Theologinnen und Theologen verschiedener christlicher Konfessionen, alle aus dem englischen Sprachraum, haben im vergangenen Jahr den Sammelband „Lively Oracles of God“ herausgegeben. Die einzelnen Texte sind durch die Traditionen anderer Länder, Kirchen und Theologien geprägt. In den kommenden Wochen werden wir hier einzelne Thesen aus diesen Aufsätzen in englischer und deutscher Sprache veröffentlichen. Nach einem Essay der anglikanischen Theologin Bridget Nichols folgt ein Beitrag es US-amerikanischen Jesuiten John Baldovin mit dem Titel „Biblical Literacy and Illiteracy“.
Es wird erzählt, dass jemand in ein Juweliergeschäft im Vereinigten Königreich geht und nach einem Kreuz fragt. „Natürlich“, sagt der Verkäufer, „möchten Sie ein Einfaches oder eines mit einer kleinen Puppe darauf?“ Der Verkäufer stammt vielleicht nicht aus einem christlichen Umfeld, aber auf jeden Fall ist die (vielleicht erfundene) Geschichte sinnbildlich für den religiösen Analphabetismus vieler Menschen in unseren heutigen Gesellschaften. Es liegt auf der Hand, dass dieser Analphabetismus eine große Herausforderung darstellt, nicht nur für Religion im Allgemeinen, sondern insbesondere für die Teilnahme an der Liturgie, die zumindest eine gewisse Vertrautheit mit der christlichen Bibel, mit Altem und Neuem Testament, voraussetzt.
In einem Artikel aus dem Jahr 2012 mit dem Titel „Is the Liturgy Hitting its Target?“ [1] habe ich die These vertreten, dass einer der Gründe, warum die liturgischen Reformen des letzten halben Jahrhunderts nicht erfolgreich waren (besonders, aber vielleicht nicht nur in der römisch-katholischen Kirche), mit der Wertschätzung der Bibel im Zusammenhang steht. Schließlich war es eines der Ziele der Konstitution über die heilige Liturgie (Sacrosanctum Concilium) des Zweiten Vatikanischen Konzils, den Gläubigen eine „reichere Kost“ an biblischen Lesungen zu bieten. Inwieweit die aktuellen Lektionare, die in hohem Maße der katholischen Reform zu verdanken sind, erfolgreich waren, ist eine gute Frage. Ich würde sagen, dass Versuche wie die lobenswerten Bemühungen um eine reichere Kost scheitern werden, wenn die Bibel in einem kulturellen Vakuum verkündet wird.
Ich möchte nicht zu nostalgisch über die Vergangenheit sprechen, aber die „katholische Welt“, in der ich aufgewachsen bin, war voller religiöser Symbolik. Es war sicher nicht ungewöhnlich für unsere Mütter, „Küchenmadonnen“ an der Wand hängen zu haben, und in jedem Schlafzimmer gab es ein Kruzifix. Diese katholische Symbolik half uns, der biblischen Welt einen Sinn abzugewinnen, die wir vielleicht nicht auf eine kultivierte oder gebildete Art und Weise zu schätzen wussten, die aber auf jeden Fall einen Sinn für unser Leben darstellte. Mit Ausnahme einiger weniger sehr traditionsverbundener Gläubigen (aller christlichen Richtungen) ist diese Welt verschwunden.
Heute können wir im Großen und Ganzen nicht erwarten, dass die Menschen irgendeine Kenntnis der Bibel in ihre liturgische Praxis einbringen.
Diese Schwierigkeit wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass die Liturgie selbst – und insbesondere die Art und Weise, wie die meisten großen Kirchen das Lektionar und den liturgischen Lesezyklus gestalten – zumindest eine gewisse Vertrautheit mit der christlichen Botschaft voraussetzt. Der geschätzte Liturgiewissenschaftler Robert Taft hat häufig behauptet, dass die Anamnese und nicht das Kerygma für die Art und Weise, wie wir die Liturgie feiern, wesentlich ist:
„Das Kerygma ist die Verkündigung der Frohen Botschaft, um die Reaktion des Glaubens auf die neue, noch nicht gehörte Botschaft zu wecken. Aber das Kerygma wird aufgeschrieben und in der liturgischen Versammlung immer wieder verkündet, um uns an unsere Verpflichtung gegenüber der bereits gehörten und im Glauben angenommenen Frohen Botschaft zu erinnern, auch wenn ‚wir sie kennen und in der Wahrheit gefestigt‘ sind (2 Petr 1,12), es ist Gedächtnis, Anamnese, und darum geht es in der Liturgie.“ [2]
Taft hat Recht, wenn er behauptet, dass die traditionelle Liturgie eher auf der Anamnese als auf der Erstverkündigung des Evangeliums (Kerygma) beruht. Das muss jedoch als eine eher puristische oder idealisierte Position betrachtet werden, denn die Frage ist heute, ob ein solches Verständnis und eine solche Praxis der Liturgie wirklich effektiv sind. Ich fürchte, dass in unserer vorherrschenden säkularisierten Kultur die Praxis der Liturgie mindestens so kerygmatisch wie anamnetisch sein muss.
