Das Internet als Vermittler zwischen Menschen, Räumen und dem Göttlichen. Livestreams & das Gebetshaus Augsburg

Forschung & Wissenschaft
Grafik mit Emojis, auf der eine Person mit Klavier durch leuchtende Strahlen mit einer Kirche und mit einem Gebetshaus verbunden ist
Dr. Mark Porter
Dr. Mark Porter

Gebetshäuser, Musik und Livestreams

Das Gebetshaus in Augsburg ist vielen Katholik*innen in Deutschland wahrscheinlich bereits bekannt, sei es durch die dort geschriebenen Lieder, die Veröffentlichungen von Johannes Hartl und seine Medienpräsenz oder durch die beliebte Mehr-Konferenz, die regelmäßig Tausende Menschen zu einer Zeit des Gebets, der Lehre und des Lobpreisens zusammenführt. Für mich und meine Forschung ist das Gebetshaus faszinierend, weil es digitale Technologien und Livestreams als Teil seines regulären Alltagsbetriebs verwendet hat, lange bevor die Pandemie diese Themen in das breitere Leben und die Gebetspraxis der Kirche gedrängt hat.

Wenn man charismatische Gebetshäuser noch nicht kennt, können sie anfangs einen ziemlichen Kulturschock darstellen. Das wichtigste internationale Zentrum des größeren Gebetshausnetzwerks ist das International House of Prayer (IHOP) in Kansas City, USA. Die große Besonderheit dieses Gebetshauses und der anderen, die ihm nacheifern, ist die kontinuierliche Beschäftigung mit Musik, Gebet und Anbetung, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Diese Aktivität bringt natürlich eine breite Vielfalt an Herausforderungen mit sich, und daneben natürlich auch viele kreative Lösungen.

Eine der herausstechenden Innovationen dieser Bewegung ist das "Harp and Bowl"-Modell des antiphonalen Gesangs, das nach einer Passage aus dem fünften Kapitel der Offenbarung benannt wurde. Über einer kontinuierlichen Akkordfolge nehmen die Musiker*innen erst eine Bibelstelle und singen einen Teil davon zu einer improvisierten Melodie. Dann isolieren sie eine bestimmte Phrase aus der Passage, um sie weiterzuentwickeln, indem sie sie zwischen den verschiedenen Sängern hin- und herreichen. Daraus entwickelt sich dann ein spontaner Refrain, der 8-10 Mal wiederholt wird, wobei jeder die Möglichkeit hat, mitzusingen. Dieses Modell ermöglicht einen kontinuierlichen kreativen Prozess und bietet die Möglichkeit, auf bestimmte Momente, Gefühle und Stimmungen im Gebetsraum einzugehen und auf das zu reagieren, was zu einem bestimmten Zeitpunkt geschieht – etwas, das mit vorgefertigten Liedern nicht so einfach möglich wäre.

24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche Musik zu kreieren ist viel Arbeit. In Kansas City ist dies aufgrund des Rufs, den der Gebetsraum genießt, und aufgrund der Bereitschaft von Freiwilligen, dem Gebetsraum einige Zeit ihres Lebens zu widmen, möglich. Als an anderen Orten versucht wurde, das Modell nachzuahmen, wurde jedoch vielerorts festgestellt, dass weder die Ressourcen noch die Musiker vorhanden sind, um die gleichen Erfahrungen oder Praktiken wie im IHOP-Gebetshaus anzubieten.

Die Einführung eines Livestreams diente ursprünglich dazu, in Gebetsräumen mit weniger Ressourcen die gleiche Art von Gebet und Musik wie in Kansas City zu ermöglichen. Die Nutzung von Livestreams ging aber schnell über dieses Anwendungsgebiet hinaus, als Einzelpersonen entdeckt haben, dass sie auch außerhalb von Gebetsräumen gerne den Stream verfolgen.

 

Verschiedene Arten der Teilnahme

Bei meinem Besuch im Augsburger Gebetshaus war ich fasziniert davon, wie der Internet-Livestream aus Kansas City in einem Raum eingesetzt wurde, ganz verschiedene Menschen miteinander gebetet und gesungen haben, und wie sich die Dynamik im Raum veränderte, wenn die Aktivität zwischen dem Livestream und der Musik, die vor Ort gemacht wurde, hin und her gewechselt hat.

Der Gebetsraum selbst bietet unterschiedliche Möglichkeiten der Teilnahme, unabhängig davon, ob der Raum von Live-Musikern geleitet wird oder ob etwas gestreamt wird. Es gibt Tische mit Stühlen, an denen manche Leute Bibeln und Notizbücher aufgeschlagen haben, es gibt Matten, die genutzt werden können, um den Boden bequemer zu machen, es gibt Stühle, es gibt Platz für Menschen, die beim Beten umhergehen möchten, und es gibt kleine Bänke auf denen man knien kann. Manche Menschen sind eher mit sich selbst beschäftigt oder sitzen allein und singen mit, während andere es vorziehen, sich auf eine interaktive Art und Weise zu beteiligen, ganz wie es sich für sie im Moment gut anfühlt oder angemessen erscheint.

