“Not lehrt beten”, behauptet der Volksmund. Doch wie sehen diese Gebete aus, wenn sie nicht von einer in sich geschlossenen Glaubensgemeinschaft gesprochen werden? Wenn stattdessen Christen, Juden, Muslime und sogar Menschen ohne Glaubensbekenntnis im Gedenken zusammenkommen? Mit eben dieser Frage beschäftigt sich seit 2014 ein Forschungsprojekt an der Universität Erfurt. Für THEOLOGIE AKTUELL gibt Projektleiter Prof. Dr. Benedikt Kranemann Einblicke in die laufende Forschung zu den “disaster rituals” und erläutert, wie sich kirchliche Liturgie angesichts einer pluralen Gesellschaft weiterentwickeln muss.
Die Zeiten der Liturgie in der Volkskirche sind zumeist vorbei. Neben der gemeindlich gefeierten Liturgie mit einer oftmals wenig homogen zu beschreibenden Gruppe der Mitfeiernden stehen längst andere Gottesdienste, die in und mit einer heterogenen Öffentlichkeit gefeiert werden. Die Liturgie der Kirchen ist in der Moderne angekommen. Das stellt die Theologie sowie die Gestaltgebung und Praxis der Gottesdienste vor weitreichende Fragen. Ihnen muss sich vor allem die Liturgiewissenschaft stellen.
Zu jenen Gottesdiensten, für die in besondere Weise mit der Vielfalt der Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen in Deutschland gerechnet werden muss, gehören Trauerfeiern nach Großkatastrophen. Das Totengedenken auf dem Erfurter Domplatz nach dem Amoklauf an einem Gymnasium, die Trauerfeier im Kölner Dom für die Toten eines Flugzeugabsturzes, der Trauergottesdienst in der Münchner Liebfrauenkirche für die Opfer eines Amoklaufs in einem Einkaufszentrum – die Liste ließe sich auch für Deutschland leider lange weiterführen. Ablauf und Texte dieser Trauerfeiern sind in keiner Agende und keinem liturgischen Buch festgeschrieben. Wie nur wenige andere Gottesdienste sollen sie die Gesellschaft insgesamt ansprechen. Sie bewegen Menschen ganz unterschiedlicher Weltanschauung, die in Trauer und Verzweiflung nach Trost suchen.
Damit stellen gerade diese Gottesdienste die Kirchen, die mit der Vorbereitung und Durchführung betraut werden, vor erhebliche Schwierigkeiten. Sie finden in aller Öffentlichkeit statt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen mit ihren heterogenen religiösen oder nicht-religiösen Erwartungen. Die Feiern fordern die Sprache und Zeichenhandlungen der Kirchen, aber auch deren Glaubensbotschaft so sehr heraus, dass bereits von “gefährlichen” Liturgien gesprochen worden ist. Sie werden an der sensiblen Grenze von religiöser und staatlicher Trauerfeier begangen, die zumeist aufeinanderfolgen. An kaum einer anderen Form des Gottesdienstes lässt sich ablesen, vor welchen Herausforderungen Religionsgemeinschaften heute stehen, wenn sie, wie offensichtlich von der Gesellschaft erwartet, Verzweiflung und Fragen im gottesdienstlichen Ritual thematisieren und zugleich Mut und Lebensperspektive zusprechen.
Wenn Liturgie wirklich öffentlich wird, also den engeren Binnenraum der Kirche verlässt, stellen sich generell neue Fragen zur Theologie und Ästhetik. Angesichts der Katastrophe verschärfen sie sich markant: Ist ein gemeinsames, multireligiöses Trauern der Gesellschaft jenseits der Grenzen der Religionen praktizierbar? Welchen Platz finden darin die vielen religiösen Bekenntnisse? Ist gemeinsames Gebet möglich und sinnvoll in einer Situation, in der Menschen mehr als sonst angesichts des erlebten Grauens zusammenstehen? Zumutungen wie Herausforderungen und Aufgaben durch den religiös-weltanschaulichen Pluralismus kulminieren gerade dann, wenn in einer solchen Situation, die das Gemeinwesen besonders betrifft, eine Liturgie begangen werden soll.
