In ihrer Kurzgeschichte „Das erste Blatt“ [1] schildert Ingeborg Kruse, wie der Erzählerin von einem Engel das erste Kapitel des Matthäus-Evangeliums Vers 1-17 zum Lesen gegeben wird. Es handelt sich um den Stammbaum Jesu. Nachdem die Erzählerin ihn gelesen hat, wird sie gefragt, ob sie die vier Frauen – Tamar, Rahab, Rut und Batseba – aus dem Stammbaum kennenlernen will. Daraufhin führt man sie in einen Garten, damit sie die Vorfahrinnen Jesu treffen kann. Die vier haben nur eine Frage an die Besucherin: Ob es wahr sei, dass sie als Ahninnen in den Stammbaum des Gottessohnes eingegangen sind und warum dies im Christentum Verwunderung ausgelöst habe. Die Protagonistin der Erzählung antwortet:
„‚Ihr seid unheilig, Sünderinnen, unbekannter Herkunft, niemand von euch hat einen ordentlichen Stammbaum nachzuweisen. Außerdem seid ihr allesamt Heidinnen und gehört zu den Feinden des Gottesvolkes. Eure Namen fallen neben den Namen der vielen frommen Männer und Urväter im Geschlechterregister Jesu wirklich aus dem Rahmen.‘“ [2]
Die Aufnahme von Tamar, Rahab, Rut und Batseba in den Stammbaum Jesu ist ein Skandalon. Wie kann es sein, dass eine Frau, die ihren Schwiegervater hinterlistig verführt, Vorfahrin Jesu ist? Schlimmer noch: eine Landesverräterin und Prostituierte gehört ebenso in den Stammbaum wie Rut, die Moabiterin - eine Frau aus dem Feindvolk. Auch die Ehebrecherin Batseba nimmt in der Stammeslinie keinen rühmlichen Platz ein. Nicht umsonst tilgt der Verfasser des Matthäus-Evangeliums ihren Namen. Nicht Batseba wird sie genannt, sondern die Frau des Urija, um die Brisanz ihrer Beziehung zu David und die Geburt ihres Sohnes Salomos festzuhalten.
So skandalös wie Tamar, Rahab, Rut und Batseba auf den ersten Blick erscheinen, sind sie nicht. Die vier treten im Alten Testament als eigenständig handelnde Frauenfiguren auf, die teils versuchen, ihr Recht in einer patriarchalen Gesellschaft durchzusetzen.
Durch ihre Eigeninitiative gelingt es ihnen, als fremde Frauen in Israel das (Über-)Leben Israels zu sichern. Erst die Rezeption in Kunst und Literatur hat sie zu dem gemacht, was sie heute sind: Sünderinnen.
Ein Beispiel par exellence dafür ist Batseba. Insbesondere die Literatur des 20. Jh. rückt sie in ein ambivalentes Licht. Der schwedische Autor Torgny Lindgren präsentiert sie in seinem Roman „Batsheba“ als eine Frau, die zwar Opfer männlicher Gewalt ist, die sich aber aus der Opferrolle befreit und das höchste Amt im biblischen Israel erreicht: Batseba wird Königsmutter. [3] Die jüdische Autorin Grete Weil rückt Batseba in ihrem Roman „Brautpreis“ in ein wesentlich negativeres Licht. Batseba wird zur Gegenspielerin Michals, der ersten Frau Davids und Tochter König Sauls. Als David Michal vom Anblick der badenden Batseba berichtet, ist Michal die erste, die kritisch einwendet: „Auf dem Dach, bei Vollmond? So nah beim Palast? Sie wollte von dir gesehen werden.“ [4] Sie wirft Batseba vor, sich zu inszenieren, um sich beim König ins Gespräch zu bringen.
Ob Batseba wusste, dass David sie beobachten wird und was sie damit beabsichtigte, darüber schweigt 2 Sam 11,1-5. Batseba kommt in der alttestamentlichen Erzählung nicht zu Wort. Offen ist, wo sie badet und weshalb sie von David gesehen werden kann. Der Text verleiht ihr keine Stimme. Nur die Nachricht über das Ergebnis der Nacht – die Schwangerschaft – lässt Batseba David mitteilen. Die Literatur nutzt gerade diese Lücken, um auf Batseba eindeutige Rollenbilder zu übertragen: die Frau als Objekt männlicher Begierden, das Bauernopfer politischer Intrigen oder die Verführerin. Sie verleiht damit aber Batseba ebenso eine Stimme. Durch diese Stimmengabe richtet sie den Blick, den wir als Betrachtende auf Batseba werfen, zurück. Dadurch kommt es zum Blickwechsel. Am deutlichsten wird der Blickwechsel, wenn I. Kruses Batseba-Figur alles, was über sie erzählt wird, als Männerphantasien abtut.
Das Anliegen von I. Kruse ist es, dass die biblischen Frauenfiguren selbst zur Sprache kommen, „damit ich [gemeint ist die Erzählerin] mir ein Bild davon machen kann, wie es gewesen ist“. Sie sind herzlich eingeladen, sich in der Ausstellung „Marginalisiert und dennoch stark. Die Frauen im Stammbaum Jesu (Mt 1,1-17)“ ein eigenes Bild von Tamar, Rahab, Rut und Batseba zu machen. Diese findet vom 30.11.2023 bis zum 06.01.2024 im sächsischen Freiberg statt. Zu sehen ist sie auch auf den Katholikentag in Erfurt 2024.
[1] Ingeborg Kruse, Das erste Blatt, in: dies. (Hg.), Unter dem Schleier ein Lachen. Neue Frauengeschichten aus dem Alten Testament, Stuttgart 1986, 146-149.
[2] Ebd. 146.
[3] Torgny Lindgren, Batsheba (Übers. ins Deutsche Verena Reichel), München/Wien 1987.
[4] Grete Weil, Der Brautpreis, Frankfurt a.M. 1992, 152-155, 152.
Die Veranstalterinnen freuen sich, wenn sie Sie in der Ausstellung vom 30.11.2023 bis 06.01.2024 in Freiberg/Sa. oder beim Katholikentag 2024 in Erfurt begrüßen dürfen!