von Prof. Dr. Benedikt Kranemann
Seit dem Frühjahr 2020 hält die Corona-Pandemie die Welt unter Beschlag. Das Virus legt weite Teile des öffentlichen Lebens lahm, blockiert den Kontakt zwischen Menschen und Völkern und kostet viele das Leben. Tod, Vereinsamung, wirtschaftlicher Ruin, psychische Beeinträchtigungen – die Pandemie hat viele schreckliche Gesichter. Jeder und jede ist betroffen, kaum jemand hat nicht in seiner Familie oder im Freundes- oder Bekanntenkreis Erkrankte oder gar Tote zu beklagen. Weltweit haben Staaten und Gesellschaften mit einem immensen Aufwand reagiert. Medizinisch und ökonomisch sind zahlreiche Maßnahmen eingeleitet worden, um die Pandemie einzugrenzen und ihre Wirkungen zu bekämpfen. Darüber wird öffentlich viel berichtet und diskutiert. Weniger im Bewusstsein sind neben der persönlichen Trauer die vielen kleinen Initiativen des Erinnerns und Trauerns, die in der Situation des Lockdowns eine immense Bedeutung haben, weil sie Trost und Hoffnung spenden können. Daran beteiligen sich Einzelne und zahlreiche, offensichtlich spontan entstandene Gruppen, auch aus den Religionsgemeinschaften und den christlichen Kirchen. Möglichkeiten, Formen und Orte des Trauerns müssten stärker ins öffentliche Bewusstsein treten. Einzelne sollten mit ihrer Not nicht allein gelassen werden. Für den Zusammenhalt wie die Selbstvergewisserung der Gesellschaft ist es notwendig, auch nach einem gemeinsamen Moment der Trauer zu suchen. Es gilt, die Toten nicht der Anonymität anheim zu geben, sondern ihnen – wie eine bundesweite Initiative sich nennt – ein Gesicht zu geben und etwas gegen das Vergessen und die Abstumpfung zu setzen. Dabei geht es insbesondere um die Verstorbenen, aber auch um alle anderen, die unter dieser Pandemie zu leiden haben. Ebenso darf in aller Trauer die Dankbarkeit für diejenigen nicht vergessen werden, die sich mit immenser Kraft für andere und deren Leben und Würde einsetzen – als Ärzte, Pfleger, Seelsorger.
Wie schon in den vergangenen Jahren bei Trauerfeiern nach großen Katastrophen beobachtet werden konnte, sind es kleine, ganz einfache Rituale, die in dieser Situation eine Rolle spielen. Und es sind Initiativen Einzelner, die dann durch Hashtags eine große Verbreitung und entsprechende Vernetzung erfahren. So ist in der Schweiz dazu aufgerufen worden, am Silvestertag an 100 Orten möglichst 50 Kerzen anzuzünden, um der damals etwa 5.000 Verstorbenen zu gedenken. In einer Kirche in Schwäbisch Gmünd wurde eine Installation aufgestellt, bei der für jeden und jede in Deutschland an Corona Verstorbene(n) ein Nagel in ein Holz eingeschlagen wurde. Der Nagel stand hier als Zeichen für Leiden und Tod, im Hintergrund der Kreuzestod Jesu. Der Dominikanerkonvent in Düsseldorf gab schwarze Trauerschleifen aus, die als Zeichen für Solidarität getragen werden sollten. Es wurde zum Gebet für Trauernde eingeladen. In Leipzig gibt es die ökumenisch getragene Klagezeit. Hören. Schweigen. Beten. An verschiedenen Orten, so etwa in Hildesheim, fanden ökumenische Gottesdienste statt, in denen man der Toten gedachte und für sie betete. Auf dem Stephansplatz in Wien wurden zum Gedenken an die Toten still Kerzen aufgestellt.
All diesen Aktionen und Gottesdiensten ist gemeinsam, dass sie Menschen im Gedenken zusammenführen und solidarische Gemeinschaft im Trauern ermöglichen. Sie fragen nicht nach Bekenntnis und gesellschaftlichem Stand, sondern setzen für alle Toten Zeichen. Es sind öffentliche Rituale. Sie eröffnen dort Räume der Trauer, wo ein Abschiednehmen von Sterbenden und eine Verabschiedung am Grab nur für eine kleine Trauergemeinschaft oder auch gar nicht möglich war. Und sie bewahren die Toten der Gesellschaft in Erinnerung.
