“Die Gefahr ist groß, dass Europa vielleicht nicht an Corona, aber mit Corona stirbt”, meint Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski. Kritisch beäugt der Philosoph der Universität Erfurt das Verhalten Europas und seiner Mitgliedstaaten angesichts der Covid-19-Pandemie. Doch kann “diese Zeit der Krise auch die Stunde Europas sein”, sagt er – nämlich dann, wenn Europa aus dem Geist der Solidarität heraus neu gedacht wird.
von Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski
Europa befindet sich in der größten Krise seit 1945. Das ist keine Übertreibung, sondern bittere Realität. Tag für Tag wird uns dies deutlicher. Die gegenwärtige Krise könnte Europa – damit ist vor allem das Jahrhundert-Projekt der Europäischen Union gemeint – einen schmerzhaften Tod sterben lassen. Was in Jahrzehnten mühsam erreicht wurde, könnte schnell wieder verloren gehen. Dabei gibt es Gefahren und Herausforderungen für Europa, die von außen kommen. Nicht erst seit der Präsidentschaft Donald Trumps verfolgen die USA eine geostrategische Politik, für die der Bezug auf Europa immer weniger wichtig ist. Russland und China verfolgen eigene Interessen, angesichts derer sich Europa positionieren muss. Mit Dringlichkeit stellen sich daher die Fragen, wohin Europa gehört und welche Rolle es in der Welt spielt.
Doch sind dies nicht die wichtigsten Fragen. Denn die Krise Europas ist zunächst eine Krise von innen: Wir wissen nicht mehr so recht, wozu Europa gut ist. Nach Jahren des wirtschaftlichen Erfolgs und des friedlichen Zusammenlebens ist vieles allzu selbstverständlich geworden. Hinzu kommt, dass das Fundament Europas fraglich geworden ist. Gerne werden die “europäischen Werte” beschworen. Doch um welche Werte handelt es sich? Was bedeutet es, dass viele dieser Werte noch nicht einmal das Verhältnis der europäischen Länder zueinander bestimmten? Und lässt sich über Werte, die mal so und mal ganz anders verstanden werden können, überhaupt so etwas wie die Identität und die Aufgabe Europas bestimmen? Viele weitere Fragen stellen sich. Allerdings werden diese Fragen oft gar nicht mehr gestellt, geschweige denn beantwortet. Europa scheint erschöpft zu sein.
Die Corona-Pandemie hat diese Krise Europas verstärkt. Gerade die ersten Wochen der Pandemie haben die Lethargie Europas gezeigt. Vieles, was man auf europäischer Ebene hätte regeln können (und sollen), wurde auf nationaler oder regionaler Ebene geregelt. Ein bereits vor der Pandemie feststellbarer Nationalismus hat sich verstärkt. Längst überwunden geglaubte Grenzen wurden neu errichtet und geschlossen. In manchen Grenzorten wurden alte Ressentiments gegenüber den Menschen “von drüben” wieder lebendig. Viele Länder sahen zunächst einmal nur sich selbst und ihre eigenen Interessen. Wenn Hilfe geleistet wurde, dann war dies oft nur der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein. Gebannt schauten die mittel- und nordeuropäischen Länder gen Spanien und Italien — mehr in der Angst, dass bei ihnen bald ähnliche Verhältnisse herrschen könnten, als in einer solidarischen Hilfsbereitschaft. Von europäischer Solidarität, einer wirklichen Gemeinschaft war wenig zu spüren. Sind die Bekenntnisse zu Europa und den gemeinsamen Werten nur Schönwetterreden, die, wenn es blitzt und donnert, schnell vergessen sind? Die Gefahr ist groß, dass Europa vielleicht nicht an Corona, aber mit Corona stirbt.
– Holger Zaborowski
Jedoch gibt es im Sommer 2020 einige Signale, die hoffnungsfroh stimmen. Bereits seit Anfang der Corona-Pandemie zeigt sich eine beeindruckende Solidarität “von unten”, ein solidarisches Handeln im Nahbereich: die Hilfe für bedürftige Nachbarn, die konkrete Unterstützung für kleine Geschäfte oder Restaurants, der Einsatz der Pflegekräfte und der Ärztinnen und Ärzte oder oft berührende Formen der Solidarität unter Freunden, in Familien oder sogar unter Menschen, die einander fernstehen oder sich fremd sind. Eine Solidarität “von oben” ergänzt diese konkreten Akte der Menschlichkeit. So hat Angela Merkel zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft angesichts der Corona-Pandemie und ihrer Auswirkungen ein solidarisches Europa gefordert. Auf dem EU-Gipfel im Juli wurden Entscheidungen getroffen, die diese Forderung aufgegriffen und mit konkretem Leben gefüllt haben. Ist damit die Krise Europas überwunden? Gewiss, die Schockstarre des Frühlings scheint überwunden. Gerade im Vergleich mit den USA steht Europa derzeit — im Sommer 2020 — in der Corona-Krise relativ gut da und dürfte auch für eine zweite Welle gut gerüstet sein. So vermuten wir.
