Von Unterschieden zwischen orthodoxem und westlichem Christentum in einer Zeit von erhöhten ökumenischen Kontakten und zahlreichen Austauschprozessen zu sprechen, mag ein schwieriges Unterfangen sein. Theologische Differenzen, die – historisch gesehen – eine bedeutende Rolle dabei gespielt haben, bleiben heute meistens einer begrenzten Zahl von Eingeweihten bekannt. Die voranschreitende Globalisierung bringt außerdem Staaten, Kulturen und Menschen näher – dies gilt auch für Kirchen und Gläubige. Was trennt denn noch den christlichen Osten vom christlichen Westen?
Blickt man jedoch näher auf die gegenwärtige Lage der Kirchen in Ost und West, dann lassen sich etliche kleinere oder größere Differenzen zwischen ihnen beobachten. Diese werden oftmals weder als solche wahrgenommen noch tragen sie wirklich zur zwischenkirchlichen Entfremdung bei. Trotzdem liefern sie spannende Einblicke in die jeweilige Entwicklung des Christentums in Ost und West, die in vielerlei Hinsicht, insbesondere ab dem Beginn der Frühen Neuzeit, unterschiedlich verlaufen ist. Ein solches Paradebeispiel betrifft die Konstruktion, die Wahrnehmung und die Vermittlung der Sakralität des Kirchenraumes.
In diversen katholischen als auch protestantischen/reformatorischen Kontexten (in Deutschland, Westeuropa und darüber hinaus) beobachtet man seit einigen Jahrzehnten eine interessante Entwicklung, wie man mit der Sakralität des Kirchenraumes umgeht. Da viele Gotteshäuser aus verschiedenen Gründen nicht benutzt werden, verlassen sind oder leer stehen, werden sie abgerissen, verkauft oder entwidmet. Somit wird ihre primäre religiöse Funktion völlig geändert, insbesondere wenn solche Gebäude später für rein säkulare Zwecke benutzt werden. Aus Kirchengebäuden werden demzufolge Restaurants, Bars, Büroräume, Wohnungen, Galerien, Kulturzentren, Ausstellungshallen, Konzertsäle, Kindergärten und Kinderparadiese, diverse soziale Einrichtungen, und vieles mehr – neuerdings auch Flüchtlingsunterkünfte. Diese Entwicklung wurde in der allgemeinen Öffentlichkeit oftmals diskutiert und erregte Aufmerksamkeit – selbst das Magazin der Deutschen Bahn „mobil“ (Nr. 3 von 2011) widmete dieser Thematik einen Beitrag. In Edinburgh begegnete ich einmal einer ehemaligen Kirche, die ab 1994 zu der Kletterhalle Alien Rock umgewandelt wurde – etwas durchaus nachvollziehbares und passendes aufgrund der hohen Wände und Türme der Kirche. Es gibt sogar offizielle Anweisungen und Arbeitshilfen der jeweiligen Kirchenleitung über die Umnutzung von Kirchengebäuden. Der Nutzungswandel betrifft sogar teilweise historische Kirchengebäude, die einen musealen Charakter haben.
Hinter diesem Prozess verstecken sich verschiedene Gründe und pragmatische Überlegungen seitens der jeweiligen Kirchenleitung. Ökonomische und weitere utilitaristische Gründe spielen sehr oft eine Rolle und zwar aufgrund der schwindenden Zahl von Mitgliedern einer bestimmten Gemeinde, die finanziell nicht mehr als überlebensfähig und -würdig eingestuft wird. Durch diese Umwandlung leistet außerdem die jeweilige Gemeinde in vielen Fällen einen Beitrag zur Gesellschaft und zum Dialog zwischen Kultur und Kirche, was für ihr soziales Profil heutzutage enorm wichtig ist. Der Kirchenraum fungiert dementsprechend als Begegnungsraum unterschiedlicher Art. Trotzdem handelt es sich dabei um eine neue Form von Säkularisierung, selbst wenn von besonderer Art. Konkreter ausgedrückt: Bei früheren solchen Säkularisierungsprozessen während der Frühen Neuzeit und der Moderne ging es meistens um gezielte Aktionen seitens staatlicher Akteure oder säkularer Instanzen ohne das Einverständnis der betroffenen Kirchen, die sich dagegen, auch wenn vergeblich, wehrten.
