Im Goethe’schen Faust-Stoff, wie ihn wohl jede und jeder Deutsche irgendwann im Leben kennenlernt, wimmelt es von religiösen Themen. Der Teufel taucht auf wie auch Gottvater, Himmel und Hölle spielen eine Rolle, und dann ist die berühmte Gretchenfrage nach der Religion an zentraler Stelle platziert. Dennoch, das ist der Kerngedanke dieses Beitrags, geht es in Wahrheit nicht um Religion, zumindest nicht in ihrem traditionellen Sinn.
Um dem Anliegen des Fauststoffes bei Goethe und der in den Erfurter DomStufen-Festspielen gewählten musikalischen Umsetzung bei Hector Berlioz nachzugehen, müssen wir uns in die Epoche versetzen, in der das Stück entstanden ist, also in die Zeit der Romantik. Die Romantik hat eine Brückenposition und steht in einer Spannung zwischen der Rezeption des Mittelalters, seiner Verklärung und Idealisierung, und den Segnungen der Moderne, die zugleich angenommen und abgelehnt werden.
Auf der einen Seite stehen wir also in der Moderne: Hier hatte sich bereits das Bild vom Mittelalter als dunkel und tief religiös festgesetzt. Dass es wohl kaum als dunkel bezeichnet werden kann, dokumentiert der Weg durch die Erfurter Innenstadt, in der sich eine stattliche Anzahl beeindruckender, nach neuestem Stand der Technik errichteter Gebäude findet. Daher, also wegen der kulturellen Leistungen dieser Zeit, ist das Mittelalter überhaupt rezeptionsfähig. Dass es „dunkel“ war, ist also eine spätere Zuschreibung, die Distanz und Ablehnung impliziert. Wenn es daher rezipiert wird, dann, um es für Anliegen der eigenen Zeit zu instrumentalisieren. Hier ist an erster Stelle der in der Moderne entstehende Nationalismus zu nennen. Nicht umsonst wird der Kölner Dom erst in der Moderne von protestantischen Preußen fertiggestellt, die damit sicherlich nicht dem Katholizismus zu neuer Blüte verhelfen wollten.
Damit diese Instrumentalisierung funktioniert, musste die Religiosität – und damit die andere typisierende Zuschreibung an das Mittelalter – ignoriert werden. Sie traf sowieso nur teilweise zu, nämlich insbesondere für das Spätmittelalter. Erst hier wurden die Jenseitsvorstellungen so ausgeprägt und in das System gebracht, das wir bei Goethe und Berlioz wiederfinden. Das zu sehen ist wichtig, weil sich die Motivlagen wandelten: In der Antike (‚Alten Kirche‘) wurden zunehmend Straflogiken für die Ausgestaltung des Jenseits wichtig. Im Spätmittelalter, mit einer zunehmen großen gebildeten Schicht im Bürgertum und unter dem Eindruck großer Katastrophen wie der Pest, wurde wieder eine versöhnendere Gerechtigkeit wichtig, sodass das Fegefeuer dogmatisiert wurde.
Genau diese Diskrepanz liegt auch zwischen Goethes Faust-Stoff und der Verarbeitung bei Berlioz: Steht die Versöhnung und Rettung eher im Vordergrund (was Goethe in Faust I in den letzten Versen betont) oder doch die drastische Bestrafung in der Hölle (wenn Berlioz den Höllenritt dramatisch in Szene setzt)?
Nun war die Rezeption mittelalterlicher Motive in der Romantik eben verklärt-idealisiert. So wie mittelalterliche Burgen eher als atmosphärische Kulissen romantisiert wurden, so erging es auch diesen theologischen Motiven. Das Jenseits spielt nämlich in der beginnenden Moderne eine immer geringere Rolle. Den heutigen ‚modernen‘ Endpunkt, den wir heutzutage erleben, beinhaltet ja sogar die völlige Relevanzlosigkeit und damit ‚Auflösung‘ des Jenseits. Wir kennen die Begriffe noch, haben sie aber umgedeutet. Ich behaupte daher, dass weder Goethe noch Berlioz der theologische Gehalt der dogmatisierten Jenseitsvorstellungen am Herzen lag. So wie in der Romantik insgesamt werden auch hier die mittelalterlichen Motive für etwas Eigenes benutzt.
