Hip, modern, laut – mit der MEHR-Konferenz zeigt das Augsburger Gebetshaus, dass Kirche im 21. Jahrhundert nicht mehr nur zwischen Altar und harten Kirchenbänke stattfindet. Doch die populäre Großveranstaltung steht vielfach in der Kritik. Auch Dominique-Marcel Kosack, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Dogmatik an der Uni Erfurt, meint: “Die Antwort auf einen Bedeutungsverlust der Kirchen kann nicht sein, den vielfältigen gesellschaftlichen Entwicklungen eine eindeutige, emotional aufgeladene ‘wahre Lehre’ entgegenzustellen.” Und doch: “Ob die überkonfessionellen charismatischen Impulse auf lange Sicht nicht doch revolutionärer sind und eine unerwartete religiöse Pluralität mit sich bringen, steht auf einem anderen Blatt.” Über kirchliches Erneuerungspotential, die vermeintliche Angst einer Weltkirche vor Innovationen und die Verantwortung der Theologie in solchen Veränderungsprozessen, sprach mit ihm “Theologie Aktuell”.
Überfüllte Messehallen, modernste Showtechnik, jubelnde Gäste – klingt nicht gerade nach einer ökumenischen Glaubenskonferenz. Und doch: Die MEHR-Konferenz ist genau das. Seit 2008 veranstaltet das Augsburger Gebetshaus das schillernde Großevent, das zu Live-Musik, Katechese und Massengottesdiensten einlädt. Medien sprechen von “Kirche als Pop-Ereignis”. Und tatsächlich: Mit 12.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern stellte die diesjährige Konferenz Anfang Januar einen neuen Besucher*innenrekord auf. Doch bekanntlich ist nicht alles Gold, was glänzt: Denn nicht alle sind begeistert vom Erfolg der MEHR. Kritikerinnen und Kritiker sehen “sektenhafte Tendenzen”. Darüber hinaus sei das Format zu sehr auf Ästhetik und Emotionalität reduziert, während es an wahrer Reflexion über den Glauben und die christliche Botschaft fehle. Begeisterung darüber, dass eine christliche Großveranstaltung tausende junger Menschen anzieht, lässt sich in etablierten Kirchen- und Theologiekreisen maximal im Flüsterton vernehmen.
Für Beobachter*innen stellt sich damit die Frage: Tut man sich mit unkonventionellen Formaten in der katholischen Kirche generell schwer? Oder ist die Kritik an der MEHR berechtigt? Darüber sprach “Theologie Aktuell” mit Dominique-Marcel Kosack. Der wissenschaftliche Mitarbeiter an der Professur für Dogmatik hatte im Rahmen der jüngsten Konferenz an einem Forum unter dem Titelthema “MEHR Theologie: Reflexionen im Aufbruch” teilgenommen.
– Dominique-Marcel Kosack
Noch einmal für alle, die mit der Konferenz nicht vertraut sind: Was genau ist die MEHR?
Das Hauptanliegen des Gebetshauses Augsburg, von dem die MEHR-Konferenz ausgeht, ist ständiges Gebet – 24 Stunden, jeden Tag. Eine intensive religiöse Praxis wird zentral für die individuelle Lebensgestaltung. So beschreibt es etwa der Gründer der Initiative: “Gebet ist die Faszination unseres Lebens.” Und auch bei der Konferenz steht das im Mittelpunkt, vor allem mit der an Pop und Rock orientierte Lobpreismusik. Dazu kommen Vorträge, die auf Glaubensvermittlung und eine religiös orientierte Lebensführung zielen. Sowohl bei der Musik als auch den Vorträgen ist der Zugang tatsächlich sehr persönlich und emotional – und gerade das macht die MEHR für viele junge Leute so ansprechend. Hier wird eine Begeisterung erfahrbar, die sonst in kirchlichen Zusammenhängen kaum Raum findet.