Die neue Säkularisierung ist aber eine interne. Mit anderen Worten: Sie geht auf die freie, bewusste und ungezwungene Absicht und Entscheidung der jeweiligen Kirche bzw. einer spezifischen Ortsgemeinde zurück, die mit einer solchen und teilweise radikalen Veränderung der Funktion eines Kirchengebäudes überhaupt keine Probleme zu haben scheint.
Ganz anders verhält es sich aber im orthodoxen Christentum des Ostens, wo solche säkularen Umwandlungen eines Kirchengebäudes keineswegs stattfinden. Noch wichtiger: Eine solche Aktion gilt prinzipiell als Sakrileg und Gotteslästerung, denn sie führt unweigerlich zur Profanisierung eines sakralen Raums. Diese orthodoxen Überlegungen hängen mit der „Theologie des Kirchengebäudes“ zusammen, das mit all seinen Aspekten (ikonographischer Zyklus, Wandmalereien, Ikonostase usw.) eine Visualisierung der übersinnlichen göttlichen Topographie ermöglichen soll (als Himmel auf Erden). Ohnehin wurde dem byzantinischen Kirchengebäude eine größere mystische, symbolische und figurative Bedeutung beigemessen – nicht so sehr eine rein funktionale und praktische. Es kann durchaus sein, dass unter gewissen Umständen eine nicht-religiöse Veranstaltung in einem Kirchengebäude zugelassen wird, wie zum Beispiel ein Konzert. Aber eine völlige und sogar freiwillige Umwandlung eines Kirchengebäudes für säkulare Zwecke aus ökonomischen oder anderen pragmatischen Überlegungen lehnt die orthodoxe Kirche kategorisch ab.
Wird ein Gebäude als Kirche einmal geweiht, dann gilt diese Sakralität für immer und bleibt daher unantastbar, selbst wenn die orthodoxe Nutzung des Kirchengebäudes aus dem einen oder anderen Grund beeinträchtigt wird.
Beispielsweise gibt es verlassene oder wenig benutzte Kirchengebäude, die jedoch weiterhin als solche aufrechterhalten sind und keineswegs säkularisiert werden. Dasselbe gilt auch für Klosteranlagen, die aufgrund von fehlendem Personal als Klosterruinen existieren. Sie bleiben aber in diesem Zustand dauerhaft, bis eine neue Gruppe von Mönchen oder Nonnen die Klosteranlage saniert und mit neuem Leben füllt, was allerdings in den letzten Dekaden in erhöhtem Maße zu beobachten ist. Auch die bekannte byzantinische Kirche der Hagia Sophia in Istanbul (Türkei), die 2020 wieder in eine Moschee umgewandelt wurde, verlor dadurch nicht ihre Sakralität, denn ihre Nutzung als Kirche bleibt in der Zukunft eine offene Möglichkeit.
Dieses orthodoxe Prinzip lässt sich sogar in Fällen beobachten, in denen die Trennlinie zwischen dem religiösen und säkularen Charakter eines Gebäudes nicht klar gezogen werden kann. Ein Paradebeispiel dafür stellt das römische Gebäude der Rotunda in Thessaloniki (Griechenland) aus dem 4. Jahrhundert dar. Dieses war – historisch gesehen – ein säkulares Gebäude, jedoch wurde es im Laufe der Zeit als Kirche zu Ehren des Heiligen Georgs benutzt, später sogar als Moschee in der Zeit der Osmanenherrschaft. In 1994-95 gab es erhebliche Konflikte der lokalen Diözese mit den Stadtbehörden und dem Kulturministerium, weil die Diözese einen ausschließlich religiösen Charakter für das Gebäude beanspruchte und andere Aktivitäten (z.B. kulturelle) in diesem sakralen Raum zu verbieten trachtete – jedoch ohne Erfolg.