Sehr wohl geht es zwar um Sinnstiftung, aber eben unter dem Vorzeichen einer (beginnenden) religionslosen Moderne. Was nun eine immer größere Rolle einnimmt, sind das Individuum, die eigene Freiheit, die eigenen Erfahrungen. Genau das betont Romantik, nämlich das Subjekt und das Spontane, Emotionale. Alle Menschen sind wichtig, daher nimmt bei Berlioz beispielsweise der Chor eine große Rolle ein. In der Inszenierung bei den Erfurter DomStufen-Festspielen wird Faust folgerichtig als Teil der insgesamt wichtigen Gruppe gezeigt.
Das steht in einem gewissen Gegenüber zur rationalen Ausrichtung hellenistisch geprägter Philosophie und Theologie des Mittelalters und der sich zwar vom Hellenismus abwendenden, aber eher noch stärker rational ausgerichteten Philosophie der Aufklärung. Daher treibt die Romantik auch das Übernatürliche, Schauerige und Geheimnisvolle voran (in der Erfurter Inszenierung wird das beispielsweise durch das Szenenbild mit dem Friedhof umgesetzt), was dann von Vertretern aufklärerischer Philosophie und Theologie eher verächtlich gemacht wird.
Wir haben also einen Gegensatz zwischen einer klassischen Orientierung am rational ordnenden allgemeinen Geist und dem emotionalen, erfahrungsbezogenen Empfinden der Romantik. Diesen Gegensatz finden wir auch im Schritt von Goethes Faust zu Berlioz’ Adaption wieder.
Das beginnt bei der grundsätzlichen Umsetzung in einer Oper. Wenn man wie in der damaligen philosophischen Ästhetik bei Kant, Hegel und Schopenhauer die Musik als rationalitätsfernes, unpräzises, verschwommen-mystisches Medium versteht, entzieht sich die Goethe’sche Figur des Faust der Vertonung. Berlioz wendet sich daher mit seiner „dramatischen Legende“ bewusst ab von Goethes Prätext. Bei Goethe ist Faust nämlich ein selbstreflexiver Intellektueller, also „klassisch“ und nicht „romantisch“. Bei Goethe wird Faust zum Prototypen eines Gebildeten, der sich insbesondere in Faust II mehrfach verwandelt. Er übersteigt also das in der Romantik so wichtige individuelle Sein. Berlioz entwickelt geradezu ein Gegenmodell, anstelle des kühnen Erkenntnistriebs steht ein selbstzerstörerischer Nihilismus, der ihn an der modernen Welt leiden lässt.
Es geht hier also gegen die Moderne, und zwar einen bestimmten heute eher noch wirkmächtiger gewordenen Typus: den der funktionalen Vernunft, der durch den Erfolg der Naturwissenschaften und der damit ermöglichten Technik stark wird und sich durchsetzt. Das ist ein mathematisch-funktional denkender Typus, der sich in der Zeit der Romantik durchzusetzen beginnt und von ihr genau abgelehnt wird. Die Romantik nimmt hier also eine Mittelrolle ein zwischen klassischer, vormorderner Denkweise und der nun beginnenden modern-naturwissenschaftlichen.
Diese Mittelrolle spiegelt sich nun genau in den Rollen, die bei Goethe und Berlioz in dem Stück anders besetzt sind. Aus dem selbstreflexiven Intellektuellen Goethes wird der selbstversunken-melancholische Romantiker bei Berlioz. Man kann also direkt spüren, wie sich Berlioz gegen ein naturwissenschaftlich-funktionales Denken sperrt.
Dieses Anliegen gibt es sehr wohl auch bei Goethe, es lässt sich sogar in einigen Ausführungen Fausts finden. Vor allem aber hat Gothe zu seinem Faust ein romantisches Gegenmodell eingefügt, nämlich in die Figur Gretchens, deren Einbindung in den Faust-Stoff eine Innovation von ihm ist. Goethes Fassung ist also in sich disparater, komplexer. Gretchen symbolisiert nicht nur die natürlich-intuitive Sinnlichkeit, sondern auch eine soziale Ungerechtigkeit, die die Doppelmoral der Zeit offenlegen kann.
