Ein Gastbeitrag von Dr. habil. Konrad Müller (langjähriger Leiter des Gottesdienst-Institutes der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Nürnberg)
Was verleiht Gottesdiensten Bedeutsamkeit? – Mich persönlich berühren vor allem jene Gottesdienste, bei denen spürbar ist: hinter ihnen steht eine Gemeinschaft, die etwas zu sagen hat. Die einen gemeinsamen Glauben bekennt. Die Position bezieht. Die sich in die apostolische Tradition stellt. Die in diesem Sinne „bekennt“.
Gottesdienst ohne Profil, ohne „Bekenntnis“ ist langweilig. Das ist das eine. Es gilt aber auch das andere: Gottesdienst ohne Ökumene grenzt aus, was zusammengehört. Christlicher Gottesdienst hat immer neben seiner partikularen auch eine umfassend gemeinschaftliche, ökumenische Dimension.
In diesem Sinne formuliere ich zwei Thesen, die ich anschließend kurz erläutere.
Zur Ökumene des Gottesdienstes gehört jedoch auch eine „Ökumene des Lebens“. Kein Gottesdienst hat Bestand, der nicht auch in gemeinsamen Lebensformen wurzelt.
1. Bereits das Neue Testament ist das Ergebnis und Spiegelbild eines ökumenischen Prozesses.
Wenn ich es recht sehe, bestimmten von Anfang an theologische Kontroversen die Gemeinden der frühen Kirche. Ich nenne nur den schwelenden Konflikt um die Art und Reichweite der Geltung des mosaischen Gesetzes. Er spiegelt sich bereits in den Diskussionen Jesu mit Schriftgelehrten und Pharisäern und setzt sich bekanntlich innerhalb der frühen Christenheit in unverminderter Schärfe fort. Auseinandersetzungen um die rechte Lehre und Gestalt der christlichen Kirche und ihrer Gemeinden haben also von Anfang an das Leben der sich bildenden christlichen Glaubensgemeinschaft gekennzeichnet.
Zwar schreibt Lukas in der Apostelgeschichte, dass die ersten Christen in der Lehre der Apostel blieben, im Brotbrechen, in der Gemeinschaft und im Gebet (Apg 2,42). Man darf diese Aussage aber nicht missverstehen. Hier wird nicht eine ursprüngliche „Einheit“ von Lehre und Leben beschrieben, die dann später verlorengegangen wäre. Ich behaupte vielmehr: Nicht so sehr eine Überzeugungsgemeinschaft, sondern vor allem eine Lebensgemeinschaft haben nach Lukas die „Gemeinden des Anfangs“ gebildet. Darin waren sie vorbildlich. Anfangs noch innerhalb des Judentums verortet, haben sie sich als Lebensform unterschieden: Sie haben miteinander die Eucharistie bzw. das „Abendmahl“ gefeiert („Brotbrechen“) und auch sonst in Feiern, in denen das Gebet im Zentrum stand, ihren Glauben geteilt („Gebet“). Sie haben sich zum Auferstandenen bekannt („Lehre der Apostel“). Auch haben sie einander in allen Nöten und Herausforderungen unterstützt („Gemeinschaft“).
Zwei Dimensionen ragen in dieser Viererliste hervor. Die eine ist die liturgisch-gottesdienstliche. Die andere umschreibt eine innergemeindliche oder innerkirchliche Diakonie, in der die Gebote Jesu weniger als Forderung nach außen, an die Welt formuliert, sondern nach innen gelebt worden sind. Einander vergeben und miteinander teilen, im Miteinander in der Gemeinde soziale Grenzen überschreiten – das hat die christlichen Gemeinden in ihrer Umwelt erkennbar gemacht.
Die Lehre der Apostel sichert dabei den Zusammenhang: Zwischen dem, wie die Gemeinde glaubt und lebt, und der Geschichte Jesu von Nazareth, der als Gottes Sohn bekannt wird. Nicht ich als Mensch, nicht wir als Kirche oder Gemeinschaft „haben die Wahrheit. Sie ist „in Christus“. – Die Lehre der Apostel lebt im Erzählen von Geschichten, in denen sich Gottes Geschichte in Jesus Christus „erfüllt“.
Lukas zeichnet so das Bild einer von Anfang an zutiefst ökumenisch orientierten, auf diakonischem Miteinander und gottesdienstlicher Feier ruhenden, ansonsten pluralen Lebensform.