All dies bedeutet, dass die Grenzen zwischen virtuellen und "realen" Interaktionen sehr fließend sein können. Da es mehrere Arten der Interaktion gibt, funktionieren viele davon genauso gut mit einem Livestream wie mit anderen Menschen, und das reale Leben und die virtuelle Welt können auf vielfältige Art und Weise kombiniert und nebeneinander gestellt werden.

So kann man beispielsweise einen Stream zusammen mit anderen Menschen an einem Ort nutzen oder mit den Menschen, die dort live Musik machen, sich aber selbst eher passiv beteiligen. Ebenso kann man den Stream zu Hause nutzen, gerade weil er das Gefühl vermittelt, mit anderen Menschen zusammen zu sein, und dort vielleicht sogar aktiver mitsingen als vor Ort im Gebetsraum.

 

Einigung und Atmosphären

Es gibt wichtige Denkkategorien, die diese Art von Flexibilität ermöglichen. Als ich mit Menschen über ihre Nutzung des Livestreams gesprochen habe, sprachen sie oft über Ideen zu Agreement (Einigung) und Atmosphäre:

Da sich die Aktivität im Gebetsraum oft auf das Gebet konzentriert und die Vorstellung, dass Gläubige gemeinsam in dieses Gebet einstimmen, etwas Kraftvolles sein kann, können die Menschen zu Hause das Gefühl haben, in das Gesagte und das Gebet mit einzustimmen, unabhängig davon, ob sie selbst mitsingen. Es ist eine Art, aktiv zu sein, und bei diesem Engagement geht es um eine aktive Verbindung zwischen Menschen und Räumen. Weil Gott an und zwischen verschiedenen Orten wirkt, spielt die räumliche Entfernung hier keine große Rolle – es entsteht das Gefühl, gemeinsam etwas Geistliches zu tun.

Bei der Atmosphäre geht es um die Möglichkeit, durch den Livestream die heilige Atmosphäre des Gebetsraums in das Haus zu bringen, in dem gestreamt wird. Das kann bedeuten, dass der Raum, in dem sich die Personen befinden, durch diese Verbindung selbst in einen Gebetsraum verwandelt wird. Mit anderen Worten: es handelt sich nicht nur um eine Person und die Internetverbindung, die sie nutzt, sondern eine Person, die selbst verschiedene andere Dinge um sich herum hat, die sie nutzen und die sich verwandeln können. Es gibt eine Verbindung zwischen verschiedenen physischen Räumen, und der eine kann durch das Medium des Livestreams die Eigenschaften des anderen annehmen.

 

Flexibel in die Zukunft denken

All das finde ich faszinierend, weil es interessantere Denkansätze für das Potenzial des Streamings ermöglicht als viele der Debatten, die während der Pandemie in den Vordergrund getreten sind. So wird die einfache Dichotomie zwischen persönlichem und internetvermitteltem Gottesdienst überwunden und gezeigt, dass das Internet es möglich macht, dass Menschen und Räume auf vielfältige Weise zusammenkommen und eine neue Art der Flexibilität und Vielfalt entsteht. Wir werden aufgefordert, kreativ über das Potenzial hybrider Umgebungen und die Möglichkeiten, die sie bieten, nachzudenken, und es zeigt sich, wie die theologischen oder erfahrungsbezogenen Kategorien, in denen wir denken, unsere Wahrnehmung verschiedener digitaler Technologien prägen.

In Begriffen wie Atmosphäre und Agreement zu denken, ist ein Weg, der mit der Logik des Internets und mit bestimmten Arten persönlicher Erfahrung in Einklang steht; er hilft, das Internet nicht als körperlos oder isolierend zu sehen, sondern als Vermittler zwischen Menschen, Räumen und dem Göttlichen.

Dies sind vielleicht nicht die besten Kategorien, um jede Situation einzufangen, und die charismatische Spiritualität des Gebetshauses ist ohne Frage für manche Menschen ansprechender als für andere, aber sie regen uns dazu an, uns zu fragen, welche anderen kreativen Denkweisen möglich sein könnten, die uns in die Lage versetzen, das Internet auf eine Weise zu nutzen, die für uns selbst und unsere Gemeinden theologisch und spirituell sinnvoll ist.

 

Mehr lesen: https://academic.oup.com/book/33435/chapter-abstract/287695587 (Englisch / Paywall)

Dr. Mark Porter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft.

Zur Profil-Seite