Hauptredner der Veranstaltung ist der Gründer des Gebetshauses Augsburg, der katholische Theologe Johannes Hartl. Dazu kommen weitere Vortragende – vor allem aus evangelikalen und pfingstlichen Freikirchen, aber auch Leitungspersonen aus der katholischen Kirche, zuletzt etwa Kurt Kardinal Koch. Dieses Spektrum spiegelt sich auch unter den Teilnehmer*innen wider. Die meisten sind katholisch, etwa ein Drittel kommt aus evangelischen Freikirchen und Landeskirchen.
… und wofür genau wird die Konferenz nun kritisiert?
Die Bandbreite der Kritikpunkte ist groß. Manche werden eher an persönlichen Abneigungen zum Stil der Konferenz festgemacht. Das Ganze sei zu oberflächlich, zu inszeniert, zu “amerikanisiert”, zu “freikirchlich”. Daneben wird aber viel sachlich hinterfragt: So gibt es Tendenzen zu einem “Elitenchristentum”, das zwischen formalen Kirchenmitgliedern und den “eigentlichen” Gläubigen unterscheidet. Oft wird auch auf die Nähe zur evangelikalen Bewegung hingewiesen – und eine Zusammenarbeit besonders konservativer Gruppen verschiedener Konfessionen kritisiert. Ein wichtiges Konfliktfeld im Umfeld von MEHR-Konferenz und Gebetshaus Augsburg bringen problematische Haltungen zu Homosexualität und Geschlechterrollen mit sich. Da werden zum Beispiel den aktuellen Genderdiskursen vermeintlich biblische Rollenbilder entgegengestellt, die an die 1950er-Jahre erinnern, was theologisch nicht tragfähig ist. Die klaren Botschaften der MEHR-Konferenz haben als Hintergrund nicht zuletzt ein recht eindeutiges Verständnis dessen, was mit Blick auf Religion und Lebensgestaltung “die Wahrheit” ist.
Generell dürfte man doch aber meinen, dass die Kirche in Zeiten schwindender Mitgliedszahlen über jede Innovation, die (gerade junge) Menschen der Kirche wieder näherbringt, dankbar ist – oder doch nicht?
Die Kritik kommt genau genommen weniger aus den Kirchenleitungen, sondern vor allem aus den Universitäten, also von der Theologie. Die Antwort auf einen Bedeutungsverlust der Kirchen kann nicht sein, den vielfältigen gesellschaftlichen Entwicklungen eine eindeutige, emotional aufgeladene “wahre Lehre” entgegenzustellen. Solche unverrückbaren Ansprüche können letztlich zu Fundamentalismus und spirituellem Missbrauch führen, vor allem dort, wo sie eine sehr persönliche Ebene ansprechen. Wenn man genau hinsieht, trifft der Vorwurf in vielen Fällen zwar so pauschal nicht zu, aber die Gefahr sollte ernstgenommen werden.
Interessant ist, wie sich einige Bischöfe zur Bewegung im Umfeld der MEHR-Konferenz positionieren. Nehmen wir das “Mission Manifest”, das vor zwei Jahren auf der Konferenz vorgestellt wurde: Zu den Erstunterzeichnern dieser “Thesen für das Comeback der Kirche” gehören der Kölner Kardinal Woelki und der Passauer Bischof Oster. Beide sind nicht gerade als Befürworter grundlegender Innovationen und Reformen in der katholischen Kirche bekannt. Und gerade deshalb ist das “Manifest” für sie anschlussfähig. Darin geht es nämlich vor allem um die individuelle religiöse Entschiedenheit und das eigene Sendungsbewusstsein. Die sonst viel geforderten strukturellen Veränderungen, durch die Ämter, Machtverteilung, Transparenz oder die Möglichkeiten von Frauen in der Kirche betroffen wären, treten in den Hintergrund. Und da in diesem Umfeld zudem eher wertkonservative Positionen zur Sexualmoral vertreten und vielfach Genderdiskurse abgelehnt werden, kommt das manchen Amtsträgern sehr entgegen.
