Auf die Suche nach einer “atheistischen Spiritualität” begab sich Prof. Dr. Eberhard Tiefensee mit seiner Abschiedsvorlesung am 29. Juni. Tiefensee unterstrich dabei die immer dringlicher werdenden Anforderungen, die insbesondere aus dem Erziehungs- und Gesundheitswesen gestellt werden – auch in einem bewusst säkularen Umfeld.
von Desiree Haak
Selten erlebt man, dass bei akademischen Vorträgen zusätzliche Stühle herangeschafft werden müssen, um allen Besucherinnen und Besuchern Platz zu bieten. Wenn allerdings Eberhard Tiefensee, bislang Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, zu seiner Abschiedsvorlesung lädt, dann stößt selbst das weitläufige Coelicum im Erfurter Dom schnell an seine Grenzen.
Mit seinem Vortrag über “Atheistische Spiritualität – eine Anfrage” verabschiedete sich Tiefensee am 29. Juni nach mehr als 20 Jahren als Professor an der Universität Erfurt bzw. dem ehemaligen Philosophisch-Theologischen Studium in den Ruhestand. Über 150 Gäste – darunter Kolleginnen und Kollegen, Kirchenvertreter, aktive und ehemalige Studierende sowie Freunde und Familienangehörige – lauschten dem Philosophen als er spirituelle Tendenzen in betont säkularen Umfeldern reflektierte und daraus mögliche Synergien für den Dialog von Christen und Atheisten ableitete.
Mit seiner letzten Vorlesung wies Tiefensee damit in eine Richtung, die Kolleginnen und Kollegen in der Forschung künftig noch eingehender beschäftigen dürfte – denn: Atheistische Spiritualität ist auf dem Vormarsch. Eine von Tiefensee zitierte Studie belegt, dass sich sogar im konfessionslosen Osten Deutschlands fast die Hälfte derer, die sich als “Atheisten” deklarierten, selbst als “religiös oder spirituell” bezeichneten. Eine Überraschung – auch für den Theologen, der aus Sachsen und damit der tiefsten Diaspora stammt. Für die Theologie ergäbe sich daraus ein wahrer Prüfstein, denn “Spiritualität ist ein schwer abzugrenzendes Phänomen, atheistische umso mehr”, wie Tiefensee festhielt.
Insbesondere aus dem Erziehungs- und Gesundheitswesen seien immer lauter Forderungen nach einer solchen Spiritualität zu vernehmen. Beispielhaft verweist Tiefensee auf die Palliativmedizin, deren Aufgabe es ist, denjenigen zu einer höheren Lebensqualität zu verhelfen, deren Krankheit nicht mehr zu heilen ist. Auch säkulare Hospize sähen sich zunehmend mit dem Thema konfrontiert.
Gründe für diese Entwicklung sieht er zum einen in einer schlichten Kosten-Nutzen-Rechnung. Spiritualität habe demnach zwangsläufig immer auch etwas mit Lebensqualität zu tun, zu deren Gewährleistung Kliniken und Co. verpflichtet seien. In diesem Sinne werde das Interesse aber auch durch immer dringlichere Forderungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geschürt. Ziel sei es demnach, den Menschen verstärkt als ganzheitliches Wesen “mit körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnissen” wahr und ernst zu nehmen.
Spiritualität sei demzufolge nicht länger nur jenen vorbehalten, die sich zu einem religiösen Glauben bekennen, so Tiefensee. Zumal allerorten zunehmend eine umfassendere Reflexion des Menschen sowie seiner Stellung im Kosmos in den Fokus rücke. Dabei werde die Außenseite der Welt – also ihre “reine Physik” – in Beziehung gesetzt zu einer Innenseite, die man klassischerweise als das “Wesen” oder das “Sein” der Dinge bezeichne. “Nicht dass Elementarteilchen fühlen oder denken, aber etwas jenseits ihrer mathematisch-physikalisch beschreibbaren Eigenschaft wird erst im menschlichen Bewusstsein voll sichtbar und meldet sich – so wäre zu vermuten – u.a. in der atheistischen Spiritualität”, erklärte er.
Pessimistisch betrachtet ließe sich daraus folgern, dass das “Spirituelle, Kulturelle und Ästhetische […] das Erbe des verblassenden Christentums angetreten” habe, wie Tiefensee in Anlehnung an die Psychologin Gita Neumann zitierte. Andere wiederum, etwa Ulrich Tünsmeyer, Beauftragter für Aufklärung über Psycho- und religiöse Sondergruppen sowie Okkultismus im Humanistischen Verband Deutschland, warnen jedoch vor vermeintlichen religiösen Unterwanderungstendenzen – etwa in einer professionellen Sterbebegleitung, die letztendlich auf einem christlichen Verständnis von Seelsorge fuße.
Was hier zunächst wie “ein Streit um Worte” aussieht, so Tiefensee weiter, “ist eigentlich eine tiefgreifende Auseinandersetzung um die praktische Lebensgestaltung im säkularen Umfeld, die sich beispielhaft an der Forderung des Gesundheitswesens nach umfassender Versorgung der Patienten entzündet, aber wohl bald auch andere Bereiche umfassen wird.” In ähnlicher Weise ließe sich hier auch die Forderung der UNO nennen, derer zufolge jedem Kind das Recht auch auf spirituelle und religiöse Erziehung zugesichert werden müsse – eine Herausforderung für ein säkular geprägtes Erziehungswesen, wie Tiefensee betonte.
Seinen Vortrag schloss der Philosoph mit dem Hinweis, dass alle Beteiligten beim Phänomen “atheistische Spiritualität” mit etwas konfrontiert seien, das schwer einzuschätzen ist: Atheisten versuchten demnach einerseits das Erbe der Religion für sich “auszubeuten”, andererseits fürchten sie eine “Umarmung” oder “Unterwanderung” durch Religion. Christen wiederum neigten dazu, einerseits eine atheistische Spiritualität schlichtweg zu übersehen, sie nicht wirklich ernst zu nehmen oder aber sie nur zur Bestätigung eigener Positionen zu verwenden. “Das Diskursfeld scheint sich zumindest vorsichtig zu öffnen in ganz neue Themenbereiche hinein”, erklärte Tiefensee abschließend. “Ich hoffe, dass beide Seiten – Atheisten und Christen – davon profitieren können, käme der Austausch nur richtig in Gang.”
– Eberhard Tiefensee
Mit Worten des Dankes und des Abschieds wurde der Abend beschlossen. Angelika Todtwalusch, Sprecherin der Fachschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät, bedankte sich im Namen der Studierendenschaft für Tiefensees Wirken als Hochschullehrer: “Wir durften sie als jemanden kennenlernen, dem die Fakultät sehr am Herzen liegt. Jemanden, der sich immer wieder für die Belange der Fakultät und auch der Studierenden einsetze. Sie werden manche Leerstelle hinterlassen.”
Auch Tiefensee fand Worte des Dankes an die Universität, Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeitende sowie die Studierenden: “Dankbar schaue ich auf einen langen und gemeinsamen Weg.” Ein besonderer Dank galt auch allen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die an der Seite Tiefensees als damaligem Rektor die Integration des Philosophisch-Theologischen Studiums in die Universität Erfurt im Jahr 2002 begleitet hatten.
Am Rande der Veranstaltung dankte Thomas Hutt, Präsident der Universitätsgesellschaft Erfurt, Tiefensee zusätzlich für sein mehrjähriges Engagement als deren Vizepräsident. Zur Ehrung überreichte er dem emeritierten Professor eine Silbermedaille, die an den herausragenden Erfurter Juristen und Astronomen Johann Hieronymus Schroeter (1745-1816) erinnert.
Fotos: Desiree Haak