Am 9. Oktober 2021 fand die Jahrestagung der Alttestamentlichen Arbeitsgemeinschaft (ATAG) digital statt. Sie wurde vom Lehrstuhl für Altes Testament an der Universität Erfurt unter der Leitung von Prof. Dr. Norbert Clemens Baumgart organisiert. Zwar fielen durch das digitale Format die oft wichtigeren „Zwischendurch-Gespräche“ mal wieder weg, aber da auch die Anfahrt wegfiel, konnten sich Wissenschaftler*innen zuschalten, die gerade im Zug saßen oder erkältet waren.
Bei der ATAG handelt es sich um eine 1965 gegründete ökumenische Arbeitsgemeinschaft aller Alttestamentler*innen Ostdeutschlands, die einmal jährlich an einem der universitären Oststandorte, an denen Altes Testament gelehrt wird (Erfurt, Jena, Halle, Leipzig, Dresden), tagt. Auch wenn die „echten Ossis“ unter den Professor*innen inzwischen die Ausnahme sind, so konnte man bei den Nachwuchswissenschaftler*innen des Öfteren einen Ostdialekt heraushören. Die junge Generation steht bei der ATAG im Mittelpunkt, denn das (neue) Profil der ATAG besteht darin, Nachwuchswissenschaftler*innen auf dem Forschungsgebiet des Alten Testaments eine Plattform zu bieten und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr aktuelles Forschungsprojekt in einem öffentlichen und zugleich geschützten Rahmen zu präsentieren. Das war nicht immer so. Bis vor 10 Jahren folgte die ATAG dem üblichen Tagungscharakter: Passend zu einem Leitthema wurden renommierte Professor*innen aus ganz Deutschland eingeladen, zu diesem zu referieren, mit anschließender Diskussion und Tagungsband. Nachwuchswissenschaftler*innen konnten sich „nur“ bei der Diskussionsrunde einbringen.
Die „neue ATAG“, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Nachwuchs zu promoten, kann sich sehen lassen, nebenbei bemerkt: auch bezüglich der Frage zur Frauenförderung. Überwog bei den anwesenden Professor*innen eindeutig der Männeranteil, so war bei den Referent*innen genau das umgekehrte Verhältnis zu beobachten.
Insgesamt gab es sechs spannende Vorträge, die eine ganze Palette an Themen abbildeten: Den Eröffnungsvortrag hielt Dr. Katharina Pyschny, Juniorprofessorin am Zentralinstitut für Katholische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin – wodurch auch wieder der Standort Berlin vertreten war. Pyschnys Ansatzpunkt bestand darin, die Schnittstelle zwischen biblischer Anthropologie und Ikonographie unter dem Aspekt der „Gesten des Handelns Gottes“ genauer zu betrachten und beides miteinander in Beziehung zu setzen. Anhand von drei Schwerpunkten (lächelndes Angesicht, erhobene/segnende Hand, schreitende Füße Gottes) führte sie zunächst jeweils anhand von alttestamentlichen Texten und daran anschließend anhand von ikonographischen Beispielen vor Augen, dass dieses Feld innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft bislang völlig unterbelichtet ist.
Dr. Martin Nitsche, ehem. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Altes Testament in Erfurt, aktuell Inhaber der Dozentur für Altes Testament an der Goethe-Universität Frankfurt a.M., gewährte Einblicke in seine „Habilitations-Werkstatt“. Sein Ansatzpunkt ist die Untersuchung all jener Stellen in der Hebräischen Bibel, an denen die Frage „Wo ist Gott?“ gestellt wird. Seiner Bitte um kritisches Feedback kamen die Teilnehmenden gern und innovativ nach. Zu erwarten ist eine vielversprechende Studie, die ihren Ausgangspunkt bei der Syntax nimmt, von dort über die jeweilige Textpragmatik übergeht zu der Frage nach den Raumkonzepten, um abschließend in einen explizit theologischen Ertrag zu münden.
Die gebürtige Ukrainerin Mariia Boichun von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) überraschte mit einem außergewöhnlichen Promotionsprojekt: die Katalogisierung der Handschriften des samaritanischen Pentateuchs. Bei diesen wichtigen Handschriften zum Pentateuch ist nicht nur der textliche Aspekt besonders – es besteht eine Co-Präsenz von hebräischer, aramäischer und arabischer Sprache –, sondern auch der materielle Aspekt. Denn oftmals ist der Text durch kunstvolle Anordnung der Buchstaben als ein Bild gestaltet, ähnlich einer Landkarte im Text (bspw. wird der Berg Garizim durch entsprechende Auslassungen im Text kreisförmig dargestellt). Handelt es sich dabei um eine geniale Form der Schriftrezeption?
Dr. Mirjam Bokhorst, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Altes Testament an der MLU, gab erste Gedanken zu ihrem Habilitationsvorhaben kund. Sie wird darin der Frage nachgehen, ob die Exodus-Tradition (Rückkehr des Volkes Israel) tatsächlich so maßgeblich für Deuterojesaja (Jes 40-55) ist, wie bislang angenommen, oder ob bei Jesaja nicht vielmehr der Fokus auf der Rückkehr Gottes liegt. Bokhorst wurde in ihrem Vorhaben durch den großen Zuspruch sämtlicher anwesenden Professor*innen mit Nachdruck bestärkt.
Rahel Fuchs, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Altes Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, stellte einen Ausschnitt aus ihrem Promotionsprojekt zur Frage nach generationsübergreifenden Schuldzusammenhängen vor. Fuchs präsentierte mithilfe einer exzellenten PowerPoint das Abhängigkeitsverhältnis der Gottesbeschreibungen in Ex 34,6f und Num 14,18. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die komplexe Frage nach der Bestimmung literarischer Abhängigkeiten nach einer neuen Methode verlangt.
Den Abschluss bildete der Vortrag von Johannes Seidel, ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Alten Testament an der Uni Jena. Seidel stellte zunächst Psalm 58 und dessen zentrales Thema, die gestörte Kommunikation zwischen Frevlern und Frommen, vor, um darauf aufbauend eine neue Übersetzung von Vers 2 zu wagen. Am Ende waren wir am Ende unseres Lateins, nein, unseres Hebräischs: Trotz aller Hebräischkenntnisse lassen sich manche Stellen in den uralten Texten der Hebräischen Bibel einfach nicht logisch übersetzen. Dank des Referates von Seidel kam es zu einem inspirierenden Austausch über diesen Punkt.
Die positiv gestimmte und entspannte Atmosphäre, die uns durch die Webex-Tagung trug, hatten wir nicht zuletzt unseren beiden studentischen Hilfskräften Juliane Neitzke und Kai Sikora zu verdanken, die unaufgeregt die Reihenfolge der Fragestellenden bestimmten. Als das Nachmittags-Loch zwischendurch zu sehr um sich griff, teilte Prof. Maria Häusl spontan mit uns ein 5min-Sport-Video, was seine belebende Wirkung nicht verfehlte.
Der Dank an alle Organisator*innen war groß, der Abschied herzlich (das geht inzwischen auch digital) und die Freude auf die nächste, ganz bestimmt analoge ATAG-Tagung im Herbst 2022 oder Frühjahr 2023 in Dresden groß. Auf dass die ATAG Nachwuchswissenschaftler*innen aus der Region weiterhin bestärkt!
Sie möchten mehr über die AGAT erfahren?