Theologinnen und Theologen verschiedener christlicher Konfessionen, alle aus dem englischen Sprachraum, haben im vergangenen Jahr den Sammelband „Lively Oracles of God“ herausgegeben. Die einzelnen Texte sind durch die Traditionen anderer Länder, Kirchen und Theologien geprägt. In den kommenden Wochen werden wir hier einzelne Thesen aus diesen Aufsätzen in englischer und deutscher Sprache veröffentlichen. Den Auftakt macht ein Aufsatz der anglikanischen Theologin Bridget Nichols mit dem Titel „Bibel, Liturgie and Doxologie“.
Die Idee für ein Buch über Bibel und Liturgie hatte das Kuratorium des Alcuin-Clubs (einer im späten 19. Jahrhundert gegründeten Gesellschaft zur Förderung der Liturgie) schon einige Zeit vor dem Erscheinen von Lively Oracles of God im Jahr 2022 im Hinterkopf. Sobald sie sich bereit erklärt hatten, die Aufgabe in Angriff zu nehmen, wurde den Herausgebern klar, dass es sich um eine komplexe Aufgabe handeln würde und dass Lektionare, Predigten und Gebete angesichts aktueller Herausforderungen diskutiert werden müssten: Klimakrise, Geschlecht und Identität, Inklusion und Einbeziehung von Kindern.
Eine erste Anregung fanden wir in einem Artikel von Paul Bradshaw aus dem Jahr 1992. Nach Bradshaw hat die Bibel in der Liturgie vier Hauptfunktionen: Anamnese, Verkündigung (Kerygma), pastorale Begleitung (Paraklesis) und Doxologie. Die vier Funktionen sind im liturgischen Handeln dynamisch miteinander verknüpft, und es ist wichtig, dies zu bedenken, wenn man sie getrennt betrachtet. Dennoch kann eine vorübergehende Trennung Gelegenheit für eine sorgfältige Prüfung bieten, die zur Integration zurückführt, was das Ziel dieser kurzen Diskussion über die Doxologie sein wird.
Lob und Dank sind integraler Bestandteil der liturgischen Riten, und der liturgische Lobpreis Gottes nimmt eine Reihe von Formen an: Psalmen, Gesänge, Hymnen, Lieder, Akklamationen, Responsorien und Antiphonen. Alle diese Formen nehmen eine besondere Stellung in der Struktur der Stundenliturgie und der Eucharistie ein.
Das macht uns auf eine theologisch-anthropologische Realität aufmerksam. Die Psalmen erinnern uns daran, dass wir leben und atmen, weil wir den Lobpreis aussprechen können, und sie sprechen wiederholt vom Tod als dem Zustand, in dem diese Fähigkeit nicht mehr besteht. Benedikt von Nursia versteht den Lobpreis als Grundlage des Lebens, indem er die Psalmen 148, 149 und 150 für die Laudes zu Beginn des Tages bestimmt.
Einige Doxologien sind eigenständige biblische Einheiten. Das gilt für die Psalmen und die Gesänge aus den Evangelien, also Benedictus, Magnificat und Nunc Dimittis. Ihre Rolle im Gottesdienst unterscheidet sich von der öffentlichen Lesung der Heiligen Schrift und der Predigt. Erstens sind sie auf eine faszinierende Weise responsiv. Indem das Benedictus und das Magnificat regelmäßig im Anschluss an die neutestamentliche Lesung in der Morgen- oder Abendliturgie rezitiert werden, eröffnet dies den Liturgiefeiernden die Möglichkeit, über diese Worte anhand der verkündeten biblischen Zeugnisse je neu nachzudenken. Die Frage, was es bedeutet, den Namen des Herrn zu preisen, der versprochen hat, sein Volk zu retten und dessen Würde Tag für Tag wiederherzustellen, wird zu ihrer Frage, in ihrem Kontext, eingebettet in die größere christliche Tradition. Zweitens offenbaren diese Texte eine Spannung zwischen Erinnerung und Hoffnung, indem sie der Trostlosigkeit und Verzweiflung trotzen, indem sie das feiern, von dem sie wissen, dass es wahr ist. Gott, der die Vorfahren seines Volkes nie im Stich gelassen hat, wird auch die Nachkommen nicht im Stich lassen, selbst wenn bedrückende Bedingungen Hoffnung wie eine Torheit erscheinen lassen.
