Der Epitaphios, die Grabrede auf die gefallenen Athener im ersten Jahr der Peloponnesischen Krieges (431–404 v.Chr.), die der Historiker Thukydides dem Feldherren und Staatsmann Perikles in den Mund legte, gehörte lange Zeit zu den zentralen Texten eines klassischen Bildungskanon. Dieser Epitaphios ehrt die Toten und tröstet die Hinterbliebenen, beschreibt aber auch die Werte und Ideale Athens und seiner demokratischen Verfassung, für die sich der Einsatz des Lebens im Krieg lohne. Moderne westliche Demokratien sahen und sehen sich – trotz aller historischen Unterschiede – in der kulturellen und politischen Tradition eines idealen demokratischen Athens, dem Thukydides im Epitaphios des Perikles ein bleibendes Denkmal geschaffen hat. Deshalb haben Repräsentanten und Verfechter der westlich freiheitlichen Demokratien immer wieder Anleihe beim Epitaphios des Perikles genommen, um ihre eigenen Werte und Ideale zu formulieren und zu legitimieren. Für alle, die sich in dieser Tradition sehen, dürfte der Epitaphios des Perikles unweigerlich transparent werden hin auf die Ukraine und ihre Bevölkerung, die unter Einsatz ihres Lebens gegen den völkerrechtswidrigen Angriff eines autoritären und totalitären Staates wehren und unter Einsatz ihres Lebens für die Ideale und Werte eines demokratisch organisierten und legitimierten Staates kämpfen. Der Epitaphios des Perikles wird damit geradezu zur Hommage an alle Ukrainer:innen, die seit dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands am 24. Februar 2022 nicht nur ihr Land, sondern die westliche Kultur und ihre Tradition von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit tapfer verteidigen.
Athen und Sparta … im Kampf zwischen Demokratie und Oligarchie
Der athenische Historiker Thukydides (vor 454 bis 399/396 v.Chr.) beschreibt in seinem Geschichtswerk den „Krieg zwischen den Peloponnesiern und den Athenern“ (431–404 v.Chr.) nicht nur als Kampf zweier Hegemonialmächte und ihrer Bündnissysteme um die Vorherrschaft in der Welt der griechischen Stadtstaaten, sondern auch als Auseinandersetzung zwischen zwei politischen Systemen. Mit Athen und Sparta stehen einander ein demokratisch verfasster und ein oligarchisch verfasster Stadtstaat gegenüber, und beide Städte kämpfen auch um den Erhalt des eigenen politischen Systems und der damit verbundenen Werte und Lebensgewohnheiten.
Auch wenn Thukydides als Athener immer wieder die Bewunderung für das politisches System, die kulturellen Leistungen und die militärische und wirtschaftliche Stärke seiner Heimatstadt erkennen lässt, so darf sein Geschichtswerk über den Peloponnesischen Krieg dennoch nicht als einseitige Propagandaschrift zugunsten Athens verstanden werden. Thukydides, der über den Krieg als Augenzeuge schreibt, betont, dass er sich trotz persönlicher Präferenzen und Sympathie um eine ausgewogene Darstellung der Ereignisse und Fakten bemüht hat, die Parteilichkeit vermeidet und beiden Seiten gerecht werden soll (vgl. 1,23; 5,26). Wie sehr diese Versicherung ernst zu nehmen ist, zeigt sich daran, dass Thukydides in seinem Werk immer wieder deutliche Kritik an Athen und seinem Verhalten im Krieg formuliert. Die beiden berühmtesten Beispiele dafür sind der Bericht über das harte Vorgehen gegen die Bewohner von Mytilene auf Lesbos, die sich aus der Hegemonie Athens lösen wollten und das Bündnis mit Sparta und dem Peloponnesischen Bund suchten (3,1–50), und der Bericht über das noch brutalere Vorgehen gegen die Bewohner von Melos, die sich nicht freiwillig der Vorherrschaft Athens unterwerfen wollten (5,85–116). Thukydides macht deutlich, dass der Krieg auf Seiten der Athener nicht weniger als auf Seiten der Spartaner zu Grausamkeiten und Verrohung der Sitten führte (vgl. 3,82–85).
