Es gibt eine lange theologische Tradition, Krankheiten und Epidemien als eine “Strafe Gottes” zu interpretieren. Betroffene werden damit als moralisch verwerfliche Menschen stigmatisiert. Dagegen protestiert unser Kirchenhistoriker, Prof. Dr. Jörg Seiler: Der kranke Körper müsse von Kategorien wie “rein” oder “unrein” freigemacht werden, denn eine “moderne Theologie bedarf keiner Reinheitsvorstellung.” Im Gegenteil: “Gerade der geschundene und durch Krankheit und (Über-/Lebens-)Geschichte gezeichnete Körper repräsentiert einen weltbezogenen Gott.”
“Caro cardo salutis” – Das Fleisch ist der Angelpunkt des Heils (Tertullian, De ressurectione carnis VIII,2) – dies gilt auch und gerade bei/für beschädigte(n) Körper(n). Kranksein ist keine Strafe Gottes. Krankheit ist kein pädagogisches Lernfeld. Kranke sind moralisch nicht defizitär. Hiermit sind Grundsätze benannt, deren Gültigkeit heute (weitestgehend) anerkannt ist. Diese Gültigkeit ist aufgrund der Menschenwürde Erkrankter gegeben und wird auf dieser Grundlage und unter Achtung des Personalitätsprinzips verteidigt.
Eine der Voraussetzungen dieser Grundsätze war etwa seit dem 17. Jahrhundert die Erkenntnis, dass der menschliche Körper und seine Krankheiten empirisch-naturwissenschaftlich (d.h. ohne Tabu; ohne normierende Vorannahmen und Rücksichtnahmen) untersuchbar zu machen ist. Damit änderten sich auch die kategorialen Mittel zur Bekämpfung von Krankheit. Dass es chemische Grundbedingungen von Organismen sind, auf die man mit chemischen Mitteln Wirkungen erzielen kann (und nicht nur auf die Kalt-Warm- und Nass-Trocken-Relationen), ist erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt, parallel mit den enormen Entdeckungen der Biochemie. Chemische Heilmittel waren in der westlichen Welt seit Paracelsus im 16. Jahrhundert eingesetzt worden. Viren als Erreger von Krankheiten sind Ende des 19. Jahrhunderts diagnostiziert worden, wobei der Begriff im Sinne von “Gift/giftig” seit der Antike bekannt war. Bakterien als kleine Organismen wurden erstmals 1676 beschrieben.
– Jörg Seiler
In früheren Zeiten wurde das Erkranken, vornehmlich das epidemische, massenhafte Erkranken, dessen bakteriellen und viralen Ursachen man nicht kannte und das daher nicht auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden konnte, übernatürlich konnotiert. Wer natürliche Ursachen nicht kennt, wer sie nicht analysieren und geeignete Gegenmittel entwickeln kann, wird natürliche Behandlungen nur zur Symptomlinderung anwenden, wobei Hygiene als Prophylaxe gegen Krankheit grundsätzlich bekannt war. Da Symptomlinderung jedoch nicht Heilung bedeutet, muss die “eigentliche” Ursache jenseits der materiellen Ebene liegen. Die natürliche Erfahrung wird auf übernatürliche Wirkung zurückgeführt. Man kann also nicht nur an Gott, sondern auch durch Gott (gleichermaßen wie durch einen Teufel) erkranken. Wenn man “Heil” auf ewiges Heil und Erlösung (“von dem Bösen”) engführt und es gewissermaßen verjenseitigt, und zudem Heil und Heilung eng zusammendenkt, ist es ein kleiner Schritt, Nicht-Gesundsein moralisch zu konnotieren. Hierbei spielt es keine Rolle, dass in neutestamentlicher Perspektive “Jesus, der Arzt” (Mk 6,5f.; ein bereits in der Alten Kirche etablierter Topos), Krankheit individueller Sünde nicht zuordnete. Die kirchliche Tradition blieb an kulturelle Vorstellungsmuster gebunden, die den jeweiligen Wissenskontexten entsprachen.