Zudem erkennt man das Ringen um Zeichen, die über einen kleinen Kreis religiös Initiierter hinaus sprechen können. Wieder sind es vor allem Kerzen und ist es Licht, das eine Rolle spielt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Initiative #lichtfenster ausgerufen. Momente der Stille und des Innehaltens finden Platz. Und Gebet oder Bitte finden sich, möglicherweise so formuliert oder gesprochen oder durch Zeichen untersetzt, dass sie über den engeren Kreis einer Glaubensgemeinschaft hinaus trösten. Worauf in dieser und vergleichbaren gesellschaftlichen Situationen verzichtet werden kann, ist die Erklärung des Leids mit großer, vielleicht sogar großer theologischer Geste. Wichtig sind Zusammenhalt und Nähe, die sich im gemeinsamen Aushalten der Katastrophen und ihrer Bewältigung bewähren müssen.
Warum solche Rituale? Die Pandemie ist mit Unabwägbarkeiten für einzelne wie für die Gesellschaft insgesamt verbunden. Wer infiziert sich, wie durch- oder überlebt er oder sie die Krankheit, an welchen Folgen leidet er oder sie? Wie erträgt die Gesellschaft beispielsweise die wochenlange Abschottung und das Herausgerissensein aus vertrauten Lebensabläufen? Wie kommen die einzelnen kulturellen Einrichtungen und Initiativen damit zurecht, wie die Wirtschaft? Es ist eine Zeit tiefgreifender Verunsicherungen. Rituale, und wenn sie noch so einfach sind, helfen dabei, Unsicherheit, Vereinzelung und Orientierungslosigkeit zu mindern. Es gibt bestimmte rituelle Gewohnheiten, auf die immer neu zurückgegriffen werden kann und die hilfreich sind, weil sie nicht immer neu ausgehandelt werden müssen. Das schließt Variationen nicht aus. So überrascht es nicht, dass auch jetzt wieder die schon erwähnten Kerzenriten eine Rolle spielen: eine brennende Kerze als Zeichen der Erinnerung ins Fenster zu stellen, kleine „Altäre“ mit Bildern Verstorbener und Kerzen aufzustellen, viele, sogar Hunderte von Kerzen anzuzünden, die für die zahllosen Toten stehen. In Trauerfeiern nach Katastrophen fallen häufig Riten mit Kerzen auf. Sie lassen sich mit vielen Assoziationen und Deutungen verbinden – mindestens zeigen sie, wie in aller Dunkelheit Licht brennen kann, und ‚funktionieren‘ also im Sinne ihrer primären Funktion. Aber sie können eben auch für einen toten Menschen brennen, sie können in einem religiösen Sinn gedeutet werden. Das Verbindende eines solchen Rituals ist, dass viele sich daran mit unterschiedlicher Deutung beteiligen. So kann man sich wechselseitig Halt geben.
Viele Ritualtheorien gehen davon aus, dass in Ritualen Werte und Normen kommuniziert werden. Dass man um Menschen trauert und dass eine Gesellschaft oder Gruppe in dieser Gesellschaft dem, möglicherweise in sehr unterschiedlicher Weise, eine Gestalt geben, zeigt mindestens, dass die Toten nicht gleichgültig sind, sondern es ein Band zwischen Lebenden und Toten gibt. Es dokumentiert auch, dass die Trauernden eine Rolle spielen und dass nach Halt und Hilfestellung für sie gesucht wird. Gedächtnis an die Toten wird heute in ganz unterschiedlicher Weise gelebt. So oder so begegnet man einem Gedenken, das über ein alltägliches Erinnern hinausgeht. Trauerrituale können zeigen, dass Menschen anderen Menschen etwas wert sind. Das ist in Zeiten einer Pandemie, in der jeder Morgen neue ungeheuerliche Zahlen bringt, ein wichtiger Aspekt und ein Wert für sich.
