Bei den diesjährigen Salzburger Hochschulwochen ist Dominique-Marcel Kosack, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Dogmatik an der Universität Erfurt, mit dem ersten Publikumspreis ausgezeichnet worden. In seinem Vortrag ging er der Frage nach, welchen Einfluss Religion auf die individuelle Identitätsbildung habe und kam zu dem Schluss: “Religiöse Anschauung liefert keine Schablone für die Ausbildung fester Identitäten.” Für THEOLOGIE AKTUELL legt er seine Überlegungen nochmals dar.
Die wachsende Komplexität der Welt, die Thema der diesjährigen Salzburger Hochschulwoche war, lässt sich in den verschiedensten Bereichen beobachten – in Gesellschaft, Technik, Wirtschaft, Ökologie und vielen mehr. Aber diese Komplexität bleibt uns nicht äußerlich. Sie reicht auch ganz existenziell in den Kern jeder einzelnen Person hinein. Einige alltägliche Beispiele: Der Beruf dient meist nicht mehr nur dem notwendigen Einkommen, sondern wird zu einem entscheidenden Feld der Selbstverwirklichung – durch ihn definieren wir oft, wer wir sind, wer wir sein wollen, welches Bild andere und wir selbst von uns haben sollen. Das lässt sich auch über das Essen sagen, in dem Psychologen mittlerweile einen Ausdruck der eigenen Identität und eine Art “Selbstmarketing” (Christoph Klotter) sehen. Ähnliches gilt etwa für die Mode oder den individuellen “Wohnstil”. Zu den wichtigsten Medien personaler Identität zählt heute sicher das “virtuelle Ich” mit seinen Datenmengen, analysiertem Nutzerverhalten und Verknüpfungen, mit seinen empfangenen und gegebenen “Clicks” und “Likes”.
Im Hintergrund dieses unübersichtlichen Gefüges von Feldern personaler Identitätsbildung steht das “Authentizitätsideal”, das der Philosoph Charles Taylor beschreibt. Demnach kann und muss jeder Mensch seine eigene Originalität entdecken, ist ständig aufgefordert, das auszudrücken, was ihn authentisch ausmacht. Für Taylor ist das zunächst einmal kein bloßer Egoismus, sondern ein moralisches Ideal unserer Zeit, das durchaus ernstgenommen werden sollte. Mit den oben angedeuteten, vielen neuen Gestaltungsmöglichkeiten setzt dies große individuelle Kreativität frei. Es kann aber auch überfordern und zu Orientierungslosigkeit, psychischen Belastungen oder prekären Biographien führen. Wer sich selbst immer wieder und in verschiedensten Lebensbereichen definieren muss – ob er das will oder nicht –, kann an dieser Aufgabe auch verzweifeln.
Angesichts dieser Herausforderung wird Religionen oft gerade das zugesprochen, was Menschen bei komplexer und teils überfordernder Identitätsbildung zu brauchen scheinen: Eine klare Orientierung im Leben, einen festen Platz in einer Gemeinschaft, die Bewältigung der eigenen Grenzen und Ohnmacht. Das sind alles Punkte, die etwa der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann mit seinem funktionalen Religionsbegriff benennt. Religionen kultivieren in einem guten Sinne und meist auf hohem Niveau eine Einfachheit, durch die Menschen in einer unübersichtlichen Welt bestehen und eine stabile Identität finden können. Aber es gibt auch die bekannte Kehrseite, wenn Vereinfachungen absolut gesetzt werden. Das mag helfen, die eigene personale Identität zu festigen. Doch der Preis ist, dass man sich von der immer schon komplexeren Wirklichkeit abkapselt.