Epidemische Erkrankungen verliefen ohne geeignete wirksame Gegenmittel oft tödlich. Wenn nun der Tod als “Sold der Sünde” verstanden wird (Röm 6,23), wurde es möglich, den plötzlichen, elenden und epidemischen Tod – der alle ohne Ausnahme treffen konnte – und bereits die zum Tod führende Krankheit auf individuelle Sünde zurückzuführen. Oder allgemeiner formuliert: Krankheit und Gesundheit wurden zu Parametern des (gesunden oder kranken) Gottesverhältnisses. Über den körperlichen Ausnahmezustand wird dann die Kategorie der moralischen Reinheit oder Unreinheit geistig verhandelt. Mit fatalen Folgen.
Man kann dies an der Pest beobachten. Da man weder die bakterielle Verursachung noch lange Zeit in der westlichen Welt die Übertragungswege kannte, wurde die Pest seit ihrem ersten Auftreten im 6. Jahrhundert bis zur weitgehenden Ausrottung innerhalb von Europa im 18. Jahrhundert als Strafe Gottes für menschliche Sünden gesehen. Um diese Strafe abzuwenden, aktivierten Kirche und Gläubige geistliche Heilmittel: Wallfahrten und Prozessionen, Bittgänge und Bittgebete, fromme Stiftungen und Gelübde, Messen und Bußübungen u.v.m.
Einige wenige historische Beispiele und Hinweise seien als Hintergrund der nachfolgenden kulturwissenschaftlich-theologischen Interpretation aufgerufen:
(1) Markantes Beispiel dafür, durch Akte der Buße dem “pestilenzischen” Unheil zu wehren, waren die (als solche bereits im 13. Jahrhundert bekannten) Geißlerzüge der Pestjahre 1348 und 1349, in denen performativ die Geißelung Jesu und der Weg zur Kreuzigung körperlich nacherlebt und überhöht wurde. Diese Selbstgeißelung besaß als öffentliches Bußwerk mit klarem Ablauf liturgische Qualität. Kleriker schritten gegen diese, v.a. in der Frühzeit auch antiklerikal ausgerichtete und von laikalem Selbstbewusstsein getragene Bewegung ein, da ihr die amtlich geordneten und sanktionierten Ritualformen (v.a. im Bereich des Bußwesens) zu entgleiten drohten. Auch musste das ekstatische Moment in seiner chaotischen Gefährlichkeit und hysterischen Attraktivität entwaffnet werden.
(2) Prominentestes Beispiel eines Gelübdes, mit dem Gott motiviert werden sollte, eine dörfliche Gemeinschaft zukünftig vor der Pest zu verschonen, stellen die Oberammergauer Passionsspiele seit 1634 dar. Der regelmäßigen (seit Ende des 17. Jahrhunderts eigentlich 10-jährigen) Sichtbarmachung der Passion Jesu wurde (wird?) unheilverhindernde Qualität zugetraut.