Die Figur des Teufels wird bereits bei Gothe des traditionellen religiösen Gehalts entledigt, was meine Vermutung erhärtet, dass die religiösen Motive hier für eine Botschaft benutzt werden, die sich mit der beginnenden ‚Moderne‘ und nicht mit mittelalterlichen Frömmigkeitsvorstellungen auseinandersetzt. Mephisto ist nicht das Verkörperte Böse, sondern wird zum Gegengewicht zu Faust, etwa durch seinen Hang zum Widerspruch.
Der Teufelspakt wird von seiner Tiefenontologie gelöst und eher zum psychologischen Vorgang. Es sind zwei Seiten in uns selbst, die hier zum Vorschein kommen, eine „Alter-Ego“-Struktur.
Das gilt für Mephisto sowohl bei Goethe als auch bei Berlioz, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Mephisto besitzt immer ein parodierendes und damit kritisches Moment und ergänzt Faust zugleich um etwas, was er nicht selbst besitzt. Bei Goethe ist er dabei die verneinende Kraft, bei Berlioz die lebensbejahende – also eben umgekehrt zur Disposition des jeweiligen Fausts. Bei Berlioz kommt als Ironie der Alter-Ego-Logik hinzu, dass sich am Ende die Rollen vertauschen: Während Faust den Sinn in seiner Liebe zu Gretchen zu gefunden haben glaubt, will nun Mephisto seine Zerstörung. Er wird gewinnen und Faust in die Hölle ziehen. Die Erfüllung von Liebe wird von Berlioz als Illusion dargestellt.
Dass der Untergang Fausts durch die Lüge besiegelt wird, sein Selbstopfer würde Gretchen retten, ist geradezu verstörend tragisch. Faust ist bei Berlioz kein moralisch schlechter Mensch, sein Gang in die Hölle ist nicht nach der Gerechtigkeitslogik mittelalterlicher Jenseitsvorstellungen motiviert. Es ist die Sinnlosigkeit des Lebens, die ihn zermürbt hat. Und vielleicht deshalb finden wir uns im Höllenritt und in den anderen Gefühlslagen des Stückes wieder. Das Stück kann uns als Projektionsfläche dienen, als Aufgreifen und Verarbeiten eigener Erfahrungen.
Romantik drängt nach Unendlichkeit, Leidenschaftlich-Bewegtem, Dunklem, maß- und regellosem Sprengenwollen aller Grenzen. Sie hat eine Vorliebe für das Traumhafte, Wunderbare, Unbewusste, später für das Bizarre, Übersinnliche. Daher ist Berlioz’ Faust fantastisch, träumerisch, ein von namenlosem Leiden zerrissener Typ, der quasi zugrunde gehen muss. Berlioz hat ein „imaginäres Drama“ (Wolfgang Dömling) geschaffen, bei der es um den Ausdruck von Gefühlen geht – inwieweit diese authentisch erlebbar sind, darf dann als Gradmesser für die musikalische Schönheit des Werkes gelten.
„Imaginär“ ist das Drama, insofern es eine fantastische Seite, eine Offenheit und damit auch Tiefe erhält. Es geht also nicht um eine oberflächliche Gefühlsduselei. Wir werden durch eine Mehrschichtigkeit geführt, es gibt keine Eindeutigkeiten. Fausts Melancholie, in der er sich zwischen Traum und Selbstanalyse zerreibt, wird als aktive Kehrseite Mephisto zugesellt. Hier liegt eine Fixierung auf das Ich, das Subjekt des Faustes vor. Daher kann Berlioz den komplexen Vorbau wie den Prolog im Himmel weglassen, der musikalisch ohnehin kaum einholbar gewesen wäre. Es gelingt ihm damit der Fokus auf Faust selbst und seine melancholische, träumerische Zerrissenheit. Faust hat bei Berlioz keine Erkenntniskrise, sondern eine Krise aufgrund der Erfahrung von Sinn- und Hoffnungslosigkeit. Darum also geht es bei Berlioz, nämlich um den inneren Kampf von Faust, der tragisch endet.
Patrick Becker ist Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft.