Aufgrund seiner Forschungen zum "Authentizitätsüberschuss" kommentiert unser Kirchenhistoriker Jörg Seiler die Begründung der Ablehnung des Rücktrittsgesuchs von Erzbischof Heße. Er verweist auf gewaltaffine Zusammmenhänge spiritueller Entscheidungsbegründungen.
Sexueller, geistlicher, emotionaler Missbrauch darf niemals spiritualisiert werden. Das habe ich in den letzten Jahren von Neuem verstehen gelernt. Biographisch wurde ich bereits sensibilisiert. All jene, die dem Papst ihren Rücktritt angeboten haben, vollzogen mit dem Gestus des Anbietens einen machtrelevanten Akt (seltsam genug, dass es eines Oberhirten bedarf, um das Rücktrittsgesuch anzunehmen …). Doch: Der Papst reagiert spirituell. Das ist ein typisches Muster bei ihm, vielleicht ein jesuitisches Problem? Meine Gedanken sind Diskussionsanregungen und dokumentieren ein Nachdenken, das mich umtreibt seit ich die Mitteilung des Heiligen Stuhls zum nicht angenommenen Rücktrittsangebot des Hamburger Erzbischofs und dessen Stellungnahme las.
Im Jahr 2017 habe ich die Problematik der Vermischung individueller und institutioneller Ebenen in der Ausübung des Petrusdienstes an den Flugzeuginterviews der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus wissenschaftlich untersucht und folgende Deutung vorgeschlagen: Beide finden keinen Mittelweg zwischen Person und Amt, der jedoch für das Papstamt (und für jedes bischöfliche Selbstwissen - dies lernte ich aus den noch immer lesenswerten Hirtenbriefen von Bischof Wilhelm Kempf) wichtig wäre. Beide tappen in die Fallen eines je eigenen „Authentizitätsüberschusses“. Benedikt ist gefangen in der Enge seines Amtsverständnisses. Sie ist seither noch bedrückender geworden, da er es nicht schafft, das angekündigte zurückgezogene Leben durchzuhalten. Und Franziskus steht sich mit seiner charismatischen Art und durch die auf ihn projizierten Erwartungen selbst im Wege. Sein Pontifikat leidet unter dem Authentizitätsüberschuss seiner Person. In beiden Fällen ist es tragisch.
Angesichts der Opfer aller Formen von Missbrauch müsste der Papst ein vollmächtiges Wort sprechen und die angebotenen Rücktritte annehmen. Wenn der Papst nun nicht seine Vollmacht annimmt, sondern spiritualisierend die „Hirtensorge“ thematisiert, übt er diese eine Facette seines Amtes schlecht aus. Ähnlich fassungslos musste man dieser Tage hören, dass ein Bischof im Kontext des Umgangs mit Missbrauch ausgeübt habenden Priestern meinte, er sei eben auch „Bruder unter Brüdern“. All diese Metaphern (Hirte/Herde; Bruder) sind in diesen Fällen fehl am Platz. Sie verharmlosen Macht und verschieben Verantwortung.