Wie können wir mit der enormen Herausforderung dieser Texte in unserer Zeit umgehen? Kevin Irwin verweist auf die Verwendung von Antiphonen, welche die Auslegung zu bestimmten Zeiten und Jahreszeiten lenken, indem die biblischen Lobgesänge in einen Dialog mit anderen biblischen Äußerungen gestellt werden. Texte, die einen kühnen Anspruch auf eine neue Ordnung erheben, können nicht alle auf einmal aufgenommen werden. Die Antiphonen bieten eine Möglichkeit, mit ihrem „Bedeutungsüberschuss“ umzugehen. Auch wenn wir versucht sind zu glauben, dass wir die Gesänge so gut kennen, dass wir uns mit ihrem Inhalt nicht mehr befassen müssten, können uns die Antiphonen aus unserer oberflächlichen Vertrautheit herausholen und erstaunliche neue Einsichten vermitteln.
Die Kirche hat seit den frühesten Zeiten eigene Lieder komponiert, die auch heute noch fester Bestandteil von christlichen Gottesdiensten sind. Das Gloria in Excelsis (ein eucharistischer Hymnus bei den Katholiken und Anglikanern und ein Morgenhymnus in der orthodoxen Tradition), das Te Deum und das Phos Hilaron sind in ihrer Reflexion über biblische Worte und Bilder inspirierend und kreativ. So wirken der Gesang der Engel bei der Geburt Christi (Lk 2,14), die Anerkennung Gottes als „Herr“, der in der geheimnisvollen Beziehung von Vater, Sohn und Heiligem Geist existiert, und das johanneische Verständnis von Christus als dem Licht der Welt (das andere biblische Verweise auf das Licht als dem Wesen Gottes innewohnend heraufbeschwört) in ihrem Lobpreis wie Glaubensaussagen. Nicholas Wolterstorff argumentiert, dass dies geschieht, wenn die Anbetung „besondere Kontur“ erhält: Gott wird mit Ehrfurcht angebetet, weil er unendlich herrlich und heilig ist; mit Dankbarkeit wegen der unermesslichen Liebe, die Gott den Menschen entgegenbringt.
In den eucharistischen Gebeten der römisch-katholischen Kirche und der Kirchen der Reformation findet diese doxologische Begegnung auf andere Weise und mit Aufmerksamkeit für Zeit und Geschichte statt. Hier werden die „mächtigen Taten Gottes“ zur Erlösung der Menschen sowohl als Ereignisse in Erinnerung gerufen als auch je neu „mit Engeln, Erzengeln und der ganzen Schar des Himmels“ gefeiert. Die Präfationen des römischen Ritus bringen die erlösende Beziehung zwischen Gott und seiner Schöpfung mit großer dramatischer Kraft und in einer Vielzahl von Stimmungen zum Ausdruck. An Weihnachten staunt die Kirche über den „sichtbar gewordenen Gott“ und wird so in die Liebe der noch unsichtbaren göttlichen Wirklichkeit hineingezogen. An Ostern feiern die Präfationen das wiederhergestellte Leben und die Öffnung des Himmels für ein erlöstes Volk. Das Fest der Darstellung des Herrn sieht die Herrlichkeit Christi unter dem Schatten der Kreuzigung, des Gerichts und des Schmerzes, der Marias Herz wie ein Schwert durchbohrt, in die Welt kommen.
