Nicht erst seit gestern befindet sich die Katholische Kirche in einer bedrohlichen Glaubwürdigkeitskrise. Die MHG-Studie, die das Ausmaß sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker mit schockierenden Zahlen dargelegt hat, befeuert dieses Misstrauen weiter. Doch es geht nicht nur um einzelne “schwarze Schafe”. Tiefgreifende Strukturen fördern den Machtmissbrauch, befindet unser Liturgiewissenschaftler Prof. Dr. Benedikt Kranemann. Er kritisiert den “Klerikalismus” und fordert die Liturgie als freien Raum für alle Gläubigen zurück.
Von einem Verbrechen, von Wunden, von Schmerz, vor allem von menschlichen Opfern hat Papst Franziskus im August 2018 geschrieben. Der Anlass: die monströsen Verbrechen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche über Jahrzehnte hinweg. Die Veröffentlichung und Vorstellung der MHG-Studie über sexuellen Missbrauch in der Kirche hat das in schockierender Weise unterstrichen. Immer neue, erschütternde und abstoßende Details treten zutage. Es ist eine Glaubwürdigkeitskrise von immensen Ausmaßen. Und ein Ende ist nicht abzusehen.
Wenn jetzt nach Konsequenzen gefragt wird, müssen alle Bereiche kirchlichen Lebens schonungslos befragt werden. Wo gibt es Strukturen, die eine solche Missachtung von Menschen in ihrer körperlichen und seelischen Integrität fördern können? Wo existiert ein Autoritätsgefälle, das das Weggucken und Schweigen provoziert? Wo fördern Lebensweisen und Umgangsformen das Beiseitedrängen und die Unterdrückung anderer? Wo bilden Liturgien ein klerikal-kultisches, wo ein partizipativ-communiales Kirchenverständnis aus? Wo führen tradierte Bilder und Vorstellungen von Kirche leidvoll, und zwar auf Kosten von Menschen, in die Irre? Der Papst verlangt eine radikale Umkehr, was nicht ohne Konsequenzen bleiben darf. Es sei “eine Kultur ins Leben zu rufen, die in der Lage ist, dass sich solche Situationen nicht nur nicht wiederholen, sondern auch keinen Raum finden, wo sie versteckt überleben könnten.” Bei der Suche nach allem, was dem entgegensteht, darf es keine Tabus geben.
Papst Franziskus identifiziert eine Haltung, die zu den Missständen maßgeblich beigetragen habe: “Der Klerikalismus, sei er nun von Priestern selbst oder von den Laien gefördert, erzeugt eine Spaltung im Leib der Kirche, die dazu anstiftet und beiträgt, viele der Übel, die wir heute beklagen, weiterlaufen zu lassen.” Was meint der Papst mit Klerikalismus? Er nennt ein anomales, also psychisch gestörtes Verständnis von Autorität. Es sei unterstützt worden, “jedes Mal, wenn wir versucht haben, das Volk Gottes auszustechen, zum Schweigen zu bringen, zu übergehen oder auf kleine Eliten zu reduzieren”. Eine wirkliche Umkehr der Kirche ist für Papst Franziskus “ohne die aktive Teilnahme aller Glieder des Volks Gottes” nicht denkbar.
“Klerikalismus” steht für den Papst diametral gegen “aktive Teilnahme des Volkes Gottes”. Es geht um sich völlig widersprechende Kirchenbilder. Das Problem “Klerikalismus” beschäftigt die Kirche schon lange, und sicherlich nicht nur im 20./21. Jahrhundert. Für den Kirchenrechtler Heinrich Flatten bedeutet Klerikalismus, wie er 1961 in einem Lexikonartikel (LThK² 6, 336) schrieb, u.a. “die unberechtigte Bevormundung der Laien durch den Klerus innerhalb der Kirche”. (Ob Bevormundung überhaupt gerechtfertigt sein kann? Wohl kaum!) Das war am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils und wenige Jahre vor jenem denkwürdigen Essener Katholikentag, auf dem “Laien” mehr Mitspracherechte in der Kirche verlangten. Man wollte sich von eben dieser “unberechtigten Bevormundung” befreien.