Paul Bradshaw legt überzeugend dar, dass die Bibel in der Liturgie auf vielfältige Weise Verwendung gefunden hat. Sein Ansatz ist flexibler als der von Taft, denn er erkennt an, dass die Grenzen zwischen dem didaktischen (kerygmatischen) und anamnetischen Gebrauch der Bibel in der Liturgie fließend sind. Es lohnt sich, ihn hier in aller Ausführlichkeit zu zitieren:
„Die Grenzen zwischen den ersten beiden Arten des Dienstes am Wort sind zwangsläufig etwas fließend. Ein anamnetischer Dienst am Wort wird für diejenigen, die mit der Tradition nicht vertraut sind, eine didaktische Funktion ausüben, und Lesungen, die zunächst als didaktisch gedacht waren, können im Laufe der Zeit anamnetisch werden, wenn sie den Zuhörern vertrauter werden und mit bestimmten Anlässen in Verbindung gebracht werden. Man kann sagen, dass dies zum großen Teil das ist, was mit der sonntäglichen eucharistischen Lektionarordnung in Ost und West geschehen ist.“ [3]
Nehmen wir ein klassisches Beispiel: die Geburtsgeschichte aus dem zweiten Kapitel des Lukasevangeliums an Weihnachten. In Übereinstimmung mit der mittelalterlichen römischen Liturgie sieht das römisch-katholische Messbuch und sehen auch einige andere Kirchen für Weihnachten drei Messen und drei Lesungen vor – in der Nacht, in der Morgendämmerung und am Tag. Die Evangelien lauten wie folgt: Lukas 2,1–14 (Nacht), Lukas 2,15–20 (Morgendämmerung) und Johannes 1,1–18 (Tag). Ich behaupte, dass es in der großen Mehrheit der Gemeinden töricht wäre, etwas Anderes als die traditionelle „Weihnachtsgeschichte“ als Evangeliumslesung für den Tag zu verwenden.
Wie theologisch reichhaltig und angemessen der Prolog des Johannesevangeliums auch sein mag, gibt es doch Anlässe, bei denen die Erwartung einer bestimmten Lesung aufgrund der Vertrautheit der Menschen Vorrang haben sollte, und Weihnachten ist eindeutig einer davon. Die kerygmatische und die anamnetische Funktion der Schriftlesung in der Kirche kommen in diesem Fall eindeutig zusammen.
Wie ich zu Beginn dieses Beitrags feststellte, leiden die meisten heutigen Gesellschaften unter einem massiven biblischen Analphabetismus. Dieses biblische Analphabetentum ist Teil eines weiter verbreiteten kulturellen Analphabetentums, wie zahlreiche zeitgenössische Kommentatoren beklagt haben. [4] Ein anekdotisches Beispiel: Ich erinnere mich an eine Bemerkung in der Evaluation eines Graduiertenkurses vor über zwanzig Jahren, wo ich den Ausdruck „zwischen Skylla und Charybdis“ in einer Vorlesung verwendet hatte, als ob ihn jeder verstehen würde. Das war ein Weckruf. Das gemeinsame kulturelle Erbe, das ich aufgrund meiner eigenen klassischen Bildung einfach vorausgesetzt hatte, war für meine Studenten nicht mehr relevant. Ich hätte eine Fremdsprache sprechen können. Ich will hier weder behaupten, dass jeder Homer lesen sollte, noch plädiere ich für eine hauptsächlich eurozentrische Bildung. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass es nicht mehr möglich ist, von einem grundlegenden und gemeinsamen kulturellen Hintergrund auszugehen, weder in der Bildung noch a fortiori in der Kirche.