Auch wenn Thukydides die Wiedergabe von Tatsachen als Anliegen seines Werkes hervorhebt, so macht er zugleich deutlich, dass es ihm um mehr geht als nur um die Darstellung des Historisch-Faktischen. Die Darstellung des Vergangenen soll Einsicht vermitteln in das unveränderliche Verhaltensmuster des Menschen als prägende Kraft der Geschichte (vgl. 1,22). Durch den Blick auf die Ereignisse der Vergangenheit sollen die Leser:innen des Thukydides gerüstet sein für die Zukunft, weil das, was geschehen ist, sich aufgrund dieses unveränderlichen Verhaltensmusters des Menschen notwendig wiederholen wird. Im Krieg mit seiner Grausamkeit und seinen verheerenden Folgen zeigt sich für Thukydides in exemplarischer Weise das Erschreckende und Rohe des menschlichen Verhaltensmusters (vgl. 1,23,1–3). Daraus ergibt sich für Thukydides als wahrer Grund des Krieges der Machtzuwachs Athens, durch den sich das konkurrierende Sparta bedroht und zum Krieg gezwungen fühlte, weil der Mensch durch das Verhaltensmuster bestimmt ist, dass überall das Recht des Stärkeren gelte und er sich deshalb die Dominanz sichern müsse (vgl. 1,23,4–6). Zugleich vermerkt er, dass beide Kriegsparteien öffentlich mit verschiedenen Gründe den Ausbruch des Krieges rechtfertigten, den wahren Grund aber kaum benannten.
Der Epitaphios des Perikles als Lob der Demokratie
Einen entscheidenden Faktor für den Aufstieg Athens und die Expansion seiner Macht sieht Thukydides in der demokratischen Verfassung der Stadt. Programmatisch formuliert dies in seinem Geschichtswerk der berühmte Epitaphios, die große Grabrede, die der athenische Staatsmann und Feldherr Perikles (um 490 bis 429 v.Chr.) im Winter 431/430 v.Chr. zu Ehren der im ersten Kriegsjahr gefallenen Athener hält (1,37–46). Inwieweit der Epitaphios des Perikles einer tatsächlich gehaltenen Rede folgt, lässt sich schwer bestimmen. Thukydides selbst merkt im Blick auf die Reden seines Geschichtswerkes an, dass es sich nicht um wortgetreue Protokolle handele, sondern dass er sie so formuliert habe, wie die einzelnen Personen seiner Meinung nach in den jeweiligen Situationen am ehesten gesprochen haben, und dass er sich am Gesamtsinn der wirklich gehaltenen Reden orientiert habe (vgl. 1,22,1). Das bedeutet für den Epitaphios wohl, dass Perikles, wie Thukydides berichtet, von der Stadt bestimmt worden war, bei der nach althergebrachter Sitte begangenen öffentlichen Trauerfeier auf die Gefallenen eine Lob- und Trauerrede zu halten; der Wortlaut seiner Rede aber und weitgehend wohl auch ihr Inhalt dürften das Werk des Thukydides sein.
Die Rede reflektiert zuerst die Schwierigkeit, die richtigen Worte und den angemessenen Ton zu finden, um die Gefallenen und ihre Taten in der gebührenden Weise zu ehren. Danach wendet sich die Rede zunächst ausführlich Athen und seiner Größe, seiner Blüte und seinen Vorzügen zu, bevor sie den Heldenmut der Gefallenen preist, die bereit waren für ihre Heimatstadt zu kämpfen und zu sterben. Mit Worten des Trostes und der Ermahnung an die Hinterbliebenen, die Eltern, die Brüder und Söhne sowie die Ehefrauen der Gefallenen, endet die Rede. Alle Teile des Epitaphios durchzieht der Gedanke, dass die Athener eine Stadt besitzen, die politisch, kulturell, wirtschaftlich und militärisch so einzigartig und ausgezeichnet ist, dass die Gefallenen für sie freiwillig ihr Leben hingegeben haben, weil sie eine solche Stadt nicht verlieren wollten, und die Lebenden gern bereit sind, für sie jede Mühe zu ertragen.
Der Epitaphios hebt die Freiheit Athens hervor, das keiner anderen Stadt unterworfen ist und in Krieg und Frieden auf sich allein gestellt bestehen kann. Vor allem aber preist die Rede die Demokratie als Staatsverfassung Athens, das nicht fremde Gesetze nachahmen muss, sondern mit seiner politischen Ordnung für andere zum Vorbild geworden ist.
Aufgrund seiner Verfassung entscheide in Athen – im Unterschied zum oligarchischen Sparta – nicht eine Minderheit über die Belange der Stadt, sondern in Abstimmungen aller Bürger werden Entscheidungen durch Beschluss der Mehrheit getroffen. Vor den Gesetzen der Stadt seien in Athen alle Bürger gleich. Öffentliche Ämter werden nach Tüchtigkeit und Eignung vergeben, und niemand werde von der Übernahme von Ämtern aufgrund seines geringen Vermögens oder niederen sozialen Status ausgeschlossen. Freiheit und Ordnung in der Stadt werden dadurch garantiert, dass Bürger und Amtsträger sich an die Gesetze halten, die vor allem zum Nutzen der Schwächeren erlassen werden. Der Epitaphios betont, dass die Bürger und Amtsträger Athens außer den geschriebenen Gesetzen auch die ungeschriebenen halten, die auf Sittlichkeit und Anstand im alltäglichen Umgang zielen.
Das Gemeinwesen der Athener sorge für das Wohl seiner Bürger auch dadurch, dass es ihnen durch Wettkämpfe und religiöse Feste ausreichend Entspannung neben der Last der Arbeit ermöglicht. Ihren Bürgern gewähre die Stadt Wohlstand und Luxus auch im privaten Bereich. Die Stadt sei ein Zentrum des Handels und offen für Fremde, denen nicht aus Angst vor feindlicher Spionage der Zugang verweigert werde. Für ihre Verteidigung könne die Stadt auf den Mut und die Tapferkeit ihrer Bürger bauen, denen sie die Bereitschaft zum Kampf nicht durch Gesetze befehlen müsse. Außerdem rühmt der Epitaphios, dass alle Bürger sich um die Angelegenheiten ihres Staatswesens nicht mit weniger Sorgfalt und Eifer kümmern als um die Angelegenheiten ihres privaten Haushalts. Die Staatsgeschäfte werden unter allen Bürgern im freien Austausch der Meinungen klug erörtert, bevor man ans Werk geht. In ihren Entscheidungen und Handlungen seien die Athener deshalb weder aus Unüberlegtheit leichtfertig noch aufgrund übermäßiger Bedenken zögerlich, und sie weichen, wenn klare Einsicht es erfordere, der Gefahr nicht aus. Fremde gewinnen die Athener durch Großzügigkeit und Wohltaten als Verbündete.
Der Epitaphios und die modernen westlichen Demokratien
Was Thukydides im Epitaphios formuliert und Perikles in den Mund legt, drückt aus, was die Bevölkerung Athens im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts v.Chr. über sich und ihre Verfassung dachten. Was die Rede über Athen und seine Verfassung zur Zeit des Peloponnesischen Krieges sagt, ist keineswegs bloß eine idealisierende Verklärung der Wirklichkeit, sondern spiegelt die Grundsätze der attischen Demokratie, wie sie von Solon (um 640–560 v.Chr.) über die Reformen des Kleisthenes (um 570 bis nach 507 v.Chr.) und die Entmachtung des Areopags unter Ephialtes (gest. 461/457 v.Chr.) hin zur endgültigen Demokratisierung unter Perikles entwickelt hatte. Perikles hatte eine Besoldung eingeführt, um auch Bürgern mit nur geringem Einkommen die Übernahme öffentlicher Ämter und politisches Engagement zu ermöglichen. Zusammen mit der Stärkung der Volksversammlung und der Volksgerichte trug dies zur Realisierung der Volkssouveränität bei, so dass die Hoheit über Gesetzgebung (Legislative), Rechtsprechung (Judikative) sowie Regierung und Verwaltung (Exekutive) in Athen vollständig in den Händen der Bürger lag.
Gewiss lässt sich die Verfassung Athens – selbst in der Form der voll entwickelten attischen Demokratie der Zeit des Perikles – nicht einfach mit dem Modell und Ideal der modernen freiheitlichen Demokratien gleichsetzen. Vieles von dem, was für die freiheitlichen Demokratien westlicher Staaten in der Gegenwart gültig ist oder gültig sein sollte, kannte die attische Demokratie noch nicht. Partizipationsrechte und Rechtsgleichheit blieb auf einen kleinen Kreis der Bewohner Athens beschränkt; Bürger nämlich waren nur frei geborene Männer, die väterlicher- und mütterlicherseits von athenischen Bürgern abstammten. Zugezogene in der Stadt blieben damit ebenso ausgeschlossen wie Frauen und Sklaven. Auch die für die freiheitlichen westlichen Demokratien zentrale Idee der Menschenrechte, setzte sich erst in der Neuzeit mit der Aufklärung und der Französischen Revolution (1789–1799) allmählich durch. Unbekannt war der attischen Demokratie auch noch das für moderne westliche Staaten und ihre Verfassungen leitende Prinzip der Gewaltenteilung. Ebenso war die Idee eines Völkerrechts, das die Beziehung von Staaten nach dem Grundsatz der Gleichrangigkeit regelt und das Recht des Stärkeren in internationalen Beziehungen beschränken soll, der attischen Demokratie noch fremd. Für das demokratisch verfasste Athen der Zeit des Perikles und des Peloponnesischen Krieges bedeutete es deshalb keinen Widerspruch zu den eigenen demokratischen Werten und Idealen, wenn die Stadt im Attisch-Delischen Seebund die eigenen Verbündeten vollständig dominierte und beherrschte.