Eine höchst interessante Entwicklung in diesem Zusammenhang lässt sich weiterhin in mehrheitlich orthodoxen Ländern Ost- und Südosteuropas in postkommunistischer Zeit beobachten. Nach Jahrzehnten von systematischer Kirchenverfolgung und -diskriminierung konnten orthodoxe Kirchen hier wieder auf einflussreiche Weise in der öffentlichen Sphäre auftreten und ihr früher beschlagnahmtes oder zerstörtes Vermögen beanspruchen. Es handelt sich hierbei um einen gezielten Entsäkularisierungsprozess mit ganz unterschiedlichen Facetten. Unter anderem betraf dies früher säkularisierte oder zerstörte Kirchengebäude, die wieder in ihrem ursprünglichen und primären religiösen Zustand gebracht bzw. neu errichtet wurden. Ein Paradebeispiel dafür stellt die Erlöserkathedrale in Moskau dar. Das ursprünglich aus dem Jahr 1883 stammende Kirchengebäude fiel 1931 dem stalinistischen Terror zum Opfer und wurde abgerissen – daraus wurde in den 1960er Jahren sogar ein Schwimmbad. Nach der politischen Wende (1989-1991) wurde jedoch sehr zügig der Plan der Wiedererrichtung der Kirche am selben Ort seitens staatlicher und kirchlicher Akteure gefasst, die 1996 abgeschlossen wurde. Die neue prachtvolle Kathedrale, deren Bau ohnehin nicht wenig gekostet hat, ist nicht nur ein Markenzeichen der russischen Hauptstadt. Sie dient zugleich als eine Erinnerung daran, dass im orthodoxen Kontext die Sakralität des Kirchenraumes (und sogar auch eines relevanten Ortes) niemals verschwindet, selbst wenn die physische Präsenz eines Kirchengebäudes nicht mehr existiert. Der bekannte Pussy-Riot Fall von 2013 galt daher neben weiteren Gründen als gezielte Profanierung dieses sakralen Monuments.
Vergleicht man diesen Fall mit der Debatte um die Wiederrichtung der 1968 in der DDR gesprengten Universitätskirche St. Pauli in Leipzig oder um die religiöse oder nicht Nutzung des Paulinums als Aula im Rahmen des neu entstandenen zentralen Universitätscampus am Augustusplatz in Leipzig, dann sind die Differenzen deutlich und unverkennbar. Sie weisen unmissverständlich auf unterschiedliche Sakralitätskonzepte in Ost und West hin und auf welche Weise damit jeweils umgegangen wird.
Die vorangegangenen Ausführungen sollten nicht den Eindruck erwecken, dass orthodoxe Kirchen qualitativ besser als die westlichen Kirchen sind oder dass sie eine entsprechende Vorbildfunktion in diesem Bereich einnehmen sollten. Hauptsächlich hängt die ganze Thematik mit den historischen Erfahrungen und Entwicklungslinien der jeweiligen Kirchen zusammen, insbesondere ab dem Beginn der Frühen Neuzeit. Es geht grundsätzlich um die räumliche Präsenz von Kirchen und ihre Repräsentation im öffentlichen Raum. Aufgrund von bestimmten Prozessen war beispielsweise die Herausforderung der Säkularisierung im Westen stärker als im Osten, der eigentlich später von westlichen Mustern von Säkularität beeinflusst wurde und diese punktuell in die Praxis umsetzte.
Staatlich erzeugte Säkularisierung von kirchlichem und klösterlichem Vermögen war im Westen der Normallfall (vgl. den Reichsdeputationshauptschluss von 1803). Trotz erheblicher Verluste, Anpassungsprobleme und Konflikte, die insbesondere für die Römisch-Katholische Kirche beträchtlicher waren, haben die westlichen Kirchen langfristig – jeweils auf eigene Weise – davon profitiert und schließlich die Legitimität der säkularen Sphäre akzeptiert.