Allerdings ist fraglich, ob damit schon voll erfasst wird, wie die Bewegung um die MEHR-Konferenz Veränderungen befeuert oder bremst. Trotz offensichtlicher Überschneidungen mit besonders konservativen kirchlichen Kreisen erleben wir hier eine tiefgreifende Transformation von Religion und nicht bloß traditionalistische Spiritualität in neuem Gewand. Die starke Konzentration auf die persönliche Gottesbeziehung entmachtet in gewisser Weise religiöse Institutionen und deren Normen, ohne dass sie jemand ablehnen müsste. Hartl weist immer wieder darauf hin, dass das verbindende Element die Jesus-Beziehung ist. Das jeweilige konfessionelle Verständnis von Amt, Eucharistie usw. stellt er dabei ausdrücklich zurück – als unterschiedliche Ausprägung der je individuellen Frömmigkeit. Der Verweis auf das Individuelle in diesem Zusammenhang zeugt von einem neuen Verständnis von Konfessionalität, das auch das traditionelle Selbstverständnis der katholischen Kirche auf den Kopf stellt. Schon jetzt passen viele konservativ-charismatische Katholik*innen in keine der geläufigen Schubladen mehr. Insofern wird vermutlich noch unterschätzt, welches Innovationspotential sich rund um die MEHR-Konferenz findet – und sei es in Form einer Irritation etablierter kirchlicher Selbstbilder.
– Dominique-Marcel Kosack
Den Vorwürfen an der MEHR steuerten die Veranstalter in diesem Jahr entgegen, indem sie im Zuge der jüngsten Konferenz zu einem Forum unter dem Titelthema “MEHR Theologie: Reflexionen im Aufbruch” einluden. Während einer Podiumsdiskussion, an der Sie selbst als Diskutant teilnahmen, wurde dort nach Chancen und Gefahren der kirchlichen Erneuerung gefragt. Zu welchem Schluss kam man auf dem Podium?
Ein Problem an der ganzen Debatte um MEHR-Konferenz, charismatische Initiativen in der katholischen Kirche usw. war bisher, dass viele Kritiker*innen – gerade unter den Theolog*innen – die Bewegungen kaum kannten und die Akteure auch nicht miteinander gesprochen haben. Die Podiumsdiskussion sollte hier einen Schritt weiter gehen: Die beteiligten Theolog*innen haben Atmosphäre und Inhalte der Konferenz sehr genau wahrgenommen, Kritikpunkte deutlich formuliert und gleichzeitig ging es darum, Potentiale festzuhalten. Es sei gar nicht ungewöhnlich, so lautete ein Ergebnis der Diskussion, dass neue religiöse Bewegungen zunächst anfällig für extreme Positionen sind, sich dann aber auch kritisch anfragen lassen müssen. Gefahren wurden besonders im Verhältnis zur liberalen “Welt” jenseits der eigenen religiösen Sphäre gesehen, die vor allem als Missionsfeld, aber kaum positiv als Ort der Einsicht und Erkenntnis verstanden wird. Damit zusammenhängt das bereits angesprochene Problem eines eindeutigen Verständnisses von “der Wahrheit” oder auch die Nähe mancher Gruppen zu äußerst konservativen gesellschaftspolitischen Positionen. Aber die Atmosphäre, in der darüber diskutiert wurde, war sehr konstruktiv und wertschätzend.
Nicht alle Kritikerinnen und Kritiker halten den Versuch der MEHR-Veranstalter nach mehr theologischer Selbstreflexion, die man mittels des Forums umzusetzen versuchte, aber für glaubhaft. Einige haben vor einer Vereinnahmung der Theologie durch eine Veranstaltung gewarnt, die sich modernen und liberalen Werten entgegenstellt. Wie sehen Sie das?