Sie ist auf der einen Seite eben noch nicht durch fixierte Sprachregelungen auf den Gebieten der Lehre, des Rechts und der Normen verhärtet und erstarrt (vgl. Mk 3,5). Auf der anderen Seite wehrt sie aber auch einer selbstgefälligen Glaubens- und Geistauffassung, die sich in einem formlosen Christentum am wohlsten fühlt. „Sie blieben in der Lehre der Apostel, im Brotbrechen, in der Gemeinschaft und im Gebet.“
Ganz in diesem Sinn verlautbaren die Deutsche Bischofskonferenz und die EKD gemeinsam (Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen, 2016 [Gemeinsame Texte 24], 56f):
„Die Einheit der Kirche […] musste in der Suche nach Gemeinschaft zwischen Judenchristen und Heidenchristen […] gewährt werden [und] vor Ort in Konflikten um die rechte Lehre Gestalt gewinnen (vgl. Röm 14; 1 Kor 1–4; Gal 1; Phil 1–3). Paulus […] verweist auf Christus, den einzigen Grund und Garanten der Einheit (vgl. 1. Kor 3,5–15). Die Einheit im Glauben […] meint [deswegen] nicht Uniformität, sondern organische Vielfalt, wie das Bild vom Leib Christi zeigt (vgl. 1 Kor 12,12–27 […]).“
2. Ihre Verwirklichung findet Ökumene dort, wo Menschen trotz vieler Unterschiede miteinander ihr Leben „in Christus“, im Hören auf das biblische Wort, teilen.
Das Neue Testament zeigt, dass ein mittlerer Weg zwischen der Sicherung einer gemeinsamen Basis einerseits und gewissen Freiräumen andererseits der in Christus gebotene Weg ist, um Verbindlichkeit in Glaube und Leben sowie Freiräume miteinander zu versöhnen. „Ökumene“ ist eine Suchbewegung, um immer wieder neu diesen mittleren Weg zu finden.
Einen klaren Ausdruck findet dieses Konzept bereits im Epheserbrief. Der Epheserbrief entwickelt eine Vision christlicher Gemeinden und Gemeindeverbünde, die „in Christus“ manche Unterschiede in Glauben und Leben hintanstellen. Das Christusbekenntnis mündet vielmehr gerade auch im Epheserbrief ins gottesdienstliche Lob unter dem einen Wort: „Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen und sagt Dank Gott dem Vater, allezeit für alles, im Namen unseres Herrn Jesus Christus.“ (Eph 519f).
Dies lässt sich ohne Schwierigkeiten auf heute übertragen: Im Vordergrund sollte die Wiedergewinnung einer in Christus, dem „einzigen Grund und Garanten der Einheit“ beruhenden ökumenischen Grundhaltung und Verbundenheit stehen. Ihre Form und Gestalt, ihren Ausdruck und ihre Mitte findet diese Verbundenheit im Gottesdienst.
Für den römisch-katholischen und den evangelisch-lutherischen Bereich wäre die Gestaltung von Gottesdiensten nach einer gemeinsamen Ordnung kein großes Problem. Beide Konfessionen haben gottesdienstlich Vieles gemeinsam. Das liegt vor allem daran, dass beide Traditionen insgesamt drei für die Gestaltung von Gottesdiensten wesentliche Grundentscheidungen teilen.
Erstens: Sowohl die römisch-katholische Messe als auch die Gottesdienstordnungen der lutherischen Kirchen für den Sonntagvormittag sind nicht nur verkündigungs-, sondern auch gebets- und christusorientiert. Nicht Meinungen, sondern Haltungen, Anliegen und Bedürfnisse sollen geteilt und vor Gott gebracht werden.
Zweitens: Sowohl die Wort-Gottes-Feier als auch der Predigtgottesdienst, die sich an diesen Ordnungen orientieren, sprechen in ihren gebundenen Elementen die Sprache der Heiligen Schrift. Sie machen die Welt der Bibel stark. Sie teilen den Glauben, dass Christus dort gegenwärtig ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (vgl. Mt 1820).
Drittens: Weil sie theologisch auf die Christusgegenwart bezogen sind, verstehen sie ihren gottesdienstlichen Ablauf als einen Weg, der die Geschichte Jesu mit den Seinen nachzeichnet und die Gemeinde in diese Geschichte mit hineinnimmt. In dieser Hinsicht teilen sie ein Bekenntnis: zu Christus und seiner Geschichte mit uns als dem bleibenden Grund einer Einheit, die wir nicht einfach auf einen Begriff bringen können. Die uns aber gegeben ist.
Es gibt also viele gute Gründe, gemeinsam Gottesdienste zu feiern.
Die gemeinsame Feier von Wort-Gottes-Feiern wäre Ausdruck einer sozialen Demut, die zum Wesen des Christentums gehört.
Gemeinsame Wort-Gottes-Feiern dürfen jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Es geht bei jedem Gottesdienst immer auch um die Einbindung in ein lebensförmiges Miteinander – des Glaubens, des Lebens, des Handelns –, das den Gottesdienst trägt.
Gemeinsame Wort-Gottes-Feiern oder „Predigt-Gebetsgottesdienste“ haben eine Zukunft als Teil einer ökumenisch getragenen Lebenskultur.
Ein weiteres Plädoyer für mehr Ökumene im Gottesdienst und eine Reaktion auf das gemeinsame Dokument der EKD und DBK „Mehr Sichtbarkeit in der Einheit und mehr Versöhnung in der Verschiedenheit. Chancen einer prozessorientierten Ökumene“ hat unser Professor für Liturgiewissenschaft Benedikt Kranemann verfasst.