Es gibt in unseren Breiten wohl wenige Phänomene der Natur, die das Urvertrauen des Menschen in das Leben so sehr bestärken wie die Abfolge der Jahreszeiten. Auf jeden noch so harten Winter folgt irgendwann die Wärme des Frühjahrs, auf jede noch so schlimme Dürre irgendwann der ersehnte Regen. Der Zyklus der Jahre verhindert zwar keine harten Zeiten und macht sie auch im Nachhinein nicht ungeschehen. Aber die Wiederkehr des immer Gleichen trägt in sich den Grund zur Hoffnung, dass mit dem neuen Jahr die Nöte wieder vergehen.
Diese Hoffnung bezieht ihre Plausibilität aus dem Rhythmus der Natur – und sie ist heute in bisher ungekannter Weise bedroht. Die Häufung von Hitze, Trockenheit, Waldbränden und Unwettern könnte eine vorübergehende Erscheinung sein. Doch nun werden die globalen Rekorde des einen Jahres nur noch durch jene des jeweils nächsten Jahres übertroffen. Es folgt nicht die erlösende Wiederkehr dessen, was früher schon einmal besser war, sondern nur die noch größere Eskalation. Durch klimatologische Untersuchungen wird das Ausmaß dieser Entwicklungen erkennbar: Es geht nicht um eine extreme Phase, wie sie womöglich immer mal wieder vorkommt, es geht um etwas, das in zehntausenden von Jahren einmalig ist. Und gerade weil die zunehmenden atmosphärischen Extreme nicht durch die Zyklen der Welt hervorgerufen werden, können wir auch nicht einfach auf die Wende zum Besseren hoffen.
Die Menschheit hat sich klimatisch etwas in ihrer Geschichte noch nie Dagewesenes erschaffen. Die Tragweite dieses Gedankens einzuholen, ist gar nicht so einfach. Er impliziert nicht nur veränderte Lebensbedingungen, sondern auch ein neues Verhältnis des Menschen zur Geschichte.
An die Stelle eines zyklischen Bildes der Natur, die sich durch die ständige Wiederkehr erneuert, tritt das lineare Bild einer Welt, die sich auf Grund menschlichen Handelns unumkehrbar auf eine ganz andere Zukunft hin entwickelt. Die geistesgeschichtlichen Hintergründe dieser veränderten Interpretation liegen weit zurück – sie lassen sich hier ausgehend von Karl Löwith knapp nachzeichnen: Löwith hat maßgeblich die Unterscheidung eines zyklischen von einem linearen Geschichtsverständnis herausgearbeitet. Das Denken der griechischen Antike charakterisiert er als zyklisch. Der Kosmos ist darin durch einen regelmäßigen Kreislauf von Werden und Vergehen bestimmt, in dem es keine radikalen Brüche, sondern nur die zyklische Wiederholung gibt.
Dagegen habe vor allem die christliche Heilsgeschichte ein lineares Verständnis mit sich gebracht. Das Heil liegt nun in einer von Gott kommenden Zukunft, mit der etwas noch nie Dagewesenes anbricht. In der Neuzeit wiederum habe sich, so Löwith, diese lineare Struktur auf die Menschheitsgeschichte übertragen. In dieser säkularen Heilsgeschichte bringt nun der Mensch selbst durch sein Tun eine Zukunft hervor, die mit nichts in der Vergangenheit vergleichbar ist. Der geschichtliche Umbruch, die Revolution oder die radikale Innovation bekommt damit ein enormes Gewicht und kann selbst zu einem Sinnträger werden. Aber in der Einmaligkeit des Geschehens kann auch ein bisher ungekannter Abgrund liegen, der durch keine Wiederkehr des Früheren mehr abgefedert wird. Diese Gefahr und die Angst vor ihr lag als Schatten besonders über dem 20. Jahrhundert.