Hier ist insbesondere die Liturgiewissenschaft gefordert. Sie muss Entwicklungen beobachten, analysieren und theologisch einordnen. Sie kann Kriteriologien entwickeln. Ein Erfurter Forschungsprojekt befasst sich deshalb seit einiger Zeit mit diesen “disaster rituals”. Durch Interviews mit Betroffenen wie Verantwortlichen, Film- und Textanalysen wird versucht, den Fragen um diese Feiern auf den Grund zu gehen. Dabei wird sichtbar, wie sich die Kirchen in einem Such- und Lernprozess befinden, der letztlich die Liturgie insgesamt betrifft. Als 2015 im Kölner Dom für die Opfer eines Flugzeugabsturzes in den französischen Alpen gebetet wurde, fielen nicht nur die Predigten auf. Sie waren von großer Sensibilität für die Toten wie die Hinterbliebenen geprägt, indem sie erzählten, was Christinnen und Christen in einer solchen Situation Halt gibt. Sie zeichneten sich durch Wertschätzung gegenüber Menschen ganz unterschiedlichen Bekenntnisses aus, die vor allem als Hinterbliebene in der Kirche, aber natürlich ebenso als schockiert Mittrauernde medial an der Trauerfeier teilnahmen. In der abgestürzten Maschine hatten neben Christen, Juden und Muslimen sicherlich auch Konfessionslose gesessen. Dem wurde inhaltlich und sprachlich, aber auch in der Rollenverteilung in den Texten Rechnung getragen. Ein besonderes Zeichen der Offenheit gegenüber anderen Religionen war, dass in diesem christlich-ökumenischen Wortgottesdienst eine muslimische Notfallseelsorgerin und ein Jude eine Fürbitte sprachen. Durch Kopftuch und Kippa war dies für jedermann sichtbar. Bemerkenswert ist, dass sich daran keine öffentlich wahrnehmbare Diskussion um das Pro und Contra entzündet hat.
2017 wurde in einem ebenfalls durch christliche Kirchen vorbereiteten Gottesdienst in München ein anderer Weg eingeschlagen: In den christlichen Gottesdienst war eine eigene rituelle Einheit für das Gebet einer Muslima und eines Juden integriert. (Dass ein christlich-orthodoxer Geistlicher hinzukam, irritierte an dieser Stelle, belegt aber erneut das Tasten und Suchen der Kirchen.) Beide beteten ausdrücklich aus der Sprach- und Bilderwelt ihrer Religionen zu Gott. Auch dieser Schritt hin zu mehr Präsenz anderer Religionen in solchen christlich dominierten Trauerfeiern wurde offensichtlich akzeptiert.
Doch gibt es mittlerweile kritische Rückfragen: Werden durch solche Formen des gemeinsamen Gebets die jeweiligen Bekenntnisse verdunkelt? Nimmt man dem eigenen Glaubensbekenntnis etwas, wenn man ein anderes daneben akzeptiert? Wird nur vordergründig Gemeinsamkeit gezeigt, wo eigentlich Diversitäten existieren? Letztlich werden hier scharf abgegrenzte theologische Konturen im Gottesdienst um der Unterscheidbarkeit des Bekenntnisses willen verlangt, wo in der Praxis etwas anderes dominiert: Menschen suchen Gemeinschaft und Gemeinsamkeit in einer Situation extremer Not. Sie besinnen sich angesichts von Tod und Trauer auf das Verbindende trotz allem Unterscheidendem. Das gemeinsame Klagen, Rufen, Bitten zu Gott, nicht das konfessionell-religiös Unterscheidende steht im Vordergrund. Als vor Jahren nach einem Seilbahnunglück im österreichischen Kaprun zunächst ein katholisches Requiem ohne Rücksicht auf die Bekenntnisse der Hinterbliebenen gefeiert wurde, rief das heftigen Widerspruch in Kirche und Öffentlichkeit hervor. In dieser Situation des Leids ist nicht Exklusives, sondern Verbindendes im Vordergrund. Dabei können vielfältige Artikulationen des Glaubens nebeneinanderstehen, ohne dass dies als Verlust von religiöser Identität verstanden wird. Zweifellos verlangt dies große Sensibilität aller Akteure und gegenseitige Wertschätzung. Solche Liturgien sind für Kirche und Gesellschaft ein Feld, auf dem sich die Fähigkeit zum Umgang mit den Anderen besonders eindrücklich erfahren lässt.
