Ein lyrisches Glaubensbekenntnis: Zum Charakter des Glaubens

Forschung & Wissenschaft
Schwarz-Weiß-Bild mit Händen einer Person, die im Freien sitzt und in ein Notizbuch schreibt

Vor siebzehn Jahrhunderten schuf das Konzil von Nizäa das sprachliche Fundament für ein Glaubensbekenntnis: vielfältige, mehr und weniger klare Formeln, jedoch bindend und Präzision behauptend. Sie artikulierten den christlichen Glauben und wollten zugleich dauerhaft politische Einheit stiften. Diese Worte, bekannt als Symbolum im Lateinischen oder Symbolon im Griechischen – wörtlich: ein geteiltes Zeichen, das, zusammengefügt, Gemeinschaft stiftet – waren mehr als bloße inhaltliche Festlegungen. Sie schufen eine strafbewehrte Verbindlichkeit und eine Grundlage für gemeinsames Glauben und glaubendes Bekennen. Heute, in einer Welt, die von Individualisierung, Unverbindlichkeit und Pluralität geprägt ist, stellen sich Fragen: Kann diese verbindliche Sprachgestalt noch tragen? Braucht es nicht auch Formen, um den besonderen „Charakter des Glaubensbekenntnisses“ neu zu erkunden – etwa eine Sprache, die sich zur Frage bekennt und die im Fragwürdigen dem fragmentarischen Suchen nach einem unergründlichen Gott und nach einer wesentlichen Lebensbegründung Ausdruck verleiht?

Das Symbolon: Bindung und Geheimnis

Das Symbolon war ursprünglich ein Zeichen der Verbundenheit: Zwei Hälften eines Ganzen, die zusammengefügt eine Verbindung sichtbar machten und Beziehung, Aufeinander-Bezogensein, Anziehung vermittelten. Es war ein Symbol der Begegnung und Einheit. Doch ein Symbol ist nie eindeutig. Es lebt von der Spannung zwischen dem, was es darstellt, und dem, worauf es insgeheim verweist. Ebenso funktionierten die frühen Glaubensbekenntnisse: nicht nur als theologische Formeln, sondern als lebendige Akte, die Gemeinschaft stifteten. Indem sie Menschen um eine geteilte Sehnsucht versammelten, brachten sie das Geheimnis Gottes zur Sprache – bestenfalls ohne es zu entzaubern. Oft waren sie daher kurz oder fanden sich zu Metaphern („Fisch“) oder körperlichen Akten (bekreuzigen) verdichtet. In der Alten Kirche war das Mitteilen des eigenen Glaubensbekenntnisses ein kommunikativer Akt des Austausches, um gewiss zu haben, dass man miteinander gleichartig und gleichförmig im selben Glauben gegründet ist.

Ein Glaubensbekenntnis ist keine statische Beschreibung, sondern ein Schauplatz, an dem Welt und Geheimnis miteinander ringen und sich das Unsagbare mitteilt; keine endgültige Festlegung, sondern eine Bewegung, ein Aufscheinen. Es ist zugleich Schauplatz, einander das Unsagbare mitzuteilen, sich zueinander auf ein Zentrum hin zu bewegen und Ergriffenwordensein im Bekennen aufscheinen zu lassen, zu kommunizieren. Im Zentrum eines jeden Glaubensbekenntnisses steht das Geheimnis. Gott, ewig ohne Namen, zeigt sich und entzieht sich zugleich. Ein Glaubensbekenntnis, das dieses Geheimnis entzaubern wollte, verlöre seinen Kern. Nichts wäre dann wesentlich gesagt. Ein Glaubensbekenntnis muss das Unaussprechliche bewahren, sich zur Frage bekennen. Simone Weil nannte Glaubensbekenntnisse deshalb „Schulen der Aufmerksamkeit“. Sie laden ein, im Unfassbaren zu verweilen. Ihre Sprache sucht, ohne zu fassen. Ihre Formeln sind Annäherungen, die relationssensibel bleiben: Beziehung setzt raumgreifende Freiheit des Gegenüber, des Angesprochenen, voraus. Die Sprache des Glaubensbekenntnisses markiert Distanz. So erstöffnet sie den Blick auf Unsichtbares, das sie nicht verkleinert. Sichtbares und hörbares Bekennen ist das Gegenteil von blindem Gehorchen. Das Geheimnis bleibt nicht verborgen und ist zugleich nicht offenbar: Es wird zu einem Ort, der verbindet und dadurch Raum für Differenz notwendig macht.

