Mit Blick auf Flucht und Migration widmet sich die neueste Ausgabe der Erfurter Schriftenreihe “Theologie der Gegenwart” dem Thema “Ethische Dilemmata”. Die Beiträge des Heftes fragen dabei nach strukturethischen, ökonomischen, demokratietheoretischen sowie rechtlichen Frage und wagen den Versuch einer Antwort aus christlich sozialwissenschaftlicher Perspektive.
Selten hat ein aktuelles politisches Thema die Bevölkerung Europas so gespalten wie die Frage der Legitimität von Migration aus arabischen und afrikanischen Ländern nach Europa. Die Tatsache, dass das Mittelmeer seit Beginn der Fluchtwelle im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zum Massengrab geworden ist und die Seenotrettung von Menschen für manche Europäer keine moralische Selbstverständlichkeit mehr darstellt, kann aus einer Perspektive Christlicher Theologie nur zutiefst erschüttern. Denn bei den Flüchtenden handelt sich, unabhängig von der Frage der Legitimität ihrer Einwanderung, um in Not geratene Menschen, deren Alternative zur Rettung mit hoher Wahrscheinlichkeit ein frühzeitiger Tod ist.
Allerdings muss auch die theologische Wissenschaft deutlich machen, dass bei aller uns verpflichtenden christlichen Nächstenliebe und nach einer ausführlichen ethischen Reflexion vielfältige ungeklärte Dilemmata in der Frage ethischer Normen bezüglich gegenwärtiger globaler Flucht und Migration bestehen bleiben. Denn einerseits werden durch große Fluchtbewegungen arme Herkunftsländer in Afrika angesichts des Bevölkerungsverlustes geschwächt, andererseits werden auch reiche, westliche Aufnahmeländer gesellschaftspolitisch gespalten, ökonomisch belastet und sozialstaatlich an ihre Grenzen gebracht. Die Bewertung von Flucht und Migration ist deshalb immer auch eine strukturethische, ökonomische, demokratietheoretische sowie rechtliche Frage, die selbst aus einer christlichen Perspektive nicht einfach beantwortet werden kann.
Zur Klärung beschäftigen sich deshalb mehrere Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Frage des gerechten Umgangs mit Flucht und Migration. Jakob Drobnik analysiert aus juristischer und rechtsethischer Perspektive das Europäische Asylreglement und beantwortet die Frage, ob die bestehenden europäischen Aufnahmeregelungen aus ethischer Sicht verantwortbar sind und inwiefern sie vereinheitlicht bzw. angepasst werden müssten. Sebastian Rilke erörtert aus sozialethischer Perspektive die Problematik des sozialen Friedens in den europäischen Aufnahmeländern von Migranten und Flüchtenden in Abwägung zu einer universalen Perspektive globaler Gerechtigkeit für Migration und Flucht. Adrian Magnucki stellt Ansätze einer globalen Migrationsethik dar und mahnt die Neuregelung eines europäischen Flüchtlings- und Migrationsregimes angesichts einer gleichrangigen ethischen Berücksichtigung aller Betroffenen in Herkunfts- und Aufnahmeländern an.
Die Sozialethikerin Elke Mack zeigt auf, dass ein anderer wesentlicher Puschfaktor für Flucht und Migration die globale Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen sowie die anhaltende Problematik der Frauenunterdrückung im globalen Süden ist. Wie ihnen in der Zukunft Gerechtigkeit zuteil werden kann, ist das Anliegen ihrer empirischethischen Untersuchung. Walter Lesch schließlich setzt sich in seinem Beitrag mit der ethischen Dimension Europas und seiner normativen Logik auseinander. Er bestätigt, dass die Resonanzräume Europas sich nicht durch ihre Abgrenzung, sondern durch ihre transnationale Offenheit auszeichnen. Insofern vervollständigt dieser Beitrag die Migrationsfrage in hervorragender Weise.
Die Schriftreihe "Theologie der Gegenwart" wurde 1958 begründet. Ihr Ziel ist es, Leserinnen und Leser einen Einblick in die zeitgenössische theologische Arbeit und Entwicklung auf internationaler Ebene zu geben. Den in der praktischen Seelsorge und Glaubensvermittlung Tätigen soll sie es weiterhin ermöglichen, Erkenntnisse der Fachtheologie für ihre Arbeit auszuwerten. Ein breites Spektrum würde dadurch erreicht, dass neben Originalartikeln immer auch Übersetzungen von Artikeln aus ausländischen Zeitschriften und Veröffentlichungen geboten wurden. Seit 1989 erscheint sie bei Butzon & Bercker (Kevelaer).
Auf ihrer Webseite bietet “Theologie der Gegenwart” den jeweils ersten Beitrag einer Ausgabe sowie Buchbesprechungen als Volltext zum Nachlesen an. Alle weiteren Beiträge können exemplarisch angelesen werden.