Diese Präfationen stützen sich auf eine Vielzahl biblischer und patristischer Quellen, um sich dem Geheimnis zu nähern, in das jede Feier der Eucharistie die Gläubigen einlädt. Indem die Kirche eine lebendige Beziehung zur Tradition pflegt, prüft sie ihre eigene Stimme ständig angesichts des fortwährenden Lobpreises. Die gleichen Quellen sind auch dort, wo sich christlicher Gottesdienst kreativ ausdrückt, von entscheidender Bedeutung, nämlich bei der Komposition von Hymnen und Liedern. Es ist natürlich unmöglich, einen umfassenden Überblick über dieses umfangreiche Thema zu geben. Außerdem sind Hymnen und Lieder von Natur aus Teil der Struktur lebendiger Volkssprachen, und Textbeispiele aus einer Sprache spiegeln nicht unbedingt die Verhältnisse in anderen Sprachen wider. Dennoch gibt es einige allgemeine Merkmale, die allen metrischen Lobpreisungen gemeinsam sind. Diese ergeben sich aus dem Zusammenspiel von theologischer und poetischer Vorstellungskraft einerseits und der Treue zur Lehre und der Sorge um die christliche Bildung andererseits.
Von Geoffrey Wainwright, zu dessen Prägung durch die methodistische Tradition eine tiefe Wertschätzung für die Hymnen von Charles Wesley gehörte, stammt die Aussage, dass „[i]nfolge ihrer größeren Flexibilität die Hymnen eine ergänzende Funktion zu den Glaubensbekenntnissen erfüllen; sie ermöglichen auch den Ausdruck einer ‚ekstatischen Vernunft‘“. Was bedeutet das, wenn es auf den Gottesdienst der Kirche angewendet wird?
Zunächst zur „Vernunft“: Die Verfasser von Kirchenliedern waren oft von dem Wunsch beseelt, Aspekte des Glaubens zu vermitteln, indem sie einprägsame Sprachmuster und Melodien kombinierten, die sich im Gedächtnis derer, die ihnen regelmäßig begegnen, festsetzen. Viele Hymnen haben ein Motiv, das sich über eine Reihe von Strophen entwickelt. Kardinal Newmans „Praise to the Holiest in the Height“ aus dem Traum des Gerontius ist ein Beispiel dafür: Eingerahmt von einem starken Lob Gottes, „in all his words most wonderful, most sure in all his ways“, zeichnet es die gesamte Erzählung von Sündenfall und Erlösung durch die Perspektive jener „wisest love“ nach, die in der Inkarnation Mensch wurde, um die Mächte des Bösen zu besiegen, die sich als zu stark erwiesen hatten, als dass die Menschen ihnen hätten widerstehen können. Das ekstatische Element geht über das rein Rationale und Wohlbegründete hinaus. Manchmal geschieht dies durch den Ausdruck starker Emotionen, vielleicht wie in der letzten Strophe von Charles Wesleys „Love Divine, all loves excelling“, wo wir uns innerhalb einer wiederhergestellten Schöpfung vorstellen können, wie wir „cast our crowns before thee, lost in wonder, love and praise“. Zu anderen Zeiten kann die ekstatische Wirkung dadurch erreicht werden, dass die Aufmerksamkeit auf ein kraftvolles Bild gelenkt wird, wie in der Kreuzesfeier des Bischofs und Hymnographen Venantius Fortunatus aus dem 6. Jahrhundert, Vexilla regis, die von John Mason Neale ins Englische übersetzt wurde als „The royal banners forward go“. Im Mittelpunkt des Hymnus steht die Rolle des Kreuzes bei der Erlösung, und zwar in einer Weise, die es zu mehr als einem grausamen Folterinstrument macht. Stattdessen wird es als Träger des gekreuzigten Christus zu einer eigenständigen Figur:
„On whose dear arms, so widely flung,
The weight of this world’s ransom hung,
The price of humankind to pay,
And spoil the spoiler of his prey.“
Zeitgenössische Anbetungslieder verwenden eine Vielzahl von metrischen Effekten und stützen sich oft auf instrumentale Zwischenspiele. Auch sie sind in der Lage, die Liturgiefeiernden persönlich einzubeziehen; dies geschieht häufig durch Texte, die eine persönliche Beziehung zwischen dem Einzelnen und Christus heraufbeschwören und Bilder verwenden, die mal das Majestätische und Ehrfurcht einflößende, mal die Demut Christi betonen. Graham Kendricks Lied „The Servant-King“ (1984), das das Leben Christi von seinem Eintritt in die Welt als „helpless babe“ bis hin zu den „scars“ nachzeichnet, die die „hands that flung stars into space“, markieren, hat bleibenden Eindruck hinterlassen. In der Logik des Liedes gibt es zwei angemessene Reaktionen: das Staunen darüber, dass Gott so viel tun konnte, um uns zu retten, und den Wunsch, unser eigenes Leben als Opfer darzubringen.
