In welchem Verhältnis stehen Theologie und Öffentlichkeit heute zueinander? Wie ist diese Beziehung historisch gewachsen und wohin wird sie sich – unter den Vorzeichnen sich rapide ändernder Kommunikationswelten – entwickeln? Diesen und ähnlichen Fragen geht Prof. Dr. Ulrich Ruh im folgenden Beitrag nach.
Theologie und Öffentlichkeit – das sind zunächst einmal sehr unterschiedliche Welten, wie jeder mühelos bestätigen kann, der in beiden unterwegs ist. Theologie ist heute eine komplexe Wissenschaft, die mit verschiedenen Methoden und in weit auseinander liegenden Teildisziplinen den christlichen Glauben, seine Geschichte und seinen Anspruch zu verstehen und zu verantworten versucht. Öffentlichkeit wiederum ist eine Grunddimension freiheitlicher und pluraler Gesellschaften, die unser Leben mehr oder weniger intensiv mitprägt, ob wir wollen oder nicht. Aber gleichzeitig hat christliche Theologie mit Öffentlichkeit notwendiger Weise zu tun. Sie ist nämlich grundsätzlich keine Geheimwissenschaft, kein esoterisches Geschäft für Insider, sondern verortet ihre Aussagen durchweg im Horizont der allgemeinen Vernunft und setzt auf Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit bei den jeweiligen Zeitgenossen.
Das galt schon in den Anfangszeiten theologischen Nachdenkens und gilt gerade auch unter den heutigen Bedingungen, die allerdings ganz anders aussehen als in früheren Epochen der Glaubensgeschichte. Solange das Christentum selbstverständliche Bezugsgröße für alle Lebensbereiche und auch für die einzelnen Menschen war, spielte sich auch Theologie in diesem Rahmen ab und konnte deshalb von allgemeiner Plausibilität profitieren. Als sich dann die katholische Kirche in der beginnenden Moderne vielerorts in abgegrenzten, geschlossenen Milieus organisierte, diente Theologie dementsprechend in erster Linie zur Selbstverständigung und Selbstbehauptung. Die Zeit der „Christenheit“ wie die der ausgeprägten konfessionellen Milieus ist inzwischen vorbei: Heute haben die Kirchen in Europa ihren Platz in religiös- weltanschaulich vielfältigen und wissenschaftsdominierten, offenen Gesellschaften, wobei sie sich im Regelfall ungehindert entfalten können. Der christliche Glaube ist zwar als kulturelles wie auch als ethisches Erbe vielfach präsent; in welches Verhältnis sich der einzelne Zeitgenosse zu ihm setzt oder ob er das überhaupt tut, ist grundsätzlich ihm selber überlassen. Das gesellschaftliche Klima ist ganz und gar nicht nicht christentumsfeindlich, typisch ist eher ein freundliches Desinteresse gegenüber religiösen Angeboten überhaupt und damit auch gegenüber dem christlichen Glauben.
Wo der öffentliche Fokus sich derzeit auf Christliches richtet, geht es in den allermeisten Fällen um die Kirche beziehungsweise ihre Amtsträger, nicht um Theologie. Das hat natürlich damit zu tun, dass die Kirchen nicht zuletzt in Deutschland nach wie vor große, wichtige und flächendeckend vertretene Institutionen sind; die katholische Kirche hat zudem ihr Papstamt als viel beachtetes Alleinstellungmerkmal mit einer entsprechenden Medienwirksamkeit. Wer kennt dagegen in der breiteren Öffentlichkeit einen Theologen, außer er liegt im Clinch mit der kirchlichen Autorität wie seinerzeit Hans Küng oder später Eugen Drewermann, denen die Lehrerlaubnis entzogen wurde? Die Rolle der intellektuellen Leitfiguren mit größerer gesellschaftlicher Ausstrahlung und entsprechender Resonanz in den Medien ist heute weit eher mit Historikern, Soziologen, Psychologen oder auch Philosophen besetzt als mit Theologen – Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Theologie blüht für Medien und Öffentlichkeit weithin im Verborgenen, leider vielfach auch für den kirchlichen Apparat mit seine Pastoralbürokratie, der mit der Theologie in ihren verschiedenen Disziplinen meist nur wenig am Hut hat.
In dieser Situation darf sich die Theologie nicht in den sprichwörtlichen Schmollwinkel zurückziehen. Klagen oder gar Beleidigtsein angesichts mangelnder öffentlicher Beachtung reichen nicht aus. Theologie hat vielmehr eine Bringschuld, angefangen mit ihrer Sprache: Mit verstiegener Begrifflichkeit oder auch mit frommen Floskeln steht sie sich selbst im Weg. Es geht nicht um problematische Simplifizierung, sondern um den Mut zu pointierten Äußerungen und das Bemühen um Verständlichkeit für ein breiteres Publikum innerhalb und außerhalb der Kirchenmauern.
Es fehlt ja nicht an spezifischen Anknüpfungspunkten für die einzelnen theologischen Fächer, sei es für die theologische Ethik oder für die Kirchen- und Christentumsgeschichte. Es gibt genügend Streitfragen in der Medizin- oder Wirtschaftsethik, bei denen Moraltheologen und Sozialethiker als Gesprächspartner ihren Beitrag leisten können, wenn sie sich mit der entsprechenden Kompetenz und Klugheit einzubringen versuchen. Dasselbe gilt für kulturelle oder geschichtspolitische Debatten, bei denen Kirchen- und Theologiehistoriker ihre Gesichtspunkte produktiv einbringen können. Nicht zuletzt die stärkere Präsenz des Islam in Deutschland wie anderswo im westlichen Europa macht Diskussionen über Wesen und Unwesen von Religion neu virulent, an denen sich systematische Theologen mit ihrer Deutungs- und Unterscheidungskompetenz beteiligen können und auch sollten. Bei all dem sollten sich Theologinnen und Theologen nicht scheuen, auch bewusst als solche mit ihrer Verwurzelung im christlichen Glauben und ihrer Anbindung an die Kirche aufzutreten, vorausgesetzt, sie tun das auf intelligente und sensible Art und Weise, nicht mit dem Gestus der Vereinnahmung oder unangemessenem Bekenntniseifer.
Der „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) ist nie abgeschlossen. Das zeigt sich gerade in unseren Tagen, wo sich die Gewichte zwischen den verschiedenen älteren und neuen Medien neu austarieren und fraglich wird, in wie weit das für ein demokratische Ordnung unverzichtbare Prinzip Öffentlichkeit angesichts einer zunehmenden Zersplitterung in Teilöffentlichkeiten noch funktioniert. Die Theologie als vernünftige Rechenschaft über den Glauben muss auf der einen Seite ein elementares Interesse an der Aufrechterhaltung von Öffentlichkeit als dem Raum haben, in dem die alle und jeden betreffenden Debatten ausgetragen werden können. Gleichzeitig muss sie den für das Vertreten ihre Anliegen in der Öffentlichkeit passenden Medienmix herausfinden und soll dabei die „klassischen“ Medien weiter nutzen, ohne allerdings die neuen zu vernachlässigen. „Placet experiri“ („Man muss ausprobieren!“), so lautet ein Standardsatz von Lodovico Settembrini in Thomas Manns Roman „Zauberberg“. Das kann auch ein Leitsatz für die öffentliche Präsenz von Theologie sein beziehungsweise noch stärker werden.