Spiritualität kann auch machtvoll sein. Doch dann erweist sie ihre Macht in der Ohnmacht – das wissen wir doch seit Paulus, sofern uns das Kreuz selbst nicht mehr berühren sollte. Tag für Tag für Tag für Tag wird hierüber gepredigt und reflektiert. Ohnmacht wäre jene Haltung, all den Opfern, den Missbrauchten und Schmerzgezeichneten ein wenig Raum zum Leben offenzuhalten. Also konkret: Radikal lernen, auf eigenmächtiges Verstehen, auf Deutungshoheit und Selbst-Herrschaft/-Herrlichkeit zu verzichten und aktiv sich selbst und sein / ihr Agieren von der / dem Anderen her zu verstehen. Also konkret: eigene Entscheidungshoheit zugunsten der zu Opfern Gemachten abgeben. Wenn ein Erzbischof um Rücktritt bittet bzw. diesen durch die Überweisung an den Heiligen Stuhl nahelegt, so ist dies ein starkes Zeichen der Selbstentmächtigung im nachholenden Respekt vor den Opfern, denen wenigstens durch einen Rücktritt ein Hauch von Würde zugerechnet wird oder zuzurechnen gewollt wird. Der damit sich eröffnende „Raum zum Leben“ ist und bleibt klein genug; die Geste und Konsequenz sind und bleiben viel zu gering. Es geht wenigstens in diesen Bereichen des sensiblen Umgangs von Verantwortungsträger*innen mit den hässlichen Dimensionen des Übergriffgewordenseins um einen Verzicht auf „Im-Zugriff-auf“. Dies sollte doch umstandslos in den klerikalen Amtsreflexionen einsichtig sein. Ein nicht angenommenes Rücktrittsangebot beschädigt nach meiner Auffassung das Bischofsamt. Wer also Bischof bleiben muss / bleibt, möge doch einfach aufhören, Bischof zu sein – um der Opfer, um der Gläubigen und wohl auch um des Amtes willen. Und bitte: Man komme mir nun nicht mit Kirchenrecht und Amtstheologie – darum kann es doch seit dem ersten übergriffigen Hin-Langen eines Klerikers nicht mehr gehen.
Ist sie nicht ohnmächtig oder demütig, so ist Spiritualität gewaltaffin. In der Mitteilung des Heiligen Stuhls im Falle des Hamburger Erzbischofs wird gesagt, der Papst nehme den Rücktritt nicht an, sondern er habe entschieden, den Erzbischof „zu bitten“, seine Sendung fortzuführen. Nochmal: Vielleicht dürfte ein Erzbischof auch einmal den Mut haben, dem Papst seine Zweifel an der Angemessenheit der päpstlichen Bitte zu übermitteln? Es wäre nicht zum Schaden des wichtigen Bischofsamtes – ortskirchlich wie gesamtkirchlich ausgeübt.
Die Sendung sollte laut vatikanischer Erklärung sein: „Geist der Versöhnung“, „Dienst an Gott“ und „Dienst an den (s)einer Hirtensorge anvertrauten Gläubigen“. Kirchenamtliches Handeln ist dann glaubwürdig, wenn diese drei Sendungsaufträge aus der Perspektive von Opfern geistlichen und körperlichen Missbrauchs angenommen und übernommen würden. Nicht (nur) aus Respekt vor dem „Willen des Papstes“. Kirche braucht diesen grundlegenden Perspektivwechsel. Jede autoritative Entscheidung und jedes spirituelle Angebot bzw. jede spirituelle Selbstbindung besitzt in hiesigem Kontext dann erst volle Dignität, wenn sie aus der Perspektive der Geschädigten getätigt ist und von diesen mitgetragen werden kann (oder zumindest in einem Maße plausibel gemacht werden kann, das nicht ein weiteres Mal Wunden schlägt oder Narben aufreißt).
Vielleicht bedarf es noch viel mehr Rücktrittsangebote, um diese Alterität zu gewalttätigem und gewaltförmigem Handeln auch für den Oberhirten sichtbar und verständlich zu machen. „Liebe Bischöfe, tretet zurück! Denn zu viele eurer Schafe sind hinlänglich verletzt, und spezielle Arten der Hirtensorge verletzen weiter. Hin-Länglich – Leider!“, so raunt in mir eine ohnmächtige Bitte. Vielleicht bedarf es bei weiteren Ablehnungen des demütigen Zugehens auf den Papst und des demütigen Akzeptierens der Übernahme einer Perspektive, die vom Kreuz her doch naheliegt: jener der Opfer. „Liebe Bischöfe, dann hört doch einfach auf, Bischöfe zu sein! Denn zu viele eurer Schafe sind hinlänglich verletzt, und spezielle Arten der Hirtensorge verletzen weiter. Hin-Länglich – Leider!“, so raunt in mir eine ohnmächtige Bitte.
Prof. Dr. Jörg Seiler ist Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Erfurt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte des Deutschen Ordens im Reich, Kirchengeschichte in kulturwissenschaftlicher Perspektive und Historische Friedensforschung / Kirche im Krieg.