Recht als Grundlage der wechselseitigen Beziehung nur zwischen gleichstarken Partnern geben kann, verstößt nicht per se gegen das Prinzip von Vernunft und Rationalität. Die Athener vertreten damit die bereits in der antiken Philosophie formulierte Position, dass Recht und Gesetz menschliche Konventionen sind und es von Natur aus dem Stärkeren zustehe, sich durchzusetzen. Exemplarisch lässt der athenische Philosoph Platon (428/427–348/347 v. Chr.) in seinem Dialog Gorgias den athenischen Sophisten und Politiker Kallikles (Ende 5. Jh. v. Chr.) diese Sicht vertreten. Gegen Kallikles und das Recht des Stärkeren lässt Platon im selben Dialog seinen Sokrates (469–399 v. Chr.) ganz ähnlich argumentieren wie Thukydides die Melier gegen die Athener.
Ist es für den Starken nicht klüger, sich dem Recht zu unterwerfen?
Für die Leser:innen des Thukydides in Athen dürfte das Beharren auf die Freiheit und Selbstbestimmung des eigenen Gemeinwesens und die Weigerung, sich um des Überlebens willen dem Stärkeren zu unterwerfen, eine historische Erinnerung aufgerufen haben, durch die sich die Wahrnehmung und Wertung der Argumentationen der Melier und der Athener veränderte. In den nicht lange zurückliegenden Perserkriegen (ca. 500–479 v. Chr.) waren die Athener und die anderen Griechen die Schwachen, die sich um ihrer Freiheit willen, dem mächtigen und weit überlegenen Perserreich entgegenstellten und die Unterwerfung ohne Rücksicht auf Konsequenzen verweigerten. Mit Blick auf diese Vergangenheit rücken bei der Lektüre des „Melierdialogs“ die Athener in die Position der Perser und die Melier in die Position der Athener und Griechen. Die Melier erinnern bei Thukydides die Athener folglich wohl nicht zufällig daran, dass ein Krieg entgegen aller Erwartung verlaufen und der vermeintlich Schwächere sich als gleichstark und -mächtig erweisen kann. Eben diese Erfahrung mussten die Perser im Kampf gegen Athen und die Griechen machen. Die Perser mussten erleben, was die Melier bei Thukydides den Gesandten der Athener zu bedenken geben. Die vermeintlich Schwachen können sich gegen den starken und weit überlegenen Aggressor verbünden und so gemeinsam zu einem ebenbürtigen oder überlegenen Gegner werden.
Damit kommt in den Blick, dass die Stärke, auf die die Athener pochen und in der sie ihre Forderungen an die Melier begründen, stets gefährdet und hinfällig ist. Thukydides thematisiert das ausdrücklich, indem er die Melier zu den Gesandten der Athener sagen lässt, dass auch die Stärke Athens einmal zu Ende gehen kann und die Athener als Schwache dann nicht nur entsprechend ihren eigenen Prinzipien als Schwache behandelt werden, sondern für ihr Vorgehen als Starke zusätzlich harte Strafe und Vergeltung fürchten müssen. Die Unbeständigkeit und Vergänglichkeit von Macht und Herrschaft hatte im Blick auf die menschlichen Gemeinwesen bereits der griechische Historiker Herodot (490/480 – um 430/420 v. Chr.) aus Halikarnassos in seinem Geschichtswerk thematisiert. Pointiert erinnert er seine Leser:innen daran, dass selbst große Städte und Staaten vergehen, unbedeutende und kleine aber erstarken können.
Eine Frage, die der „Melierdialog“ bei den Leser:innen des Thukydides aufwirft, ist damit auch, ob es im Zueinander der Staaten, aber auch zwischen einzelnen Menschen oder Gruppen, wirklich klug und vernünftig ist, auf das Recht des Stärkeren zu pochen und seine Interessen rücksichtslos durchzusetzen.
Wer das Recht des Stärkeren als Grundlage für Beziehungen unter ungleichen Partnern postuliert und erklärt, dass rechtlich bindende Vereinbarungen nur dazu dienen, die Beziehungen zwischen Gleichstarken zu regeln – wer dies aus der Position der eigenen Stärke als Maxime einfordert, um seine eigenen Interessen durchzusetzen, muss sich bewusst sein, dass diese Maxime auch dann gilt, wenn die Verhältnisse sich ändern und ein anderer sich als stärker und überlegen erweist.