Mehr als 30 Jahre nach Flatten hat der Pastoraltheologe Erich Garhammer, ebenfalls in einem Lexikonartikel (LThK³ 6, 131), festgehalten, das Konzil habe “mit der einseitigen Betonung des Klerus gegenüber den Laien” gebrochen. Irgendetwas muss dabei aber nach dem Konzil schiefgelaufen sein, denn Garhammer schreibt auch, wo der Klerikalismus noch fortlebe, werde er als überholt und pathologisch verstanden. Folgt man Papst Franziskus, so ist Klerikalismus ein immer noch verbreitetes Phänomen mit verheerenden Folgen.
Der Papst schreibt von “aktiver Teilnahme” und bringt damit das Kirchenbild des Konzils ins Spiel. “Aktive Teilnahme” ist ein Begriff, der insbesondere für die Liturgie eine Rolle spielt. Das Bild des Gottesdienstes, das dem Konzil vor Augen steht, ist die eine feiernde Gemeinde der Getauften, die ‘voll’, ‘bewusst’, ‘tätig’ die Liturgie feiert. Das Wesen der Liturgie verlangt diese tätige Teilnahme an der Liturgie des Volkes Gottes. Mit starken Bildern aus 1 Petr 2,9 wird das Volk als auserwählt, königlich, priesterlich beschrieben – das ganze Volk (SC 14). Einem Klerikalismus in der Liturgie und damit auch in der Kirche wird programmatisch der Boden entzogen. Gerade die Liturgie muss ein von Klerikalismus freier Raum sein, wenn sie nicht theologisch und ästhetisch pervertiert werden soll. Aber ist sie das heute wirklich?
Das Konzil wünschte eine Liturgie, die alle Christen tragen. Die nachkonziliare Liturgiereform hat es sich zum Anliegen gemacht, Liturgie so zu erneuern und zu verändern, dass die verschiedenen Rollen der Getauften und ihr Recht zur Feier der Liturgie besser und ganz gelebt werden. Das drücken in theologisch klaren Ansagen viele kirchliche Dokumente der Konzilszeit aus. Es ist durch die Theologie der Zeit entsprechend ausgearbeitet worden. Aufbruch in der Kirche wurde für viele Katholikinnen und Katholiken gerade in der Liturgie erlebbar. Es ist mehr als nur eine Vermutung, dass die Möglichkeit, den Gottesdienst aktiv zu feiern, Dienste bis hin zur Beauftragung mit der Gottesdienstleitung einschließlich Gestaltung, Verkündigung, Predigt und Gottesdienstleitung Identitäten geprägt hat. Wie man beispielsweise in der Messfeier Sonntag für Sonntag Kirche erlebt, in welcher Weise sich hier das Volk versammelt, wie die Ordinierten und die liturgischen Dienste agieren, welche Rollen in der Kirche – nicht zuletzt mit Blick auf die Geschlechter – wie ausgefüllt werden, ist für die Frage nach Klerikalismus nicht zweitrangig. Die hitzigen Debatten, die darum nach dem Konzil geführt worden sind, können das belegen. Meistens ging es um die Rolle der “Laien”, und dann wirklich um “Aktivitäten”, z.B. die von Ministrantinnen, nicht erst aus heutiger Perspektive eine quälende Debatte, überhaupt um Ort, Sichtbarkeit und Rolle von Frauen in der Liturgie, die Frage der Gottesdienstleitung durch Männer und Frauen, um Kommunionspendung, Begräbnisleitung, Segnungen durch Laien und die dabei vollzogenen Gesten und manches mehr.
