Noch immer hält die COVID19-Pandemie alle Länder der Erde fest in ihrem Griff und angesichts steigender Infektionsraten mischen sich Ratlosigkeit und Frustration mit Rufen nach erneut verschärften Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus und Sehnsucht nach Rückkehr zur Normalität. Die aktuelle verschärfte COVID19-Pandemie zwingt Christ:innen zur Frage, was von ihnen unter dem Vorzeichen ihres Glaubens und Bekenntnisses gefordert ist. Dabei stellt sich auch die Frage nach normativen Vorgaben in der Lehre des Jesus von Nazaret. Auch wenn Pandemien im Neuen Testament keine Rolle spielen, lassen sich mit Blick auf die neutestamentliche Jesus-Erinnerung des Neuen Testaments klare moralische Maßstäbe für Entscheiden und Handeln von Christ:innen in einer Herausforderung wie der aktuellen COVID19-Pandemie gewinnen.
Was Jesus zu Seuchen und Pandemie sagt …?
Der Blick auf die Jesus-Überlieferung und das Neue Testament lässt einen bezüglich der Frage nach Sinn und Ursache von Seuchen oder gar Pandemien unbefriedigt zurück. Seuchen und Pandemien spielen in der Jesus-Erinnerung im Grunde keine Rolle, so dass sich in der neutestamentlichen Überlieferung kein Jesus-Wort findet, in dem sich explizit die Sicht Jesu auf solche Katastrophen fassen ließe.
Allerdings bietet die neutestamentliche Überlieferung auch keinen ausreichenden Anlass für die Annahme, dass Jesus und die frühe Jüngergemeinde grundsätzlich die in ihrer Umwelt wohl mehrheitlich vertretene Sicht ablehnten, dass solche Ereignisse entweder als Strafe Gottes bzw. der Götter für Verletzungen göttlich sanktionierter Normen oder als das Wirken dämonischer Mächte zu erklären sind.
Worte, die entweder den Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde als Übertretung einer von Gott sanktionierten Norm aufheben oder die Verbindung zwischen Krankheiten und Dämonen bestreiten, sind im Neuen Testament selten. Ein entsprechendes Jesus-Wort findet sich im Johannesevangelium in der Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen (z.B. Joh 9,2f.). Hier formulieren die Jünger in einer Frage an Jesus die traditionelle Sicht ihrer Zeit auf die Ursache von Krankheit: „Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, sodass er blind geboren wurde?“ Und Jesus antwortet ihnen: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“ Dieses Wort, das sich nicht als authentisches Jesus-Wort erweisen lässt, ist auf den konkreten Einzelfall jenes Blindgeborenen bezogen und damit keine generelle und grundsätzliche Zurückweisung des Zusammenhangs von Sünde und Krankheit. Damit wird das Wort in seinem Kontext in anderer Hinsicht problematisch: Die Krankheit des Blindgeborenen ist von Gott gewollt, damit er zum Objekt der Demonstration der Vollmacht und Sendung Jesu werden kann.
Nächstenliebe und Goldene Regel als Maßstab der Nachfolge Jesu in der Pandemie
Seuche oder gar Pandemien spielen in der Jesus-Erinnerung zwar keine Rolle, so dass sich in der neutestamentlichen Überlieferung kein Jesus-Wort findet, das als explizite Handlungsanweisung für das Verhalten frommer und gottesfürchtiger Menschen in einer Pandemie angeführt werden könnte. Dennoch bietet die neutestamentliche Jesus-Erinnerung ausreichend und eindeutig genug Orientierung dafür, was in der COVID19-Pandemie von Christ:innen in der Nachfolge Jesu gefordert ist.
Über die moralische Forderung, die sich aus der Lehre Jesu an jeden stellt, der an ihr Maßnehmen will und sich durch Jesus in seinem Entscheiden und Handeln gebunden fühlt, kann es keinen Zweifel geben: Wer Abstand hält und Maske trägt, wer seine Kontakte reduziert, wer sich gegen das Corona-Virus impfen lässt, … wer alles tut, um eine Ausbreitung des Virus einzudämmen, schützt vor allem andere und folgt damit der Ethik Jesu, wie sie das Gebot der Nächstenliebe und die Goldene Regel vorgeben.
Der Jesus der neutestamentlichen Überlieferung fokussiert das Gesetz und damit den Willen Gottes in der Forderung: „Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden“ (Mk 12,29–31; Mt 22,37–40; Lk 10,26f.; vgl. Dtn 6,4f.; Lev 19,18).
Was Nächstenliebe bedeutet, das erschließt und konkretisiert die neutestamentliche Jesus-Erinnerung mit Hilfe der in der antiken Ethik weit verbreiteten Goldenen Regel: „Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen“ (Mt 7,12; Lk 6,31).
Gegenstand der Selbstliebe ist die Sorge um das eigene Leben und die eigene Gesundheit. Wie der Mensch um das eigene Leben und die eigene Gesundheit besorgt ist, so soll und muss er in der Nachfolge Jesu um Leben und Gesundheit aller anderen besorgt sein und bereit sein, den Nächsten und sein Leben und seine Gesundheit über aller eigenen Wünsche zu stellen.