Damit stellt der „Melierdialog“ seine Leser:innen von der Antike bis heute vor die Frage, ob es letztlich nicht doch für den Stärkeren klug und von Vorteil sein kann zu akzeptieren, dass die eigene Überlegenheit und die eigenen Interessen durch rechtliche Regelungen zugunsten der Schwächeren begrenzt werden. Athen musste am Ende des Peloponnesischen Krieges erleben, was ihnen die Melier bei Thukydides als Möglichkeit vor Augen führen. Athen, das im attisch-delischen Seebund selbst gegenüber den eigenen Bundesgenossen immer wieder als rücksichtlose Hegemonialmacht agierte und in Konflikten mit konkurrierenden Städten und Staaten auf die eigene militärische Stärke vertraute, unterlag 405 v.Chr. bei Aigospotamoi dem konkurrierenden Sparta, und 405 v.Chr. zogen die siegreichen Spartaner in Athen ein. Die Stadt Athen musste ihre berühmten Befestigungsanlagen schleifen und wurde Mitglied im von Sparta dominierten Peloponnesischen Bund.
Mehr als Vergangenheit und Geschichte …
Wer in Schule oder Studium noch den „Melierdialog“ des Thukydides gelesen hat, mag sich bei den Ereignissen in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022, aber auch im Blick zurück auf die Ereignisse der vorausgehenden Wochen, spontan an diesen Text des klassischen Bildungskanons und an das Geschick des kleinen Melos erinnert haben. Wer den Peloponnesischen Krieg des Historikers Thukydides zur Hand nimmt und dort den „Melierdialog“ aufschlägt, kann sich unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse nur schwer des Eindrucks erwehren, als würde sich heute in der Ukraine das Geschick des kleinen Melos wiederholen … nicht zum ersten Mal und gewiss nicht zum letzten Mal in der Geschichte.
Die Regierung eines Staates verfolgt imperialistische und hegemoniale Ziele und sieht sich und seine Einflusssphäre in Konkurrenz zu einer anderen Großmacht und ihrem Einflussbereich bedroht. Ein kleinerer, in militärischer und ökonomischer Hinsicht unterlegener Staat gerät aufgrund seiner Lage im Schnittfeld der Interessensgebiete in eine Situation, in der seine Eigenständigkeit, Selbstbestimmung oder sogar Existenz auf dem Spiel steht. Der kleinere Staat steht vor der Frage, ob und wie Neutralität oder Bündnispolitik seine Freiheit und seinen Bestand garantieren können. Zur Durchsetzung eigener imperialer und hegemonialer Interessen suspendiert eine Regierung im Vertrauen auf die eigene militärische Stärke das in Verträgen fixierte Völkerrecht als verpflichtende Regelungen der Beziehungen unter den Staaten und missachtet die territoriale Integrität eines benachbarten Landes und das Selbstbestimmungsrecht seiner Bewohner. Alles scheint auf die Frage hinauszulaufen, wer sich am Ende wie als der Stärkere behaupten kann. Recht scheint sich im Zusammenleben der Völker nur mit Hilfe von Stärke etablieren und durchsetzen zu lassen.
Das kleine Melos hat einige Monate aus eigener Kraft der Belagerung des übermächtigen Aggressors und seiner Bundesgenossen widerstanden, obwohl ihm niemand zu Hilfe kam, und es gelangen ihm sogar immer wieder kleinere Erfolge gegen das überlegene Athen. Als Athen schließlich weitere Truppen nach Melos beordert und mit noch größerer Härte gegen die Stadt vorgeht, bleibt den Meliern jedoch nichts anderes mehr, als aufzugeben. Damit ist der Untergang ihres Gemeinwesens besiegelt. Bei der Vernichtung von Melos ist Athen unangefochten am Höhepunkt seiner Macht. Im Werk des Thukydides markiert der „Melierdialog“ jedoch den Wendepunkt; denn kurz danach setzt mit der sizilischen Expedition der Niedergang der Macht Athens ein. 10 Jahre später ist Athen von Sparta besiegt und wird nie wieder die alte Größe und Stärke erlangen.