Dennoch lassen sich – trotz aller Unterschiede – aus dem, was der Epitaphios des Perikles als Kennzeichen der demokratischen Verfassung Athens formuliert, die leitende Prinzipien der Verfassungen moderner demokratischer Staaten der westlichen Welt ableiten. Dazu gehören die Volkssouveränität, der freie Zugang aller zu öffentlichen Ämtern, die Gleichheit aller vor den Gesetzen, die Rechtsstaatlichkeit und Redefreiheit, aber auch Weltoffenheit und Pflege der Kultur. Auf der Basis der Idee der allgemein gültigen Menschenrechte ist in den modernen westlichen Demokratien zudem Unfreiheit ausgeschlossen, und Männer und Frauen sind in gleicher Weise „Bürger:innen“ und damit Inhaber:innen von Rechten und Pflichten.
Der Kampf der Ukraine und der Epitaphios des Perikles
Anders als Athen ist die Ukraine keine Hegemonialmacht, die mit dem benachbarten Russland um die Vorherrschaft im Osten Europas ringt. Der Kampf der Ukraine gegen Russland trägt andere Züge. Russland hat auf Befehl seines Präsidenten Wladimir Putin geltendes Völkerrecht gebrochen und am 24. Februar 2022 die benachbarte Ukraine überfallen. Hinter dem Angriff Russlands stehen imperiale und hegemoniale Phantasien, die von einer Wiederherstellung der einstigen sowjetischen Einflusssphäre oder sogar von einem russisch dominierten Eurasien träumt. Dabei geht es auch um einen Kampf zwischen gegensätzlichen politischen Systemen. Das totalitär-autoritäre Regime Russlands unter der Führung von Präsident Putin sieht eine Ukraine, die sich kontinuierlich zu einer freiheitlichen westlichen Demokratie entwickelt, als Gefahr für das eigene System und die eigene vollständige Kontrolle über den russischen Staat und seine Ressourcen. Der Krieg gegen die Ukraine ist für Putin und sein Regime ein Krieg gegen die fundamentalen Prinzipien der Demokratie, die Russland vollständig unterdrückt werden. Dazu gehören vor allem Volkssouveränität, freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit – aber auch die Menschenrechte. Dieser Krieg gegen Freiheit und Demokratie auf dem Gebiet der Ukraine wird von Russland als Reaktion auf den Euromaidan bereits seit 2014 offen mit Waffengewalt geführt.
Für die Ukraine und ihre Menschen stehen in ihrem Verteidigungskampf die Unabhängigkeit ihres Staates auf dem Spiel und das Recht, sich frei das eigene politische System zu wählen und sich als Demokratie und freiheitlicher Rechtsstaat nach westlichem Modell zu organisieren. Insofern lässt sich – trotz aller Unterschiede – durchaus eine Linie vom Epitaphios des Perikles zum Kampf der Ukraine gegen den russischen Aggressor ziehen, und was der Epitaphios über die im ersten Kriegsjahr gefallenen Athener sagt, lässt sich durchaus auf die im ersten Kriegsjahr gefallenen Ukrainerinnen und Ukrainer übertragen.
Der Epitaphios des Perikles preist die Gefallenen als Helden, weil sie Kampf und Tod als ruhmvolles Geschick sahen und ihr Leben für das Gemeinwesen – d.h. für die Stadt und ihre Bewohner, ihre Verfassung und ihre Art zu leben – hingaben. Die Gefallenen haben gekämpft, nicht weil sie ohnehin ein elendes Leben führten und vom Leben nichts Gutes zu erwarten hatten. Vielmehr haben sie gekämpft, weil für sie viel auf dem Spiel stand und sie viel zu verlieren hatten. Was auf dem Spiel stand und was sie zu verlieren hatten, aber war die Freiheit Athens und seine demokratische Ordnung. Die Gefallenen waren bereit zu sterben und die Hinterbliebenen sind fähig, Leid und Trauer zu tragen, weil sie die Vorzüge der demokratischen Verfassung Athens in ihrem Leben erfahren haben und deshalb wissen, was es bedeuten würde, dieses Gutes beraubt zu werden.