Neben den vielen Einzelinitiativen, die schon während der Pandemie ergriffen worden sind, wäre eine zentrale Trauerfeier sinnvoll: Deutschland trauert. Vielleicht auch: Europa trauert. Der Vorschlag, einen eigenen, jährlich wiederkehrenden Trauertag einzurichten, ist schwierig. Müsste man dann nicht auch für die Toten anderer Krankheiten ähnliches fordern? Mit einmaligen Trauerfeiern nach großen Katastrophen gibt es Erfahrungen in Deutschland. Sie waren und sind für die Gesellschaft sozialpsychologisch wichtig. Sie sind in den vergangenen Jahrzehnten von evangelischer und katholischer Kirche gemeinsam als ökumenische Gottesdienste vorbereitet worden. In jüngerer Zeit haben die Kirchen mehr und mehr andere Religionsgemeinschaften an den Feiern beteiligt. Außerdem sind bei den Trauergottesdiensten häufig Notfallseelsorger:innen und Angehörige von Polizei und Rettungsdiensten beteiligt gewesen. Das sollte für eine Trauerfeier im Angesicht von Corona auch gelten: Menschen, die unmittelbar von dieser Krankheit betroffen waren oder für die Kranken da waren, sollten in die Gestaltung und Durchführung der Feier einbezogen werden. Es müsste eine Feier sein, die die Pandemie ‚zur Sprache bringt‘ und damit zur Bewältigung beiträgt.
Die Orte, an denen die Trauerfeiern stattfanden, waren zumeist Kirchen oder besonders ausgezeichnete öffentliche Plätze. Das ist nicht unwichtig, denn über den jeweiligen Ort wird vielerlei kommuniziert. Eine Kathedrale oder ein zentraler Platz in einer Stadt verdeutlichen, welches Gewicht einer solchen Feier beigemessen wird. Der Ort vernetzt mit dem, was hier sonst geschieht, und verweist auf die Metaerzählung, die diesem Raum eingeschrieben ist. Es sind Anders-Orte, die die Geschichte des Alltags übersteigen und andere Dimensionen des Lebens und Hoffens ansprechen. Es sind zudem Räume des öffentlichen Lebens, auch die Kirchenräume, die sich aufgrund ihrer Geschichte, mehr denn je als Orte gemeinschaftlicher Trauer eignen. Menschen aus den christlichen Kirchen, die in der Pandemie besonders engagiert waren, Seelsorger:innen und Ehrenamtliche, sollten aufgrund ihrer Erfahrung die Initiative ergreifen, solche Feiern anregen und mit anderen zusammen gestalten. Das muss völlig absichtslos geschehen, muss nicht nur für alle offen sein, sondern die unterschiedlichen Gruppen in der Gesellschaft denkbar breit einschließen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn es einen temporären Ort der Klage gäbe, an dem die Sprachlosigkeit durchbrochen würde, indem Leid und Trauer ausgedrückt werden könnten. Eine „Feier“, in der beispielsweise Christinnen und Christen als Erzählgemeinschaft von der Hoffnung erzählen können, die sie trägt in einer solchen Schreckenszeit. Sie selbst können von dem hören, was anderen Halt und Hoffnung gibt – Juden, Muslimen, Religionsfreien. Eine Zeit würde für das Klagen und Trauern in Gemeinschaft freigehalten – offen für unterschiedliche Weltsichten im Neben- und Miteinander der Gesellschaft. Wie vor einigen Jahren bei einer Trauerfeier in der Münchener Frauenkirche, in der Juden, Christen und Muslime in einem rituellen Raum ihr Hoffen und Sehnen zusammen ausdrücken konnten. So würde Sorge getragen, dass neben allem medizinischen, wirtschaftlichen und technischen Tun auch ganz einfach menschliches Trauern im Miteinander einen Ort findet. Eine solche gemeinsame Trauerfeier ist letztlich schlicht eine Frage der Humanität! US-Präsident Joe Biden hat bei einer eindrucksvollen Zeremonie des Gedenkens an die Corona-Toten am Lincoln Memorial in Washington in der USA formuliert: „To heal we must remember.“ Die wenigen Worte rufen alles auf, was gesagt werden muss.