Das Projekt: Ein lyrisches Glaubensbekenntnis

Das künstlerisch-forschende Projekt Ein lyrisches Glaubensbekenntnis der Forschungsstelle Sprachkunst und Religion nimmt sich solcher Fragen und dieser Perspektiven an. Nicht, um Glaubensbekenntnisse poetisch zu reformulieren, politisch zu instrumentalisieren oder begrifflich zu modernisieren, sondern um in der Dichte und Offenheit sprachlicher Spurensuche nachzuspüren, was ein Glaubensbekenntnis sein kann und was gläubige Bezogenheit sagbar werden lässt. Während die klassischen Formulierungen der Glaubensbekenntnisse weitgehend deklarativ bleiben, sucht Lyrik nach dem Randständigen, dem Unscheinbaren und Überhörten. Sie erkundet entlang der Schwelle zum Unsagbaren. Sie will es kennen lernen und von ihm her eingeladen sein. Ein Glaubensbekenntnis, das diesen Weg geht, wird Resonanzräume schaffen, in denen der Glaube auch dort sichtbar wird, wo er sonst oft verborgen bleibt.

Sprachkunst stiftet Räume – Räume, die das Geheimnis als Geheimnis bewahren und die doch berühren lassen, was sich entzieht, ohne es zu begrenzen. Im Geheimnis wird man von dort her berührbar. Sprachkunst macht Berührung hörbar. Sie schafft einen Ort, an dem das Symbolon neu gedacht werden kann: als Brücke zwischen Glauben und Zweifel, zwischen Individuum und Gemeinschaft. Der Brückenschlag ist kein Weg von hier nach dort, sondern wie die Grenze eine Verbindung, die das Polare benötigt. Die entstehende Anthologie ist keine Sammlung fertiger Antworten, sondern eine Einladung an zeitgenössische Lyrikerinnen und Lyriker zur persönlichen Sprachesuche, die das Unsagbare insistieren lässt. Lyrik ist da, um die Welt lesbar zu machen – und doch bleibt sie selbst durchlässig für die Tiefe, die sich hinter ihren Zeichen verbirgt. Die poetische Sprache nähert sich damit dem Charakter des Glaubensbekenntnisses. Sie umkreist das Unfassbare, bringt es in Worte, ohne es zu definieren. Sie ist Annäherung und Fühlungnahme.

Die performative Dimension

Glaubensbekenntnisse sind nie nur Text – sie sind immer Ereignis. Sie werden gesprochen, gesungen, geteilt. Sie motivieren und bedingen Handeln. Diese performative Dimension ist zentral: Sie stiftet und stört Gemeinschaft und macht das Unsichtbare nahbar. Auch die Sprache des Glaubens lebt durch das gesprochene oder gesungene Wort, durch Wiederholung, durch den Klang, der über das Sichtbare hinausweist.

Ein lyrisches Glaubensbekenntnis könnte diese Performanz aufgreifen. Es könnte in liturgischen Räumen oder digitalen Formaten erfahrbar gemacht werden, als ein bewegliches Symbolon, das immer neu verbindet – zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Sprache und Geheimnis. Ein lyrisches Glaubensbekenntnis könnte an diesem Punkt ansetzen: nicht, um zu klären, sondern um das Geheimnis Gottes neu aufleuchten zu lassen.

Das Symbolon als Raum des Widerstands

Ein Symbol lebt von der Spannung zwischen Darstellung und Verweis. Ein lyrisches Glaubensbekenntnis als Symbolon verlässt die Statik der Beschreibung und begibt sich „ins Innere hinaus“ (Christian Lehnert), wo Welt und Geheimnis miteinander ringen und sich das Unsagbare mitteilt. Es ist da, um die Welt lesbar zu machen – und bleibt durchlässig für die Tiefe, die sich hinter den Zeichen verbirgt. In dieser Durchlässigkeit kann das Symbolon eine politisch-subversive Kraft zum Vorschein bringen. Es verweigert sich der Reduktion auf jene klaren Kategorien, die Machtverhältnisse stabilisieren und die Welt in Bedeutungen fixieren wollen, um Kontrolle zu sichern. Lebendige Glaubensbekenntnisse hingegen, so zeigt die Geschichte, können zu einem Ort des Widerspruchs werden, indem sie Machtansprüche und ideologische Systeme infrage stellen. Religiöse Sprache schafft Beziehung und spannt raumgreifende Freiheit auf – jenseits aller instrumentellen Herrschaftszugriffe. Sie lässt Raum für Freiheit und Veränderung zu.

Fazit

Ein Glaubensbekenntnis für heute braucht keine neuen Formeln, sondern Erfahrungsräume. Die Sprache bietet diese relationssensiblen Räume, indem sie das Geheimnis nicht vereinfacht, sondern es in seiner Vielstimmigkeit ergründet. Im Projekt Ein lyrisches Glaubensbekenntnis der Forschungsstelle Sprachkunst und Religion entsteht so ein Symbolon, das wieder aufs Neue versucht, Verbindung herzustellen – mit dem Unsagbaren, mit der Gemeinschaft der Suchenden und mit dem Charakter des Glaubens. Der Call for Poems wird demnächst auf der Homepage der Forschungsstelle sowie auf literarischen Plattformen im deutschsprachigen Raum veröffentlicht.

Jörg Seiler und Tom Sojer betreiben zusammen die Forschungsstelle Sprachkunst und Religion. Mehr Informationen und Veranstaltungstermine der Forschungsstelle finden Sie auf der Homepage.

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