(3) Zu diesen performativen Akten tritt die Zuflucht zu wirkmächtigen Beschützern hinzu, deren Hilfe im Gebet und durch Fürbittgesuche erfleht wurde. Man stellte sich die Infektion – ein moderner Begriff – als getroffen werden durch Pfeile vor. In diesem Bild wird angedeutet, dass Haut durchstoßen und etwas Fremdes in den Körper “hineingetan” wurde (inficere = wörtl. hineintun; anstecken, vergiften) – und seien es eben die todbringenden Pfeilspitzen. Nicht von ungefähr gilt der von Pfeilen durchbohrte Märtyrer Sebastian als Schutzpatron der Pestkranken. Und auch der Mantel der Gottesmutter diente als Schutzschild, unter dem man Zuflucht vor der Pest finden konnte. Andere, materielle Schutzschilde kamen hinzu, um gegen die göttlichen Pestpfeile gewappnet zu sein. Als Heilmittel gegen Pest und Fiebererkrankungen allgemein galten Pestwasser und Kreuzwasser. Durch das Eintauchen des Kreuzes (idealerweise mit einer Kreuzreliquie) wurde Wasser zu Heilwasser, das bei Fieber beim Kranken das “Heil für Körper und Seele” (!), so das entsprechende Segensgebet, bewirken solle. Bei der Verehrung des hl. Rochus, des Hauptheiligen bei Pest, spielte das Kreuz ebenfalls eine Rolle. Mittels des Kreuzzeichens soll er seit 1317 Pestkranke geheilt haben. Allerdings infizierte er sich selbst. Wie auch für andere heilwirkenden Zeichenhandlungen typisch, gelang ihm für sich selbst die Selbstheilung nicht: Er erkrankte an Beulenpest (ikonographisch erkennt man ihn i.d.R. an einem Pestgeschwür am Oberschenkel) und wurde durch die Pflege eines Engels geheilt. Für einen Menschen des Spätmittelalters waren die Sphären des Natürlichen und Übernatürlichen amalgamisiert. Erst die Theologie des 19. Jahrhunderts meinte, hier eine von Über- und Unterordnungskategorien bestimmte Qualitätsbeschreibung fixieren zu müssen. Zurück zu Rochus: Als körperlich entstellter Mann wurde er in seiner Heimat nicht mehr erkannt und als vermeintlicher Spion ins Gefängnis geworfen. Sein Auftreten wirkte als Fremdkörper in einer exklusiven und dadurch exkludierenden Bürgerschaft. Rochus wurde ausgeschlossen und von der Teilhabe am Leben seiner Heimatstadt abgeschnitten. Erst ein kreuzförmiges Muttermal identifizierte den bis dahin unbekannt geblieben Heiligen nach seinem Tod. Auch andere Sozialgruppen konnte im Kontext der Pest die Exklusion treffen: Für Juden wurde sie zum tödlichen Verhängnis.
(4) Universitätsgelehrte des 14. Jahrhunderts diskutierten jedoch auch, anders als Prediger, “wissenschaftliche” Erklärungen der Pest, oder wenigsten solche, die nicht übernatürlich ansetzten. Man brachte die Pest etwa mit falscher Ernährung oder unkeuscher Sexualität in Verbindung. Auch wurden Sternenkonstellationen als Ursache benannt. Neben den geistlichen Heilmitteln wurden auf dieser Diskursebene auch Medikamente, Heilkräuter oder (fromme?) Beschwörungsformeln verordnet. Die Medizinische Fakultät der Universität Paris stellte 1348 ein Kompendium zur Epidemia (Compendium de Epidemia) zusammen. Die Gelehrten machten ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren für den Ausbruch der Seuche verantwortlich: allgemeine Schwäche, Angst und Fettleibigkeit. Die spätmittelalterliche Mangel- und Fehlernährung lässt sich quellenmäßig recht gut belegen. Die als Gegenmittel beschriebene Ernährungsumstellung hätten sich, wäre sie überhaupt ernsthaft befolgt worden, nur gebildete und vermögende Menschen leisten können. Dasselbe gilt für die prophylaktischen Maßnahmen: Kein Bauer oder Tagelöhner des Mittelalters konnte sich ein warmes, trockenes Zimmer, wie empfohlen, leisten. Eine Unterbekleidung aus Leinen trugen wohl die wenigsten “einfachen Leute” unter dem groben Wollgewand oder unter der Bekleidung aus billigen Fellen (von Hase, Katze, Fuchs oder Schaf) – all dies (Feuchtigkeit, Woll- und Fellbekleidung) stellte ein ideales Biotop für den Rattenfloh dar, der die Pest nach dem Tod seiner Wirtstiere auf den Menschen überträgt. “Andere Ratschläge waren für die Armen der reine Hohn: Weniger arbeiten, sich mit mäßiger Körperarbeit begnügen, den Kopf beim Schlafen hoch betten auf ‘guten und wohlduftenden Bettlaken’, aromatische und teure Desinfektionsmittel benutzen, Weihrauch, Myrrhe und Aloe aus Socotora, und das Schlafzimmer mit Rosenwasser besprengen” (Michel Mollat, Die Armen im Mittelalter).