Ähnliches kann man auf der Ebene der Zeichenhandlungen beobachten. Wenn man auf die Zeichen schaut, die in solchen Trauerfeiern verwendet werden, fallen die Kerzenriten auf: Kerzen, die, mit Namen von Verstorbenen versehen, in die Kirche getragen werden; Kerzen, die im Gedenken an die Toten von allen Teilnehmenden entzündet werden; Kerzen, die durch ihre Zahl auf die ums Leben Gekommenen verweisen und gleichsam für deren Präsenz stehen. In der christlichen Liturgie besitzt Kerzenlicht häufig eine christologische Note, es verweist auf Christus, das Licht. Die Osterkerze oder die Taufkerze sind dafür Beispiele. Und diese Bedeutung von Licht geht in den Trauerfeiern nicht verloren. Doch steht gerade die brennende Kerze für sehr Vielfältiges: auch für Wärme in der Kälte, Licht im Dunkeln, Zusammenstehen der Gesellschaft wie in der Wendezeit in der damaligen DDR usw. Das Zeichen der Kerze ist vielfältig deutbar in der Trauerfeier, die den Rahmen für seine Interpretation setzt. Es ermöglicht Gemeinschaft im Moment größter Not und Trauer, auch wenn der Einzelne diese Zeichen mit seiner individuellen Deutung aufgrund seines Glaubens verbinden mag. Das einzelne Bekenntnis ist nicht in Frage gestellt, aber hier steht das Gemeinsame in diesem Moment im Vordergrund.
Ähnliches lässt sich mit Blick auf die Räume sagen, in denen solche Trauerfeiern stattfinden. Es gibt wenige Ausnahmen, in denen man, wie nach dem Amoklauf in Erfurt, einen anderen Ort als eine Kirche gewählt hat. Kirchengebäude sind religiös eindeutig besetzt, haben allerdings im Laufe ihrer Geschichte immer auch andere gesellschaftliche Funktionen für Stadträte, Zünfte, Rechtshändel u.a. wahrgenommen. Sie verlieren nicht ihren religiösen Charakter und verleugnen auch nicht das in sie eingeschriebene christliche Bekenntnis, wenn hier Feiern im multireligiösen Kontext stattfinden. Sie lassen in dieser Situation der Not und Trauer Platz für andere Religionen, bis hin zu den erwähnten Gebeten von Juden und Muslimen. Sie werden zu gesellschaftlich herausragenden Orten des Zusammenstehens in der Katastrophe, in dem divergierende Perspektiven auf das Geschehene zum Ausdruck gebracht werden. Gemeinsamkeiten werden in einer Situation extremer Not gesucht, ohne die je andere Glaubensidentität oder Weltanschauung zu verdrängen.
Die bisherige Form der Trauerfeier – der ökumenische Gottesdienst, in den mehr und mehr andere Religionen integriert werden – hat sich bewährt. Sie entwickelt sich sichtbar weiter. Alternativen wie das Assisi-Modell, ein Beten im Nebeneinander, sind denkbar und werden bereits praktiziert. Es muss aber diskutiert werden, ob und wie sie dem Aspekt der Gemeinschaft und des Miteinanders hinreichend Ausdruck verleihen. Entscheidend ist, dass eine „Ritendiakonie“ geleistet wird, die in symbolischer Form das Zusammenstehen der Gesellschaft ermöglicht. Fallweise wird zu entscheiden sein, was theologisch und ästhetisch möglich und sinnvoll ist. Die bisherigen Versuche in Deutschland zeigen, wie sich Liturgie angesichts der Pluralisierungen in der Gesellschaft als entwicklungsfähig erweist. Sie belegen aber auch, wie vielfältig sich Liturgie von der Gemeinde- und Sakramentenliturgie im engeren Sinne bis hin zu Liturgien im öffentlichen Raum gestaltet. Liturgie ist nicht starr, sondern lässt dynamisch Anlassbezogenheit, Stufung und Formung zu. Wenn es die Situation erfordert, kann sie andere Bekenntnisse und Weltanschauungen integrieren. Die Trauerfeiern nach Großkatastrophen sind ein Beispiel kirchlicher Ritendiakonie für die Gesellschaft. Sie dokumentieren zugleich, wie nach Formen des Gottesdienstes gesucht wird, die für die plurale Gesellschaft geeignet sind. Die theologische Diskussion darum muss weitergehen.