Demzufolge wird heute die Säkularität nicht unbedingt als Bedrohung und Gefahr für die Kirche angesehen, sondern als eine unvermeidliche geschichtliche Entwicklung, mit der die Kirche konstruktiv umgehen könnte.
Es ist daher kein Zufall, dass in den westlichen Kirchen Diskurse zu einer „Theologie der Säkularität“ seit langem entwickelt worden sind. Generell geht man hier mit dem ganzen Thema flexibler und offener um, was die obenerwähnte Vorgehensweise mit den Kirchengebäuden erklären kann, die nicht mehr für den Gottesdienst benötigt werden. „Sakralität“ könnte auch im breiteren Rahmen des sozialen Dienstes der Kirche (z.B. als praktische Nächstenliebe) in einer säkularen Gesellschaft erzeugt werden und nicht unbedingt im engeren Kontext des Kirchenraumes und eines dort vollzogenen Rituals. Ein Umbau von Kirchgebäuden gemäß heutigen Erfordernissen erscheint demzufolge als durchaus legitim.
Solche Entwicklungen fehlen jedoch weitestgehend in der orthodoxen Welt, für die die Säkularität immer noch als größte Bedrohung für die Kirche eingestuft wird. Der anti-säkulare offizielle Diskurs der Russisch-Orthodoxen Kirche in postkommunistischer Zeit kann dies unter Beweis stellen. Die Grenze zwischen dem religiösen und dem säkularen Bereich bleibt hier meistens hart und undurchlässig. Dies ist wiederum hauptsächlich auf die besonderen Erfahrungen der orthodoxen Kirchen mit der Moderne zurückzuführen, die anders als diejenigen der westlichen Kirchen verlaufen sind.
Insgesamt betrifft der allgemeine Rahmen des Themas die Beziehungen zwischen Kirche und Welt und die notwendige Grenzziehung zwischen ihnen, ein höchst debattiertes Anliegen im Laufe der Kirchengeschichte. Idealerweise sollte die Kirche in der Welt existieren, jedoch nicht von dieser Welt sein. Die Balance zwischen weltbejahenden und weltablehnenden Haltungen blieb immer ein schwieriges Unterfangen für die Christen in Ost und West. Ohnehin war sie nicht leicht zu erreichen, und das Thema wurde zum Grund für gegenseitige Kritik, aber auch für Missverständnisse zwischen den Kirchen.
Im orthodoxen Osten lassen sich stärker außerweltliche Tendenzen beobachten, die oftmals zu einer Vernachlässigung sozialer Probleme seitens der Kirche führten. Im Gegensatz dazu hat die starke Weltbezogenheit im lateinischen Westen oftmals zu einer Verweltlichung der Kirche und zur Verwandlung der christlichen Botschaft in eine rein diesseitige Kategorie geführt.
Zeitgenössische Konvertiten zur Orthodoxie bereuen solche Entwicklungen in den westlichen Kirchen und suchen auf diese Weise nach stärkerem Jenseitigkeitsbezug. All diesen Differenzen haben aber bestimmte sozio-historische Gründe und sollten nicht essentialistisch verstanden werden. Es gilt zunächst diese zu lokalisieren und entsprechend zu verstehen, wie das hier behandelte Fallbespiel mit der Sakralität des Kirchenraumes gezeigt hat. Darüber hinaus sollten mögliche Wege des fruchtbaren Dialogs zwischen den Kirchen in Ost und West erkundet werden, um das notwendige Gleichgewicht zwischen affirmativer Weltbezogenheit und jenseitiger Orientierung zu finden und die damit verbundenen Spiritualitätsformen zu fördern.
Prof. Dr. Vasilios N. Makrides ist Professor für Religionswissenschaft (mit Schwerpunkt Orthodoxes Christentum) an der Universität Erfurt. Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojektes „Die Herausforderung der Verweltlichung für das zeitgenössische Christentum: Orthodoxe Perspektiven in Dialog mit dem westlichen Christentum“.