Der Epitaphios der Perikles und der Verteidigungskampf der Ukrainer:innen stellen vor die Frage, wofür es sich lohnt, das eigene Leben einzusetzen, und wofür man bereit ist zu sterben. Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass diese Frage, die der Epitaphios des Perikles aufwirft, für demokratische Staaten und ihre Bürger:innen eine bleibend aktuelle und existenzielle ist. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Ukrainer:innen diesen Krieg nicht gesucht haben. Ihr Kampf ist kein Ausdruck von Militarismus. Sie wurden von Russland in diesen Krieg hineingezwungen und ihnen wurde keine Wahl gelassen. Die Ukrainer:innen aber wissen offensichtlich genau, was für sie auf dem Spiel steht, und sie sind bereit, das, was ihnen wichtig ist, unter Einsatz ihres Lebens zu verteidigen. Das, was ihnen wichtig ist, ist das Leben in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat. Die Antwort der Ukrainer:innen auf den Überfall Russlands und die Frage, wofür es sich zu leben und zu sterben lohnt, liegt insofern ganz in der Tradition des Epitaphios. Begreift man den Epitaphios als einen der grundlegenden Texte, in denen die modernen westlichen Demokratien ihr Selbstverständnis, ihre Werte und Ideale exemplarisch und paradigmatisch ausgedrückt sahen, dann wird deutlich, dass die tapferen Ukrainer:innen mit ihrem Kampf hinreichend bewiesen haben und jeden Tag aufs Neue beweisen, dass sie – trotz noch bestehender systemischer Defizite und nötiger Reformen – Teil der westlichen Welt und ihrer freiheitlichen Demokratien geworden sind.
An der Seite der Ukraine … für die Demokratie
Zu einer Antwort auf die Frage, wozu es sich zu sterben lohnt, zwingen auch Russlands Präsident Putin, die russische Kriegspropaganda und die russische Kriegsführung. Russlands Präsident hat den Krieg zum Kampf gegen den „kollektiven Westen“ und seine falschen Werte erklärt, was er zuerst als Kampf vor allem gegen gay rights / LGBTQ+ rights und Gender-Theorien versteht. Dafür schickt er abertausende junger russischer Soldaten in den Krieg – und in den Tod. Der Krieg in der Ukraine stellt auch die Kirchen und ihre Theologie(n) vor die Frage, wofür es sich zu sterben lohnt. Denn Putins Patriarch Kyrill I. sekundiert seinem Präsidenten und erklärt mit ihm den Tod im Kampf gegen gay rights / LGBTQ+ rights und Gender-Theorien zum von Gott geforderten Einsatz für das Evangelium.
Angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine kann der Platz der Kirchen und ihrer Theologie(n) nur an der Seite der Urkainer:innen sein, die ihr Leben einsetzen für die Ideale und Ziele der westlichen freiheitlichen Demokratie sowie für die Gültigkeit der Menschenrechte und des Völkerrechts.
Kirchen und ihre Theologie können im Namen Jesu und des Evangeliums nicht auf der Seite eines totalitär-autoritären Regimes, seiner imperialistischen Propaganda, seiner menschenverachtendenden Kriegsführung, seiner Verletzung der Menschenrechte und seiner Missachtung geltender internationaler Vereinbarungen. Die Kirchen und ihre Theologie(n) werden anerkennen müssen, dass es für die Ukrainer:innen keine Alternative zum Verteidigungskampf geben kann, weil Russland nicht bereit ist, die Freiheit und Souveränität der Ukrainer:innen und die territoriale Integrität ihres Staatsgebietes anzuerkennen, und weil es niemals eine Alternative zu Demokratie, Menschenrechten und Völkerrecht geben kann. Es genügt ein Blick auf Irpin und Bucha, auf Mariupol und Soledar, auf Filtrationslager in den besetzten Gebieten der Ukraine und in Russland, auf Verschleppungen und Zwangsadoptionen ukrainischer Kinder …
Literatur
Prof. Dr. Dr. Thomas Johann Bauer ist Inhaber des Lehrstuhls für Exegese und Theologie des Neuen Testaments.