Doch ist dies ein Erfolg, der äußerst zerbrechlich ist. Solidarität ist nicht selbstverständlich. Der Ruf nach Solidarität kann leicht verhallen oder kraftlos werden – vielleicht weil er gar nicht ernst gemeint oder schlecht begründet war, nur ein wohlfeiles Lippenbekenntnis, das allzu schnell vergessen wird, wenn es seinen Dienst getan hat. Daher geht es in der jetzigen Situation darum, über die Forderung der Bundeskanzlerin — und vieler anderer Politikerinnen und Politiker — vertieft nachzudenken: Was bedeutet die Tradition der Solidarität für Europa, die Idee eines solidarischen Europas?
Solidarität muss nämlich, um nachhaltig wirken zu können, immer neu aus ihren Quellen heraus begründet und mit Leben gefüllt werden. Die Quellen der Solidarität sind bekanntermaßen vielfältig. Der Begriff hat eine sehr komplexe Geschichte. In ihm klingt das revolutionäre Pathos der Brüderlichkeit – oder besser: der Geschwisterlichkeit — an und der moderne Universalismus, der allen Menschen die gleichen Rechte zuschreibt. Daneben gibt es noch andere wichtige Wurzeln: das jüdische, christliche und islamische Schöpfungsethos zum Beispiel, die religiös oder auch rein philosophisch begründete Hinwendung zum kranken, schwachen und leidenden Menschen oder auch das seit der Antike entfaltete kosmopolitische Denken. Wenn diese Quellen lebendig sind und in die Gegenwart übersetzt werden, dann kann der Ruf nach Solidarität Menschen aufrütteln – ähnlich wie der Ruf nach Solidarität in Polen und anderen Ländern vor über 30 Jahren Unrechtsregime zu Fall gebracht hat. Dann kommt ihm eine enorme, die Welt verändernde Kraft zu. Denn wer von Solidarität spricht und dies ernst meint, verweist auch auf Freiheit, Verantwortung und Würde des Menschen, er weiß darum, dass nicht einer abstrakten Selbstbestimmung des Menschen das letzte Wort zukommt, sondern dass Menschen in einem Geflecht von konkreten Beziehungen miteinander — und das heißt immer: von- und füreinander — leben, und er beschäftigt sich mit den grundlegenden Fragen, wer wir eigentlich sind und wie wir zusammen leben möchten.
– Holger Zaborowski
Wenn so über Solidarität nachgedacht wird, wenn es zu einem neuen Verständnis Europas aus dem Geist der Solidarität kommt, kann diese Zeit der Krise auch die Stunde Europas sein – eine Schwäche, aus der Europa gestärkt hervorgeht, eine Erschütterung, die erneut dazu führt, die Frage nach den Grundlagen unseres Zusammenlebens zu stellen, eine Verunsicherung, die zu einer vertieften Gewissheit darüber führt, wer wir als Europäerinnen und Europäer sind und sein wollen. Im letzten Jahrhundert haben globale Krisen — wie zum Beispiel die beiden Weltkriege — zu einer solchen Vertiefung des Europäischen geführt. Warum sollte dies in der jetzigen Krise anders sein? Denn wenn eines klar ist, dann die Tatsache, dass kein europäischer Nationalstaat alleine die Pandemie und ihre Folgen bewältigen kann. Wenn eines unzweifelhaft ist, dann doch die Erkenntnis, dass gerade die europäischen Länder engstens miteinander vernetzt sind. Und wenn eines deutlich sein dürfte, dann dies, dass ein Europa, das noch nicht einmal der Solidarität nach innen fähig ist, auch nach außen hin keine Solidarität üben wird. Aber wäre dies dann noch Europa — ein Europa, das weder nach innen noch nach außen das Erbe der Solidarität bewahrt? Europa hat einmal den Horizont des Universalen entdeckt — der gerade weil er universal ist, nicht nur europäisch ist. Dieser Horizont tritt mit Forderungen an uns heran. Solidarität mit anderen, ja, mit allen Menschen — insbesondere mit den leidenden, den kranken, den schwachen Menschen — gehört dazu.
Solidarität ist daher in Europa — aber nicht nur hier — das Gebot der Stunde. Daran zu erinnern wäre in besonderer Weise eine Aufgabe der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Müssten wir nicht mehr von ihren Vertreterinnen und Vertretern hören oder lautere Worte oder klarere Bekenntnisse zur Solidarität als europäischer Tugend, zu Europa als Solidarität — auch in globaler Perspektive? Wäre nicht zur Unterstützung der Politik ein gemeinsames Wort von Menschen verschiedener Kirchen und Religionen, aller Menschen guten Willens zur Solidarität an der Zeit — ein Wort, das aus Taten heraus entspringt und wiederum zu neuen Taten führt?
Holger Zaborowski ist Professor für Philosophie an der Universität Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Philosophie der Neuzeit, der Ethik sowie der Religionsphilosophie.