Bei allen möglichen Gefahren haben die verschiedenen Formen der Komplexitätsreduktion grundsätzlich ihren Sinn. Aber die Bedeutung von Religionen für die Identitätsbildung kann auch ganz anders verstanden werden: als radikale Steigerung von Komplexität. In diesem Sinne lassen sich etwa die Briefe des Apostels Paulus interpretieren, die nicht zuletzt für die westliche Philosophiegeschichte von großer Bedeutung sind. Da schreibt Paulus, dass er für das religiöse jüdische Gesetz – also für ein Identitätsmerkmal – gestorben ist (Gal 2,19f), aber nicht um sich jenseits dessen neu zu definieren. Er ist den Juden ein Jude geworden und den Nicht-Juden ein Nicht-Jude. Für seine Christusverkündigung ist er „allen alles geworden“ (1Kor 9,22). Weder versteht sich Paulus hier von einer partikularen Gruppe her, noch von einer universalen Kategorie – er vermeidet solche einfachen Definitionen. Seine Identität wird stattdessen komplexer, sie wird als religiös durch Christus bestimmte nun völlig unbestimmt. Er ist “allen alles” geworden.
Wenn der Philosoph Giorgio Agamben das “Als-ob-nicht” als Grundstruktur paulinischen Denkens herausarbeitet (vgl. 1Kor 7,29–31), zielt er in eine solche Richtung. Wer weint, soll sein, als ob er nicht weint. Wer sich freut, soll sein, als ob er sich nicht freut (V. 30). In dieser Gleichzeitigkeit von Bejahen und Verneinen steckt eine radikale Spannung für Weltbezug und Identität des Christen. Für Agamben löst die “messianische Berufung” jeden Anspruch auf das eigene, geordnete Weltverhältnis auf, löst jede Identität auf, und dabei “konstituiert [sie selbst …] keine Identität”. Die von der Christusbeziehung bestimmte Existenz ist also unbestimmt, dezentriert, ohne Besitzanspruch an das eigene Selbst. So verstanden bringt Religion in einer komplexen Welt nicht eine sichere Identität oder einen festen Ort – sie bringt Nicht-Identität, Ortlosigkeit. Diese Enteignung von Identitätsmustern ist vielleicht beunruhigend und als religiöse Grenzerfahrung zudem äußerst flüchtig. Aber ihr Wert für den Umgang mit der eigenen personalen Identität sollte nicht unterschätzt werden: Durch die Christusbeziehung wird das eigene Selbst in bisher ungekannter Weise unverfügbar.
Den Begriff “Unverfügbarkeit” brachte im vergangenen Dezember der Soziologe Hartmut Rosa mit seinem neuen, gleichnamigen Buch ins Gespräch. Demnach weicht die Welt durch ihre zunehmende Verfügbarkeit zugleich zurück, sie wird als beherrschte und genutzte stumm, kalt und leer. Umgekehrt kann gerade das Unverfügbare zu mir sprechen, kann das, was nicht unter meiner Kontrolle steht, mich auf unerwartete Weise verändern. Das ist es auch, was für Rosa das Christentum ausmacht. Es hat nichts mit solchen religiösen Vorstellungen zu tun, die versuchen, Gottes Unverfügbarkeit durch eine magische Bemächtigung zu überwinden. Vielmehr geht es darum “ein entgegenkommendes Antworten … zu erspüren, dessen Inhalt eben noch nicht feststeht.”
In diesem Sinne liefert das Christentum keine einfache Schablone, was den einzelnen Christen ausmacht. Die eigene Identität lässt sich nicht in selbstgewählten oder fremdbestimmten Mustern fassen. Stattdessen kann sie immer zugleich ganz anders sein. Damit steigert die Religion die Komplexität der Situation noch weiter. Aber indem die Selbstartikulation zu einem unverfügbaren Geschehen wird, dessen Begrenzung und Vorläufigkeit eben kein Mangel, sondern ein Wert ist, erscheint diese Komplexität nicht mehr als bedrohlich. Weil hier das mögliche Scheitern der Identitätsbildung seinen Schrecken verliert, wird der Mensch sensibel für das Lebendige der Komplexität. Und das eröffnet ganz neue Möglichkeiten des Umgangs mit einer unübersichtlicher werdenden Welt.
Dominique-Marcel Kosack ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Dogmatik an der Universität Erfurt. Aktuell forscht er zur “Erlösung des Selbst. Hermeneutik und Kategorien einer spätmodernen Soteriologie”. 2018 gewann Kosack den 4. Erfurter Science Slam mit seinem Beitrag “In welchem Zimmer spielen die Theologen?”