Stephen Prothero hat es mit Blick auf die Vereinigten Staaten sehr treffend formuliert: „Wir leben in einem Land biblisch Ungebildeter“. [5] Timothy Larsen erzählt die Geschichte britischer Universitätsstudenten, die nach einer Besichtigung der Uffizien in Florenz „zu dem Schluss kamen, dass italienische Eltern Töchter nicht zu schätzen wussten, weil sie zwar gerne Mütter darstellten, das Baby aber immer ein Junge war.“ [6] Natürlich sprachen sie über Jesus! Ich könnte noch viele weitere Beispiele anführen, aber ich denke, es ist ziemlich offensichtlich, dass die meisten Menschen in den hochentwickelten Industriegesellschaften biblische Analphabeten sind und dass daher eine große Menge an Katechese/Verkündigung stattfinden muss, damit die Bibel gehört werden kann.
Die traditionellen Mittel scheinen dafür nicht auszureichen. Moderne soziale Medien und Marketingtechniken müssen für diejenigen, die evangelisieren wollen, alltäglich werden. Die Evangelikalen wissen das natürlich und haben die Verkündigung des Evangeliums in der Öffentlichkeit durch Radio und Fernsehen schon lange praktiziert. Glücklicherweise scheinen andere das zu begreifen. Um nur die amerikanischen Katholiken zu nennen: Bekannte Persönlichkeiten wie Bischof Robert Barron und Pater James Martin SJ haben in dieser Hinsicht bedeutenden Einfluss gehabt. Heute können wir neben den traditionellen Massenmedien auch das Internet nennen.
Wir alle, die wir uns der Förderung einer guten Liturgie – und in der Tat der Verbreitung des christlichen Glaubens – verschrieben haben, sollten uns ernsthaft darum bemühen, einer Kultur zu helfen, die mit dem Verständnis der biblischen Motive weniger vertraut sein wird, ebenso wie wir uns dafür einsetzen sollten, die biblischen Schriften in den von uns gefeierten Liturgien überzeugender zu machen.
[1] John Baldovin, Is the Liturgy Hitting its Target?, in: The Jurist 72. 2012, 453–465.
[2] Robert Taft, What is a Christian Feast? A Reflection, in: Worship 83. 2009, 2–18, hier 13.
[3] Paul Bradshaw, The Use of the Bible in Liturgy: Some Historical Perspectives, in: Studia Liturgica 22. 1992, 32–38, hier 41.
[4] Ich bin mir nicht sicher, ob ich zu den Autoren gezählt werden möchte, die einfach nur das Ende der klassischen westlichen Kultur beklagen, aber sie beschreiben den Verlust eines bestimmten, allgemein anerkannten Wissensbestands. Einige Beispiele finden sich bei Richard Arum und Josipa Roksa, Academically Adrift: Limited Learning on College campuses, Chicago 2011, und Allan Bloom, The Closing of the American Mind. How Higher Education has Failed Democracy and Impoverished the Souls of Today's Students, New York 1987. Vgl. auch Stephen Prothero, Religious Literacy: What Every American Needs to Know - and Doesn't, San Francisco 2007.
[5] Stephen Prothero, We Live in a Land of Biblical Idiots, in: Los Angeles Times, March 24, 2007, zitiert in: Timothy Larsen, Literacy and Biblical Knowledge: The Victorian Age and Our Own, in: Journal of the Evangelical Theological Society 52. 2009, 519–535, hier 529.
[6] Larsen, Alphabetisierung, 528.
John F. Baldovin SJ ist Professor für historische und liturgische Theologie an der Boston College School of Theology and Ministry. Er erhielt seinen BA am College of the Holy Cross, einen MDiv von der Weston School of Theology, einen MA, MPhil und PhD von der Yale University. Er forschte und lehrte an der Fordham University, der Jesuit School of Theology in Berkeley und der Weston Jesuit School of Theology. Er war Gastprofessor an der University of Notre Dame und am St. John Vianney National Seminary in Pretoria, Südafrika. Er ist ehemaliger Präsident der Nordamerikanischen Akademie für Liturgie und der internationalen ökumenischen Societas Liturgica. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und war Mitglied in vielen theologischen Ausschüssen, z. B. in der ICEL. Zahlreiche Publikationen, u.a.: City, church, and renewal. Washington DC: Pastoral Press 1991; Reforming the liturgy. A response to the critics. Collegeville MN: Liturgical Press 2008; Catholic Sacraments. Rich Source of Blessings (ed. with David Turnbloom), Mahwah, NJ: Paulist Press 2015.