Deutschland ist ein weltanschaulich neutraler Staat. Als solcher hat er ein vitales Interesse daran, religiöse Gemeinschaften zu fördern. Ein Widerspruch? Keinesfalls. Vielmehr eine logische Folge. Unter dem Titelthema “Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?” widmeten sich die Erfurter Kreuzgang-Gespräche in diesem Jahr dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Beleuchtet wurden die wechselseitigen Ansprüche sowie der demokratische Auftrag dieser Beziehung. Ein Rückblick.
von Desiree Haak
Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen – in diesem Jahr werden Thüringens Bürgerinnen und Bürgern wiederholt an die Wahlurne gerufen, um dort über die Zukunft ihrer Gemeinden, ihres Freistaates und ihres Europas zu entscheiden. Neben den Themen Klimaschutz und sozialer Spaltung, scheinen auch Diskussionen über kulturelle und religiöse Freiheit im Wahlkampf immer wieder durch.
Letztere rückt umso mehr in den Fokus, da sich das religiöse Angesicht der Bundesrepublik derzeit dramatisch wandelt: Die christlichen Kirchen als Volkskirchen schrumpfen. Nur noch 60% der Deutschen fühlen sich christlich gebunden, in den ostdeutschen Bundesländern sogar nur 26%. Im Gegenzug steigt die Zahl der Muslime und Konfessionslosen, die Freiräume suchen, um ihr Bekenntnis und ihre Kultur zu leben. Manch einem mag dies ein Dorn im Auge sein , dabei sind die Religionsfreiheit und die neutrale Haltung des Staates gegenüber dem religiösen Leben seiner Bürgerinnen und Bürger im deutschen Grundgesetz fest verankert.
Mit dieser These eröffnete Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, am 8. Mai die diesjährigen Kreuzgang-Gespräche. Ausgehend von der Frage “Nur eine hinkende Trennung?” ergründete er die historischen und rechtlichen Grundlagen des deutschen Staatskirchenrechtes. Das Verhältnis zwischen Staat und Religion müsse dabei stets unter den Bedingungen religiös-weltanschaulicher Pluralität betrachtet werden, erklärte er. Damit lenkte der Jurist den Blick auf historische sowie moderne Gesellschaften, in den verschiedene Weltanschauungen nebeneinander leben und wirken. In dieser weltanschaulichen Vielfalt müsse der Staat einen neutralen Standpunkt wahren, denn: „Nur ein Staat, der nicht auf religiösen Werten basiert, kann Frieden in einer Zeit religiöser Kriege sicherstellen“, argumentierte Papier.
Gleichwohl warnte er vor einer Fehlinterpretation dieser Doktrin: Dass der Staat in religiösen Fragen keine Position beziehe dürfe, habe nicht zu bedeuten, dass er religiöses Leben aus dem öffentlichen Raum verbanne. Im Gegenteil: Papier betonte, dass der Staat “ein Interesse an der religiösen Vielfalt seines Volkes” habe. Nur so könne er dem unverhältnismäßigen Erstarken einzelner Gesinnungen und damit der Formierung extremistischer Strömungen vorbeugen: “Säkularität ist für die öffentliche Ordnung des Staates, nicht aber für den öffentlichen Raum gefordert”, so der Rechtswissenschaftler.
Unter der daraus folgenden Frage “Was wünscht sich der Staat von den Kirchen?” knüpfte Dagmar Schipanski am 15. Mai an das Staatskirchenrecht an. Auch die ehemalige Präsidentin des Thüringer Landtages unterstrich die Notwendigkeit eines partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, indem sie forderte: “Als christlich-demokratische Politikerin wünsche ich mir, dass die Kirche zum geistigen Fundament unserer Gesellschaft ihre Haltung öffentlich einbringt. Wir brauchen eine Wertediskussion, bei der die Kirche ein wichtiger Partner ist.” Mit Blick auf eine zunehmende religiöse Vielfalt Deutschlands, in der Werte neu verhandelt werden müssten, warnte sie außerdem: “Wir wollen keinen Kampf der Kulturkreise. Wir wollen Integration und friedliches Zusammenleben.” Einem populistischen “Kampf der Kulturen” müsse ein “Dialog der Kulturen” entgegengesetzt werden.
Nach Schipanski ist es damit die Aufgabe der Kirchen, sich mit einer starken Stimme in eine öffentliche Debatte um geistige und sittliche Grundhaltungen einzubringen – erst recht, wenn sowohl auf globaler als auch regionaler Ebene verstärkt ein Kampf gegen Aggressivität und Terrorismus geführt werde. Wie schon Papier betonte auch sie, dass nur die offene und vielfältige Diskussion Gesellschaft und Staat vor einem Abdriften in extreme Haltungen bewahren könne: “Das gesellschaftliche Klima muss sich wieder der Mitte der Gesellschaft zuwenden”, forderte sie, “und darf sich nicht über Randgruppen definieren. Hier unterstützt die Kirche den Staat.”
Weiterhin verwies die CDU-Politikerin in ihrer Forderung nach Offenheit und Toleranz auf ein Grundelement nicht nur des christlichen Menschenbildes, sondern ebenso der deutschen Verfassung: die Menschenwürde. Sie gelte unabhängig von jeglichen religiösen Überzeugungen und sei die Achse, um die alles politische sowie staatliche Handeln kreise.
Der Begriff der Menschenwürde war auch im letzten Kreuzgang-Gespräch am 22. Mai ein wiederkehrendes Motiv. Am Vorabend des 70. Jahrestages des deutschen Grundgesetzes hob Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising sowie Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, explizit die Bedeutung des Artikel 1 GG hervor: “‘Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt'”, zitierte er. Weiter fuhr er fort: “Da lässt sich das christliche Menschenbild nicht nur erahnen, da ist es wirklich spürbar, [denn] die Würde des Menschen haftet an jedem Menschen. Nicht der Staat vergibt sie. Er kann sie auch niemandem nehmen. Auch kann der Staat keine Antwort geben, woher sie kommt.”
Entlang der Frage des Abends, “Was können die Kirchen dem Staat anbieten?”, erklärte der Erzbischof, dass eine Trennung von Staat und Kirche niemals aseptisch rein sein könne: hier der Staat, dort die Kirche. Dennoch sei eine gedankliche Trennung notwendig – schon deswegen, damit der Staat Gott nicht instrumentalisieren und ihn “zu einem benutzbaren Gegenstand” im Dienst der eigenen Interessen machen könne. Auch forderte Marx den Staat dazu auf, in seiner weltanschaulichen Haltung “neutral, aber nicht indifferent” zu sein. Stattdessen läge die aktive Förderung religiöser Gemeinschaften im Interesse der Demokratie, denn “der Bürger soll eine Vielfalt weltanschaulicher Möglichkeiten haben, um sich zu entscheiden.” Gleichwohl sei in dieser Freiheit das individuelle Handeln und die eigene Positionierung aktiv gefordert, weswegen der Geistliche abschließend an seine knapp 250 Zuhörerinnen und Zuhörer appellierte: “Entscheide dich und tu’ etwas!”
Die Kreuzgang-Gespräche sind ein gemeinsames Angebot der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt sowie des Katholisches Forums, der Akademie im Bistum Erfurt. Sie werden immer im Frühjahr veranstaltet. 2020 wird die Veranstaltungsreihe unter dem Thema „Heimat“ stehen.