Randall Bradley hat auf die Notwendigkeit hingewiesen, bei der Gestaltung von Liedern große Umsicht und Verantwortung walten zu lassen, insbesondere für „Gläubige in Traditionen, denen formale Symbole und Rituale fehlen“. Hier muss der Inhalt der Lieder, die sie singen, „die Leere in ihrer religiösen Vorstellungskraft füllen“ und muss daher „eine akzeptable phantasievolle Entwicklung der biblischen Erzählung“ stattfinden. Ich selbst habe Louis-Marie Chauvets Überlegungen darüber, was die Liturgie biblisch macht, als äußerst hilfreich empfunden. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und den darauffolgenden Entwicklungen in der liturgischen Komposition und Hymnographie hoffte er auf eine fruchtbare und theologisch überzeugende Begegnung zwischen der Aufmerksamkeit für die Heilige Schrift einerseits und den Ressourcen der Imagination andererseits. Er beschrieb das, was er sich vorstellte, als eine „anspruchsvolle Kreativität“, die in der Lage ist, einen neuen „Geschmack an der Bibel in der Kultur unserer Zeit“ zu bewirken.
Die Herausforderung unserer Zeit besteht darin, dass das biblische Wissen immer mehr abnimmt. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Gottesdienstfeiernden Anspielungen erkennen und Verbindungen herstellen.
Dies muss kein Grund zur Verzweiflung sein, wenn man es als Anreiz betrachtet, diese Verbindung anders herum zu denken. Wie kann die Erfahrung der Schönheit im Lobpreis der Kirche und ihre Einladung an die menschliche Vorstellungskraft, die sich nach Gott ausstreckt, zum Katalysator für eine biblische Begegnung werden? Die Antwort auf diese Frage muss in enger Zusammenarbeit zwischen Bibel- und Liturgiewissenschaftler:innen und Seelsorger:innen gesucht werden.
Erwähnte Literatur
Bridget Nichols: wuchs in Südafrika auf; studierte Englische Literatur und Klassische Philologie in Kapstadt; lehrte an der Englischen Abteilung der Universität von Witwatersrand; Promotion an der Universität von Durham (Liturgical Hermeneutics: Interpreting Liturgical Rites in Performance [Peter Lang, 1996]). Von 1998 bis 2017 war sie Lay Chaplain und Forschungsassistentin dreier Bischöfen von Ely, Grafschaft Cambridgeshire, GB. Sie ist Visiting Scholar am Sarum College, wo sie am MA-Programm Christliche Liturgie mitarbeitet. Seit Juli 2017 ist sie Mitarbeiterin des Church of Ireland Theological Institute, Dublin. Sie war von 2019–2021 Präsidentin der Societas Liturgical.
Wissenschaftliche Interessen: Wesen der liturgischen Sprache; liturgische Sprache als rituelle Sprache; das Verhältnis von gottesdienstlichen Gemeinschaften zur Autorität; geschlechtsspezifische Sprache; die Beteiligung des Körpers an der Liturgie als Form der Sprache.