Löwith ist äußerst skeptisch gegenüber jedem philosophischen Versuch, Sinn oder Geltung in der Geschichte zu entdecken. Die einzige Erkenntnis aus der Geschichte sei, dass die Orientierung an ihr ins Leere führt. Immer wieder kommt er auf Friedrich Nietzsches Ausführungen zur ewigen Wiederkehr zu sprechen. Es geht darum, in das Schicksal und den immerwährenden Kreislauf der Natur einzuwilligen, das immer Gleiche zu bejahen – statt sich an die vermeintlichen Fortschritts- oder Verfallserscheinungen der Zukunft zu klammern. Löwith beobachtet, dass Nietzsche die Rückkehr zu dieser (heidnischen) Idee in ihrer ursprünglichen Form gar nicht gelingt, weil er selbst schon zu sehr von der (christlich grundierten) Moderne bestimmt ist. Doch heute versperrt noch etwas anderes diesen Weg, nämlich der Blick in die Natur selbst. Sie wurde schon längst hineingerissen in die unerbittliche lineare Dynamik der Geschichte und entkommt ihr nicht mehr. In ihr einen unerschütterlichen Kreislauf zu suchen, würde künftig die Realität verfehlen. Der nächste Winter kommt bestimmt, aber er ist nur noch ein schwacher Abglanz des früheren und kein Grund zur Beruhigung. Ja, es ist sogar eine Wurzel der gegenwärtigen Eskalation, dass die Menschheit so agiert, als könnte die Welt sich durch die Wiederkehr des immer Gleichen erneuern.
Das lineare Denken hat seine Grundlage nicht zuletzt in einem christlich inspirierten Geschichtsverständnis. Doch welche Deutungspotentiale bietet die christliche Tradition angesichts der Dramatik einer anthropogenen linearen Veränderung der Grundlage allen Lebens? Das Buch Genesis stellt ein Paradies vor Augen, das immer schon verloren ist – und es auch bleibt. Die Johannesoffenbarung nährt in apokalyptischen Bildern die Hoffnung auf eine neue Erde. Doch zwischen diesen beiden Eckpfeilern, die als schöpfungstheologische und eschatologische Grundprinzipien jenseits der Geschichte stehen, eröffnet sich ein weites Feld möglicher Interpretationen der Geschichte selbst.
Zumindest unter US-amerikanischen Evangelikalen ist aktuell die Erwartung einer Wiederkunft Christi in den kommenden Jahrzehnten stark verbreitet. Angesichts des nahen Endes aller bekannten Wirklichkeit verlöre der ökologische Kollaps seinen bedrohlichen Charakter, ja er könnte sogar ein Zeichen der anbrechenden Endzeit sein. Die Welt wäre damit sicher in Gottes Hand, selbst wenn es so wirkt, als ob ihm das Schöpfungswerk längst entgleitet. Doch ist es mit Blick auf die Christentumsgeschichte zumindest denkbar, dass diese Naherwartung sich wieder nicht erfüllt. Folgt dann statt des apokalyptisch erlösenden Endes mit Schrecken nur noch der Schrecken ohne Ende?
Wenn die Gewissheiten eines ewigen Kreislaufes verbaut sind, doch gleichzeitig die lineare Geschichte kein sinnvolles Ziel mehr findet, bleibt nur noch der Weg in eine offene Zukunft. Sie konfrontiert den Menschen mit einer unerhörten Verantwortung, die nichts Erhabenes mehr an sich hat, sondern sogleich durch seinen fortgeschrittenen Kontrollverlust konterkariert wird.
Theologisch gesprochen ist dies eine radikale Entäußerung Gottes: Er gibt seine Schöpfung einem Geschöpf preis, das sich seiner Verantwortung kaum bewusst und mit ihr völlig überfordert ist. Er sichert sie dabei weder durch einen gleichsam göttlichen Zyklus der Natur ab noch durch die Möglichkeit, Verluste zu korrigieren. Jeder Moment bekommt damit ein außerordentliches Gewicht und ist zugleich durch eine groteske Sinnlosigkeit überschattet. Wenn nun das Vertrauen in die Abfolge der Jahreszeiten verblasst und die Extreme sich überbieten, heißt das daher auch: Der Mensch muss seinen Platz in der unumkehrbar veränderten Welt neu finden, ob er es will oder nicht. Er bringt etwas noch nie Dagewesenes hervor und hat dadurch alles zu verlieren.
Der Text entstand im Rahmen eines Essay-Schreibwettbewerbs zum 150-jährigen Jubiläum der Zeitschrift Stimmen der Zeit und wurde erstmals in deren Heft Mai 2021 veröffentlicht.