– Jörg Seiler
Welche theologische Relevanz könnten diese Hinweise auf historische Episoden haben?
(1) Wenn Erkrankung als Folge göttlichen Tuns interpretiert wird, so wurde sie weitgehend individuell zugeordnet. Buße als Heilmittel wurde dann jedoch nicht nur individuell geleistet, sondern auch kollektiv inszeniert. Mir scheint, dass gerade die spätmittelalterliche Frömmigkeit das Krankwerden durch Gott weniger als Folge und Ausdruck des Zornes Gottes versteht (Ps 6,1: “Strafe mich nicht in deinem Zorn”). Ihr Fokus richtet sich vielmehr auf die Nachahmung des Leidens Jesu. Das Mimetische besteht darin, dass der Schmerzensmann sich meinem Schmerz anverwandelt (und nicht umgekehrt). Krankheit – hierin besteht die entschiedene und bleibende Perspektive dieser spätmittelalterlichen Frömmigkeit – ist keine Strafe Gottes (mehr), vielmehr macht die von Gott selbst vor-/mitgetragene Krankheit sichtbar, dass Gott sich als Leidender von der Sicherheit des Heilwerdens selbst frei macht, um einer grundsätzlichen und unbedingten Solidarität seiner selbst mit dem Menschen willen.
(2) Der beschädigte, kranke Körper muss von den Kategorien “rein – unrein” frei gemacht werden. Zu jeder Zeit war der Zusammenhang zwischen Hygiene, körperlicher Nähe und Krankheit gewusst worden (dies ist die Pointe vieler alttestamentlicher Reinheitsvorschriften). Eine moderne Theologie bedarf keiner Reinheitsvorstellungen. Der selbst-misshandelte Körper (Geißler), der fremd-misshandelte Körper (hl. Sebastian) oder der durch Pestbeulen verunstaltete Körper (hl. Rochus) wird nicht in einen “reinen”, idealen, schönen und wohlgestalteten Körper hinein (zurück)geheilt. Indem der Schmerzensmann gezeigt wird, bekommt das Monströse im wörtlichen Sinne (monstrare = lat. zeigen) seine Heiligkeit. Indem im Blick des den leidgeplagten Menschen anschauenden Schmerzensmannes Gott sich selbst in seiner Verunstaltung sieht, werden Kategorien von “rein – unrein”, wenn nicht obszön (im Sinne von ekelhaft), so doch zumindest fragwürdig. In der Frömmmigkeitsgeschichte des Christentums — nicht zufällig im 17. Jahrhundert – wird diese Obszönität durch Margareta Maria Alacoque radikal persifliert. Von ihr wird gesagt, dass sie als Bußübung Extremente eines kranken Mannes sich oral einverleibt habe oder auch, dass sie mit ihrer Zunge Erbrochenes aufgeleckt habe. Man kann diese bewusst obszönen Gesten – so etwa Mary Daly – als masochistische Selbstverdemütigung analysieren.