Die Nächstenliebe mag es nötig machen, im konkreten Einzelfall verantwortet die geforderten Kontaktbeschränkungen zu übertreten, sie kann und darf aber nicht zur Rechtfertigung werden, alle Regeln zu ignorieren, die nach menschlichem Ermessen und nach Stand der medizinischen Erkenntnis die Gefahr der Ansteckung und die Zahl der Infektionen minimieren und so das Leben und die Gesundheit der anderen schützen.
Mit Blick auf das Gebot der Feindesliebe (vgl. Mt 5,43.46; Lk 6,27.32.35), das besagt, dass niemand von der Nächstenliebe ausgeschlossen werden darf, muss man festhalten, dass in der Nachfolge Jesu auch jene, die ohne gerechtfertigten Grund eine Impfung verweigern oder eine Gefährdung durch das Corona-Virus leugnen und Vorsichtsregel missachten, Objekt der Nächstenliebe und damit der wohlwollenden Rücksichtnahme bleiben.
Der wahre Gottesdienst in Zeiten der Pandemie
Das Gebot der Gottesliebe kann und darf nicht über das Gebot der Nächstenliebe gestellt und nicht gegen das Gebot der Nächstenliebe ausgespielt werden, um damit im Namen Jesu und der Bibel gegen notwendige und sinnvolle Einschränkungen bei der Abhaltung und Durchführung von Gottesdiensten oder Gemeindeversammlungen zu opponieren.
Vielleicht muss man sogar sagen, dass zumindest in einer Situation wie der aktuellen COVID19-Pandemie Nächstenliebe in Form der Kontaktbeschränkung und aller anderen nötigen Maßnahmen zur Vorbeugung von Infektionen mit dem Corona-Virus bis hin zur Impfung der von allen in der Nachfolge Jesu geforderte Gottesdienst ist (vgl. Mk 12,32–33; Lk 10,29–36).
Erinnert sei an das fundamental kultkritische Wort, das zweimal im Mund des matthäischen Jesus erscheint und ihn in die Tradition der großen alttestamentlichen Prophetie stellt: „Barmherzigkeit will ich nicht Opfer“ (Mt 9,13; 12,7; 23,23; vgl. Hos 6,6).
Die Schwachen, denen im Namen Jesu und seines Gottes Solidarität erwiesen werden muss, finden sich in der aktuellen Pandemie in der Gruppe der Vulnerablen, bei denen eine Infektion mit dem Corona-Virus in besonderer Weise die Gesundheit und das Leben bedroht und die sich durch eine Impfung selbst nicht oder nur eingeschränkt schützen können. Die geforderte Barmherzigkeit und den geschuldeten Gottesdienst können Christ:innen in Zeiten der Corona-Pandemie deshalb nur dann realisieren, wenn sie körperlich auf Abstand bleiben, wenn sie Masken tragen und andere nötige Hygieneregeln einhalten und wenn sie sich impfen lassen.
Erinnert sei hier auch an das Wort des johanneischen Jesus, dass Gott Geist ist und im Geist und in der Wahrheit angebetet werden muss (Joh 4,23f.).
Der Gott Jesu und die Solidarität mit den Schwachen
Mit Jesus und dem Neuen Testament jedenfalls lässt sich keine Ablehnung der derzeitigen Einschränkungen begründen, auch wenn sie unser gewohntes kirchliches Leben mit Zusammenkünften und liturgischen Feiern betreffen. Mit Blick auf den Gott der prophetischen Tradition des Alten Testaments und auf den Gott, den Jesus von Nazaret geglaubt und verkündet hat, müssen alle, die sich auf Jesus und die biblische Tradition berufen wollen, den Gott zum Maßstab ihres ethischen Entscheidens und Handelns machen, der bedingungslos die Partei der Schwachen und Armen ergreift (vgl. Jes 1,10–17; Jer 11,15; Hos 6,6; Am 5,7.10–15.21–27 u.ö.).
Dies bedeutet auch, dass die Impfung für Christ:innen kein Freibrief sein kann, alle Beschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen beiseite zu lassen und gewohnte Freiräume zu beanspruchen. Auch für Geimpfte bleiben unter dem Vorzeichen der Nächstenliebe und der Goldenen Regel die Belange der Schwächsten Maßstab ihrer ethischen Entscheidungen und Handlungen, also jene, die sich aufgrund von Vorerkrankungen nicht impfen lassen können oder nur über einen stark eingeschränkten Impfschutz verfügen.
Im Licht der biblischen Tradition und der Verkündigung Jesu verbietet sich deshalb jede ethische Option, die nicht radikal und bedingungslos am Leben als höchstem und nicht hinterfragbarem Prinzip ethischen Entscheidens und Handelns festhält.
Jesus und die Bibel lassen sich deshalb auch nicht gegen die Warnungen und Empfehlungen von Virolog:innen und auch nicht gegen eine Politik, die sich an den Ratschlägen der Virolog:innen orientiert, in Stellung bringen. Christ:innen sollen nicht nur, sondern müssen auf Virolog:innen und andere Mediziner:innen und Fachleute hören, um in der aktuellen Situation Jesu Gebot der Nächstenliebe und seine Forderung der Barmherzig realisieren und leben zu können.
Thomas Johann Bauer ist Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Katholisch-Theologischen Fakultät.