Tatsächlich wurde das Forum von den Verantwortlichen der MEHR-Konferenz auch genutzt, um die eigene Dialog- und Reflexionsbereitschaft in den sozialen Medien zu demonstrieren. Das ist erstmal nachvollziehbar, wenn es nicht das einzige Ergebnis der Veranstaltung bleibt. Langfristig dürfte entscheidend sein, dass tatsächlich eine verstärkte Selbstreflexion der kirchlichen Erneuerungsbewegungen stattfindet, aber auch die Wahrnehmung dieser Bewegungen durch die Theologie präziser und lernbereiter wird. Vor Ort habe ich beides erlebt – und bei den Veranstaltern der Konferenz ein ernsthaftes Interesse auch an kritischen Rückmeldungen wahrgenommen. Die geäußerten Befürchtungen haben sich also erstmal nicht bewahrheitet. Alles Weitere muss die Zukunft zeigen.
Mit Blick auf eben diese Zukunft ließe sich zugespitzt noch einmal konkret fragen: Fürchtet die katholische Kirche die Innovation?
Bei den vielen Millionen Katholik*innen in Deutschland gibt es darauf natürlich keine eindeutige Antwort. Für einige ist die sehr persönliche und emotionale Form wie bei der MEHR-Konferenz eine notwendige Innovation, die gravierende Mängel in der Kirche behebt, – auf andere wirkt sie abschreckend. Aber das hängt oft einfach an individuell verschiedenen spirituellen Zugängen. Bei vielen Leitungsverantwortlichen in der katholischen Kirche habe ich den Eindruck, dass man sich vor allem partielle Innovationen wünscht, die mit den eigenen, übergeordneten theologischen und moralischen Vorstellungen kompatibel sind. Ob die überkonfessionellen charismatischen Impulse auf lange Sicht nicht doch revolutionärer sind und eine unerwartete religiöse Pluralität mit sich bringen, steht auf einem anderen Blatt. Aber auch universitäre Theolog*innen, die ja im engeren Sinne keine kirchlichen Akteure sind, tun sich oft schwer mit neuen religiösen Formaten. Hier wäre ein nüchterner Zugang hilfreich, der Phänomene und Probleme analysiert, ohne vorab in emphatische Totalablehnung zu verfallen.
Die Diskussion rund um die MEHR führt aber auch dazu, dass Theologinnen und Theologen über ihren eigenen Auftrag neu nachdenken und nach dem Zweck ihrer Wissenschaft fragen. Daher zu guter Letzt auch die Frage an Sie: Worin liegt für Sie diese Bedeutung der Theologie?
Die christliche Theologie setzt sich wissenschaftlich auch mit der faktisch gelebten christlichen Religiosität auseinander. Und dazu zählen innerkatholisch zunehmend charismatische Formen wie die MEHR-Konferenz. Dem müssen sich nicht zuletzt die Theolog*innen stellen. Zwar betreiben sie keine Forschung speziell für kirchliche Kreise oder sehr religiöse Gruppen. Aber ihr Forschungsgegenstand – der praktizierte Glaube – findet sich natürlich nicht zuletzt hier. Und die Einsichten einer wissenschaftlichen Reflexion dieses Glaubens sollen durchaus eine Bedeutung für kirchliche Entwicklungen haben. Das Forum ‘MEHR Theologie’, das vom Studienzentrum für Glaube und Gesellschaft der Universität Fribourg mitveranstaltet wurde, würde ich dazu als einen experimentellen Schritt verstehen. Es ging natürlich nicht darum, die MEHR-Konferenz akademisch “aufzuhübschen”, wie einige vermuteten. Vielmehr wurde hier eine konkrete religiöse Praxis theologisch ernstgenommen und gleichzeitig eine fachliche Reflexion angeboten, die auch ein Korrektiv sein kann und soll. Die Theologie wird künftig hoffentlich helfen, solche und ähnliche Veränderungsprozesse von Religion besser zu verstehen und auf mögliche Konflikte frühzeitig hinzuweisen.
Interview: Desiree Haak
Titelbild: Johanne Molzahn
Dominique-Marcel Kosack ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Dogmatik an der Universität Erfurt. Aktuell forscht er zur “Erlösung des Selbst. Hermeneutik und Kategorien einer spätmodernen Soteriologie”.