Mir legt sich hingegen eine Deutung nahe, die von der Überwindung der Rein-Unrein-Dichotomie her denkt. Heiligkeit wird durch Unreines nie befleckt, da dessen moralische “Disqualität” im Kontext des Heiligen paradox beseitigt ist. Mehr noch: Die körperliche (caro) Unreinheit wird zum Angelpunkt (cardo) von Heiligkeit (salutis). Nicht anders ist die Begegnung des hl. Franziskus mit den Aussätzigen zu verstehen, nicht anders das Bild der Exkremente verzehrenden Büßerin, die sozial von ihrer Schwesterngemeinschaft ausgegrenzt ist. Dass es dann das 19. Jahrhundert sein sollte, in dem diese Nonne seliggesprochen und dass es dann die lasziven beginnenden 1920er Jahre sein sollten, die die Erhebung zur Heiligkeit brachten, verwundert nicht. Die von Alacoque propagierte Herz-Jesu-Verehrung wurde im Kontext der ultramontanen Frömmigkeitsnormierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ein auf individuelle Reinheit abzielendes Frömmigkeitsregime missgestaltet – eine tragische Vereinseitigung, die dringend in der Herz-Jesu-/Herz-Marien-Frömmigkeit überwunden werden müsste – nicht zuletzt angesichts der Herz-Weihe-Diskussionen in Zeiten von Corona! Man kann entsprechende Weihen mit frommem Vertrauen gerne vornehmen, dann aber bitte nicht mit Reinheits- oder Reinigungskategorien. Das Weihegebet an das Herz Jesu von Alacoque formuliert so: “So tilge in mir, was dir missfallen oder widerstehen kann. Deine reine Liebe durchdringe so tief mein Herz, dass ich deiner niemals vergessen und von dir mich niemals trennen kann.” Reinheit transponiert von Jesus her also Missfallendes und Widerständiges, indem in einer Art Operation das Herz Jesu das menschliche Herz durchstößt. Auch hier wirkt das mimetische Moment: Das durch die Lanze des Hauptmanns durchstoßene Herz des Gekreuzigten bewirkt einen Ausfluss “reiner Liebe”. Auf die Pestpfeile analog angewendet: Die Infektion mit Gott führt zur transzendenten Reinheit. Nicht eigene Reinheit, sondern Verseucht- und Kontaminiertsein durch Gottes Liebe ist das Ziel. Reinheit ist keine Option: “We are contaminated by our encounters; they change who we are as we make way for others. As contamination changes world-making projects, mutual worlds—and new directions—may emerge. Everyone carries a history of contamination; purity is not an option” (Anna Lowenhaupt Tsing). Die Vorstellung von „rein-unrein“ und ihre Vergeistigung hat in der Geschichte der westlichen Christenheit unendlich viel Unheil angerichtet und tut dies immer noch. Arnold Angenendt hat dies am Beispiel der Kreuzzüge gezeigt. Sie muss dringend überwunden werden und durch Begriffe, Bilder und Vorstellungen ersetzt werden, die gerade vom Schwachen her die Kraft der Wirksamkeit Gottes beschreiben.
Dass eine theologische Verabschiedung der Rein-Unrein-Dichotomie dringend nötig ist, zeigt der Umgang von christlichen (mittlerweile heute hoffentlich nur noch: Rand-)Gruppen mit dem durch das HI-Virus ausgelösten AIDS. Wenn hier immer noch über eine “Strafe Gottes” sinniert wird, die auf vermeintlich widernatürliches Sexualverhalten zurückzuführen ist, so muss dem wenigstens um der Menschenwürde der an AIDS erkrankten Personen willen, wenn nicht um der Dignität Gottes willen, widersprochen werden. Gott tötet nicht.
