Christ*innen auf der ganzen Welt begehen die 40 Tage vor dem Osterfest als Fastenzeit. Der Verzicht soll Gläubigen dabei helfen, sich wieder auf das Wesentliche im Leben zu besinnen. Doch infolge der Coronakrise erlebt derzeit die gesamte Welt eine “auferlegte Fastenzeit”, befindet die Erfurter Pastoraltheologin Prof. Dr. Maria Widl. Fasten von sozialen Beziehungen, von gesellschaftlichen Vergnügungen, vom Konsum und von als selbstverständlich begriffenen Freiheiten. In der Erfahrung eben dieser Entbehrungen sieht die Theologin die Chance darauf, dass Diskurse über “das Wesentliche” in unserer modernen Gesellschaft – über Klima, Migration, Demokratie und Digitalisierung – wieder an Bedeutung gewinnen könnten.
Die Coronakrise hat unser aller Leben schlagartig und grundlegend verändert. Sie verlangt von uns den Verzicht auf vieles, was uns lieb, teuer und selbstverständlich war: sich frei bewegen und ungezwungen begegnen, einkaufen was man und reisen wohin man will, vor allem aber: So leben, wie man es sich eingerichtet hat. Plötzlich stehen wir zugleich vor neuen Herausforderungen: den ganzen Tag die Kinder um sich haben und sie zum Lernen anregen und anleiten, daneben Home-Office und Haushalt erledigen; auf begrenztem Raum zusammen sein, ohne sich aus dem Weg gehen zu können; die Sorge um den Arbeitsplatz oder den Betrieb, die gestern noch sicher schienen; die Einsamkeit, wenn man Verwandte, Freunde, die Kinder und Enkel nicht treffen kann; der Verlust an Geselligkeit und Vereinsleben, an Gemeinschaft und Miteinander; und nicht zuletzt: der Verzicht auf kirchengemeindliches Leben und auf die Eucharistie.
Das alles ereignet sich mitten in der größten jährlichen Fastenzeit der Christen. In unserer Kultur spielt diese schon länger eine marginale Rolle. Genauso, wie der Advent zur konsumschwangeren Weihnachtszeit, so ist die Fastenzeit durch den Handel zur genussreichen Osterzeit umfunktioniert. Im öffentlichen Raum erinnern ein paar kleine Plakate mit einer Werbeaktion des Verkehrsverbunds für ein Schnupper-Abo unter dem Titel „Auto-Fasten“, initiiert von der evangelischen Kirche. Sonst ist Fasten im religiösen Sinn Privatsache, die mehr oder weniger ernst genommen wird. Die guten Fastenvorsätze erleiden häufig ein ähnliches Schicksal wie die Vorsätze zum Jahreswechsel: Die alten Gewohnheiten erweisen sich meist als stärker, sobald der Alltag das Seine fordert; außer vielleicht, man folgt dem gesellschaftlichen Trend zur Selbstoptimierung.
Und nun erleben wir erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg eine global und kulturell auferlegte Fastenzeit. Jede*r muss sich ihr stellen, ob er/sie religiös ist oder nicht. Vielleicht lohnt es daher, sich näher damit zu befassen, was das bedeutet. Fasten ist ein aufgezwungener Verzicht, den man freiwillig und sinnstiftend auf sich nimmt. Als Lebensmittel noch nicht technisch perfekt gelagert und aus aller Welt importiert werden konnten, war der Spätwinter mehr oder weniger eine Hungerperiode. Die Vorräte des letzten Jahres gingen zur Neige, man musste sehen, wie man über die Runden kam. Und war die Ernte des Vorjahres schlecht oder die Vorräte verdorben, dann wurde es richtig eng. Welch ein Segen zu wissen, dass es gut und richtig ist für unsere Erlösung und unser Seelenheil, dass wir in diesen Wochen einfach und sparsam essen. Die Sonntage dazwischen dürfen gefeiert werden und halten die Moral hoch: Wir werden durchhalten und ein strahlendes Osterfest feiern, wenn die Natur wiedererwacht ist, die Sonne wieder wärmt, und die ersten frischen Kräuter dem Wintergemüse einen ganz neuen Schwung verleihen.
Zum religiösen Fasten gehören nicht nur die Einfachheit und der Verzicht. Seine eigentliche Bedeutung liegt darin, sich wieder auf das Wesentliche im Leben zu besinnen. In unserer Corona-Fastenzeit gelingt das wie von selbst. Menschen spüren, wie wichtig ihnen die Gemeinschaft mit anderen Menschen ist, die Begegnung, die Berührung. Erstaunlich: der alltägliche gesellschaftliche Umgangston wird freundlicher. Menschen erfahren, wie wichtig ihnen die Freiheit ist, und reagieren besonders sensibel auf diktatorische und überwachungstechnische Ansätze. Menschen realisieren, dass diejenigen, die im Gesundheitswesen, der Alten- und Kinderbetreuung und im Handel arbeiten, Unverzichtbares leisten und dafür bislang wenig belohnt und bedankt wurden. Menschen üben, bei aller Enge gut miteinander auszukommen und einander zugleich Freiräume zu lassen. Menschen erkennen, was Politik, Journalismus und Kulturschaffende für uns leisten, und entwickeln Vertrauen und Dankbarkeit, statt einfach der Kritik oder dem Populismus freien Lauf zu lassen – um einmal das Positive zu fokussieren.
– Maria Widl
Das Wesentliche des Lebens im christlichen Sinn hat darüber hinaus eschatologische Dimensionen: Wie muss ich mein Leben, wie müssen wir unser Leben gestalten, damit es aufs Ganze gesehen gelingt? Was läuft falsch? Sind wir gewillt, uns zu ändern? Damit kommen die Themen Sünde und Umkehr ins Spiel. Beides scheint nicht besonders modern. Unsere Kultur glaubt an das Gute in jedem Menschen, und dass die Täter die eigentlichen Opfer sind: ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit, ihrer Lebensumstände, ihrer Persönlichkeitsstruktur. Und jede Veränderung ist in den Kategorien der Entwicklung als Fortschritt zu begreifen, der nicht durch Retrospektive oder Einkehr, durch Demut und Gehorsam vor Gott, sondern durch Innovation und Zuwachs bestimmt ist.
Die Corona-Krise hat in den Hintergrund gedrängt, dass unsere (Welt-)Kultur vier weitaus größere Krisen zu bewältigen hat, die man gut in den Kategorien Sünde und Umkehr betrachten kann:
Kann die Corona-Fastenzeit uns in diesen Überlebenskrisen voranbringen? In den beiden letzten Punkten scheinen sich interessante Ansätze abzuzeichnen; der erste hängt primär an der Wirtschaft und der Frage, ob sie nach dem Shut Down durch den Zuschnitt der Wiederaufbau-Förderungen sich auf neuen Wegen wird entwickeln können / müssen. Die Migrationsfrage ist gegenwärtig zurückgestellt; sie wird Fahrt aufnehmen, sobald sich das Coronavirus in den Flüchtlingslagern und Elendsquartieren in aller Welt breitmacht.
Und wo bleibt die Kirche? Die Caritas geht in gewohnt sensibler und professioneller Weise ihren Weg. Die Seelsorge ist innovativ und initiativ, um die Menschen auch ohne Gemeindeleben zu erreichen. Von außen betrachtet scheinen sich die Kirchen vor allem um den Fortbestand des eigenen „Vereinslebens“ zu sorgen. Ob die Corona-Fastenzeit uns helfen kann, die Menschheitskrisen zum Zentralanliegen unserer Sendung zu machen?