Man kann damit sicherlich nicht die aktuelle Kirchenkrise erklären, aber es ist in einer so sehr auf Symbolhandeln und Liturgie bauenden Kirche ein wichtiger Teil des Problems, wenn in der Liturgie Unwuchten durch Klerikalismus entstehen. Der Liturgie ist ein Selbstverständnis von Kirche ablesbar. Hier wird Feier für Feier ein Bild von Kirche entworfen und wird Kirche rituell bewusst oder unbewusst besonders nachdrücklich erlebt. Gibt es heute nicht immer noch durch Klerikalismus verstellte Formen des Gottesdienstes? Eine solche Unkultur in der Liturgie heißt, durch Wort und Gestus das “Volk Gottes auszustechen”. Eine Liturgie, die im Sinne des Konzils durch Teilnahme und Gemeinschaft geprägt ist, will das Volk Gottes gerade nicht “zum Schweigen […] bringen”. Was man dabei nicht vergessen darf: Rituale besitzen eine ganz eigene, manchmal verborgen-subversive Wirkmacht!
Vieles hängt an der Ars celebrandi, aber auch an rituellen Vorgaben, die ungleichzeitige Kirchenbilder in einer Feier zusammenbinden. Bleiben wir beim Priester, wobei auch Diakone und Nichtordinierte klerikalistisch agieren können: Wie er auftritt, ob er rituell “bevormundet” oder leitet, wie “Laien” – auch kein unproblematischer Begriff – sich selbst einbringen können, zeigt, wie hier Kirche verstanden und gelebt wird. Ist das eine Liturgie und Kirche, in der wirklich tätige Teilnahme gelebt wird, oder drückt sich in der Liturgie eine Ständeordnung aus, die dem Gottesdienst nicht angemessen ist und der Kirche zum Problem wird? Wenn den Gläubigen in der Liturgie nur das “Amen” bleibt, wird es im übrigen kirchlichen Leben vermutlich auch nicht mehr sein.
Auch Sprache kann dazu beitragen, das “Volk Gottes auszustechen”. Sie kann bevormunden. Sie kann klerikalistisch wirken durch Künstlichkeit und Unverständlichkeit. Sie kann dort zur Spaltung beitragen, wo Bildworte und die symbolische Darstellung eines Gegenübers von “Hirten” und “den Schafen” überdehnt und nicht in ihrer problematischen Rollenzuweisung wahrgenommen werden. Auch über Sprecherrollen und insbesondere die Frage, wer predigen darf, wird diskutieren müssen, wer Klerikalismus kritisiert.
Gottesdiensträume spielen eine Rolle. Vielerorts hat man sich in den Jahren nach dem Konzil bemüht, Versammlung und Gemeinschaft um Christus im Gottesdienst erfahrbar zu machen. Doch immer wieder trifft man auf liturgische Räume, die hart ein Gegenüber und einen Unterschied von Priester und Gemeinde inszenieren. Das muss nicht, aber es kann eben Phänomene des Klerikalismus fördern. Thronähnliche Priestersitze, die Überhöhung des Altarraumes, die den Priester herausstellt, die räumliche Distanz zur Gemeinde können ein Übriges tun. Konzelebrationen können zur klerikalen Selbstinszenierung degenerieren. Liturgische Gewänder können in ihrer Gestaltung und Verwendung unheilige Hierarchien und Standesdenken sichtbar machen.
Es gibt Ausprägungen von Liturgie, die einen problematischen Habitus einüben und zu verinnerlichen helfen – sowohl bei denen, die der Liturgie vorstehen, als auch beim “Volk”. Wenn an höchster Stelle über Klerikalismus in der Kirche geklagt wird, kann der Gottesdienst nicht außen vor bleiben. Er ist von Vorgängen, wie sie jetzt die Kirche erschüttern, immer mitbetroffen. Wenn es heute darum geht, dem Klerikalismus um Gottes und der Menschen willen den Garaus zu machen, muss auch der Gottesdienst der Kirche kritisch in den Blick genommen werden, wenn man nicht nur kosmetisch an der Oberfläche arbeiten, sondern in die Tiefen gehen müssen. Dann ist die Liturgie mit ihrer ganz eigenen Ästhetik kritisch zu berücksichtigen.