– Jörg Seiler
(3) Als Historiker beschreibt, analysiert, versteht und interpretiert man die alten Bilder, die Quellen, Traditionen, Frömmigkeitsformen etc. aus den Gegebenheiten der vergangenen Zeit heraus. Sie sind vor allem dies: gleichgültig im doppelten Sinn des Wortes. Weder sind vergangene Traditionen normativ noch irrelevant. Diese Zugehörigkeitskategorien sollte ein Historiker möglichst nicht verwenden. Innerhalb der Theologie sind diese Traditionen jedoch wirksam. Daher bedürfen sie hier dringend einer Analyse und ggf. einer Würdigung oder Ablehnung, die die Denk- und Erlebensmodi der heutigen Zeit mitbedenkt, also aktuelle Denkkategorien und die Kontexte des gegenwärtig gelebten Glaubens und der (Un-)Glaubenserfahrung der Gläubigen in einem jeweiligen kulturellen Umfeld berücksichtigt. Nur weil etwas Tradition ist, ist es nicht per se gut oder per se schlecht. Die vergangenen Zeiten waren nicht defizitärer oder reicher als wir. Sie waren anders. Wer in Zeiten von Corona den heiligen Rochus um Hilfe bitten mag und dadurch getröstet ist, soll dies tun. Wer mit dieser Form nichts mehr anfangen kann, sollte dies bleiben lassen und in anderen Formen nicht weniger getröstet sein. Wer höhnisch oder im Gestus des Wahrheitsbesitzes hier Normierungen vornimmt, beleidigt im Beleidigten Christus selbst.
Die Beobachtung, dass Frömmigkeitsformen Repräsentationen abbilden und Machtverhältnisse nicht nur dokumentieren, sondern auch sanktionieren, ist kein Angriff auf die Frömmigkeitsformen, sondern ein Appell, sie auf ihre Angemessenheit hin zu befragen. Kirche und Theologie müssen ihr Tun diskursiv verstehen. Wer eine digital übertragene Privatmesse verantwortet, muss im 21. Jahrhundert auch die Eigendynamik des Mediums und die Medialität der Übertragung berücksichtigen. Nie kam ich etwa Kardinal Woelki — ein relativ beliebiges Beispiel – näher als bei seiner Predigt während des Pontifikalamtes zum Hochfest des hl. Josef im Seitenschiff des Kölner Doms. “Trotzdem weiß ich immer noch nicht, wie er riecht.” Will sagen: Mich lenkt diese medial mit einer Kameraeinstellung hergestellte körperliche Nähe zum Gesicht des Kardinals ab. Wer hat solche Einstellungen inszeniert? Warum? Sie fördern nicht meine Andacht: Mal von oben, immer nahe an dem, der gerade liturgisch aktiv ist. Wird hier der Unsichtbare wirklich transparent (niemand würde ja ernsthaft behaupten, es sei der konkrete Körper des Priesters, der “persona Christi” sei, und nicht die verkörperte Rolle)? Am Ende war ich verwirrter. Um wieviel mehr wirksamer wäre zumindest zuweilen, etwa während der Predigt, bei der es ja nicht um den Prediger geht, eine längere Standeinstellung auf eines der auf den Himmel hin transparenten Kunstwerke des Kölner Doms gewesen. Ich mache nur Andeutungen. Erst wer diese Fragen beantworten kann, darf Kritik an dieser Form der Privatmesse zurückweisen.
Das Fleisch ist der Angelpunkt des Heils (Tertullian, De ressurectione carnis VIII,2). Wir leben als Menschen durch körperliche Vorgänge, in verkörperlichten Zuständen und körperlich bedingt. Hiermit ist kein defizitärer Zustand beschrieben. Gerade der geschundene und durch Krankheit und (Über-/Lebens-)Geschichte gezeichnete Körper repräsentiert einen weltbezogenen Gott. Der Umgang des Auferstandenen mit seinen Jüngern zeigt, dass Heilsein als Körperwissen zugänglich sein muss, auch weil der Mensch nicht nur in seinem geschundenen Körper spürt, wie sehr er (noch) nicht heil/geheilt ist. Gott wurde nicht in einem makellosen Körper Mensch.
Prof. Dr. Jörg Seiler ist Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Erfurt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte des Deutschen Ordens im Reich, Kirchengeschichte in kulturwissenschaftlicher Perspektive und Historische Friedensforschung bzw. Kirche im Krieg. Seit Oktober 2019 steht er der Fakultät als Dekan vor.