Auch kein göttlicher Beistand für die Schwachen …
Mit dem „Melierdialog“ gibt Thukydides auch eine nüchterne Antwort auf die Frage, ob es eventuell eine übergeordnete, höhere Instanz gebe, in der eine Ordnung begründet sein könne, die dem Recht des Stärkeren Grenzen setzt und dem Recht des Schwächeren Geltung verschafft. Thukydides lässt die Melier formulieren, dass sie sich gottesfürchtig ungerechten Angreifern entgegenstellen und deshalb auf göttlichen Beistand gegen die Athener bauen. Damit vertreten sie die Position, dass die Götter und das Recht verbunden sind und dass Götter und Recht auf ihrer Seite stehen. Die Götter erscheinen in den Worten der Melier als eine Instanz, die auf der Seite der Schwachen steht und gegen die Starken für ihr Recht eintritt. Dem stellen bei Thukydides die Athener eine Instanz gegenüber, die gleichermaßen über Göttern und Menschen steht. Der Zwang der Natur nämlich veranlasse ganz sicher den Menschen und wahrscheinlich auch die Gottheit, sich dort durchzusetzen, wo man es kraft Macht und Stärke vermag. Das oberste Prinzip und ewig gültige Gesetz, das der natürlichen Ordnung der Dinge zugrunde liege und für Götter und Menschen gelte, sei folglich das Recht des Stärkeren.
Das Vertrauen auf den Beistand der Gottheit wird bei Thukydides in den Worten der Athener sogar zur trügerischen Hoffnung, die ins Verderben führt. Besser, als auf die Götter zu vertrauen, sei es, die Fakten klar einzuschätzen, das Recht des Stärkeren als ewiges Gesetz anzuerkennen und sich ihm zu unterwerfen, solange man noch die Möglichkeit hat. Mit dem Vertrauen auf die Götter scheint die Überzeugung suspendiert, dass es moralische Grundsätze gebe, die von einer höheren Instanz sanktioniert werden und die das Recht des Stärkeren zugunsten des Schwachen einschränken.
Immerhin bleibt bei Thukydides ein utilitaristisches Argument, warum der Starke auf das Recht des Schwachen Rücksicht nehmen soll. Es gibt nämlich keine Garantie für den Starken, dass seine Macht und Stärke von Dauer sind. Der Starke soll deshalb bedenken, dass eine Begrenzung des Rechts des Stärkeren auch ihm zugutekommt, weil er selbst einmal der Schwächere sein wird.
Und dennoch …
Der „Melierdialog“ des Thukydides erinnert daran, dass der Mensch nicht so leicht bereit ist, zu resignieren und die Macht faktischer Stärke als Quelle von Recht anzuerkennen. Dies zeigt auch der bereits genannte Dialog Gorgias, in dem Platon gegen eine Philosophie und Politik anschreibt, die das Recht des Stärkeren zum Naturgesetz und zur Grundlage von Ethik im Zusammenleben von Menschen und Staaten erklären will.
Versuche, durch Diplomatie und wechselseitige vertragliche Abmachungen das Recht des Stärkeren im Verhältnis der Staaten untereinander einzuschränken, hat es seit in der Antike immer wieder gegeben. Ausgangspunkt war meist die Einsicht, dass es auch für einen starken Staat und seine Machthaber klüger sein kann, einen Krieg zu vermeiden oder mit Verhandlungen zu beenden, zumindest dann, wenn der Ausgang ungewiss erscheint oder zu fürchten ist, dass selbst im Fall des Sieges die negativen Folgen überwiegen.
Aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs resultierte 1919 die Gründung des Völkerbundes, um ein für alle Staaten verbindliches Völkerrecht zu schaffen, das ähnliche Katastrophen künftig verhindern und dauerhaften Frieden unter den Staaten sichern sollte. Der Völkerbund scheiterte und konnte die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs nicht verhindern. Dennoch wurde das Bemühen um die Durchsetzung eines allgemein verbindlichen Völkerrechts nicht aufgegeben, und bereits im Jahr 1945 entstanden als Nachfolgeorganisation die Vereinten Nationen.
Die Melier mögen der Übermacht Athens unterlegen sein. Athen selbst musste bald nach der Eroberung von Melos erfahren, dass seine Macht und Stärke nicht grenzenlos waren. Staaten und Machthaber, die gegenüber anderen auf eigene Stärke und Überlegenheit setzt, sollten bedenken, woran die Melier die Gesandten der Athener erinnern: Wenn die Schwachen sich verbünden, gewinnen auch sie Macht und Stärke.
Der „Melierdialog“ ist in deutscher Übersetzung zu finden bei: Thukydides, Der Peloponnesische Krieg. Übersetzt und herausgegeben von Helmuth Vretska und Werner Rinner (Reclam Uiniversal-Bibliothek 1808), Stuttgart 1966 (Nachdruck 2000).