Als Projekt des Friedens und der Völkerverständigung erbaut, hat die europäische Union durchaus christliche Wurzeln. Doch gerade in Mittel- und Osteuropa scheint sich die katholische Kirche stellenweise zunehmend von Europa zu entfremden. Zu diesem Schluss kamen jüngst die Organisator*innen einer internationalen Tagung in Belgien: Prof. Dr. Walter Lesch aus Louvain-la-Neuve sowie von Erfurter Seite das Leitungsteam des Theologischen Forschungskollegs, Prof. Dr. Julia Knop, Prof. Dr. Benedikt Kranemann, Prof. Dr. Jörg Seiler und Dr. Sebastian Holzbrecher. Was kann die katholische Kirche aus der weltanschaulichen Vielfalt Europas lernen – und welchen aktiven Beitrag kann sie in Europa einbringen?
Europa – eine christliche Idee? Gar: eine katholische Idee, ein katholisches Projekt? Schaut man auf die Gründungsväter und Ideengeber der Europäischen Gemeinschaft, so sieht es auf den ersten Blick ganz so aus: Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi waren aktive Katholiken, die von der Erfahrung zweier Weltkriege geprägt waren und nun mit Europa ein Projekt des Friedens und der Völkerverständigung initiieren wollten. Gegenwärtig ist der kirchliche Beitrag zu Europa jedoch höchst divers: Vor allem in ehemals geschlossenen katholischen Ländern Mittel- und Osteuropas formieren sich in den Kirchen nationalistische, anti-europäische Stimmen, die das Katholische mit einem Staatswesen oder einem (vergangenen) kulturellen Milieu verwechseln. Stattdessen müsste die genuin christliche Ressource – die Kirche ist eine globale, weltumspannende Gemeinschaft, in der Menschen aller Völker und Nationen, Männer und Frauen sowie Menschen unterschiedlicher religiöser Herkunft (Gal 3,28) zusammenfinden könnten und sollten – konstruktiv in den Prozess der europäischen Integration eingebracht werden. Europa ist jedoch wenigstens für Teile des mittel- und osteuropäischen Katholizismus und seines Episkopats immer noch terra inkognita, terra aliena, für manche angst- und ressentimentbesetzt.
Schaut man auf weltkirchliche Stimmen – etwa auf päpstliche Reden vor großen europäischen Institutionen oder auf schriftliche Äußerungen von Päpsten – zeigt sich ein etwas anderes, jedoch auf seine Weise ambivalentes Bild. Ein doktrinärer Duktus ist nicht zu verkennen: Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus treten stärker als Lehrer der Völker Europas denn als Diskurspartner einer dialogisch und partnerschaftlich orientierten Staatengemeinschaft auf. Sie akzentuieren, je nach Person und Temperament unterschiedlich, die „europäische Idee“ als genuin christliche, zumindest christlich geprägte Weltanschauung, die besonders in bioethischen und gesellschaftspolitischen Konfliktthemen – Sexualität, Partnerschaft, Familienpolitik ebenso wie Gender, Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit – zur Geltung gebracht und gegenüber einer zunehmenden Pluralisierung und Säkularisierung moderner Gesellschaften behauptet und konserviert werden müsse.
Die katholische Kirche hat etwas einzubringen in Europa – aber sie kann auch noch einiges lernen von Europa. Europa ist heute – Gott sei Dank! – ein buntes, heterogenes, multikulturelles Gebilde, das keineswegs nur von Christinnen und Christen, sondern auch von Vertreterinnen und Vertretern anderer Religionen und in stark wachsendem Maß auch von Säkularität geprägt ist. Die Idee, Europa in der 2004 geplanten, aber nicht realisierten Verfassung einen Gottesbezug einzuschreiben, war nicht durchsetzungsfähig. Europa zeichnet es gerade aus, keine Weltanschauung vorgeben zu müssen und zu wollen, stattdessen Formate und Strukturen zu (er-)finden und nachhaltig zu gestalten, in denen Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung gemeinsame Werte identifizieren, diskutieren und leben können.
Europa ist ein Projekt, das ganz wesentlich von der Kraft des dialogischen und kommunikativen Engagements seiner Bürgerinnen und Bürger lebt. Die Kirchen sind herausgefordert, sich in diesen Dialog konstruktiv einzubringen. Theologinnen und Theologen der Länder Europas sind eigenständige Diskurspartner und tragen zugleich dazu bei, kirchliche Positionierungen kritisch zu analysieren und zu begleiten. Sie agieren mit fachlicher Expertise und geübt im argumentativen Diskurs in den verschiedenen Vertretungen der Kirchen bei der EU und vernetzen sich auch ganz unabhängig von solchen Aufgaben auf akademischer Ebene miteinander. Insofern ist Europa auch eine Chance für die Kirchen, die sich als zivilgesellschaftliche, weltanschaulich gebundene Player in einem offenen, liberalen und pluralen Diskursfeld zu bewegen lernen müssen.
Unmittelbar nach den Europawahlen, vom 27. bis 30. Mai 2019, fand im belgischen Louvain-la-Neuve eine Tagung zum Thema „Das Christentum und die europäische Idee heute“ statt. Organisiert wurde die Tagung von Wissenschaftler*innen der Faculté de théologie der Université Catholique de Louvain und dem Theologischen Forschungskolleg an der Universität Erfurt, das mit 10 Mitgliedern nach Belgien reiste. Der wissenschaftliche Austausch in Louvain-la-Neuve wurde ergänzt durch kulturelle Entdeckungen, darunter im L-Museum der UCLouvain bei einer Besichtigung unter Leitung von Matthieu Somon, und durch einen Besuch der Theologischen Fakultät der KU Leuven, wo die Gruppe u. a. durch die renommierte Maurits Sabbebibliothek geführt wurde. Der Brüsseler Teil des Aufenthaltes konzentrierte sich auf ein Treffen mit Mitarbeitern der COMECE, der offiziellen Vertretung der katholischen Bischöfe in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Der Besuch in Belgien trug zur Stärkung der Verbindungen bei, die seit Jahren im akademischen Bereich zwischen Erfurt und Louvain-la-Neuve bestehen. Die Zusammenarbeit zwischen Erfurt und Louvain-la-Neuve wird fortgesetzt werden, um den wissenschaftlichen Austausch auf der Ebene von Studium, Lehre und Forschung zu fördern.
Bericht: Prof. Dr. Julia Knop / Fotos: COMECE – Die Katholische Kirche in der europäischen Union