Die AfD und die Bewältigung deutscher NS-Geschichte – beides in Einklang miteinander zu bringen scheint schwierig. Erst jüngst haben Abgeordnete der “Alternative für Deutschland” bei einer Gedenkveranstaltung für Opfer des NS-Terrors den Bayrischen Landtag verlassen, nachdem Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, erklärte, die Partei stehe für sie “nicht auf dem Boden unserer demokratischen Verfassung”. Damit reißen neuerlich Wunden auf, die der Parteivorsitzende Alexander Gauland im vergangenen Sommer mit seinem Kommentar, Hitler und die Nazis seien “nur ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte”, geschlagen hatte. Unseren Kirchenhistoriker, Prof. Dr. Jörg Seiler, beschäftigt diese Bemerkung bis heute intensiv. Im Folgenden erläutert er, wieso.
Kommentar von Prof. Dr. Jörg Seiler
Die Vergangenheit wehrt sich nicht. Wie auch? Weder ist sie “präsent”, noch ist Vergangenes einfach “klar”. Der Gedanke “Aha, so war es also und nicht anders!” schleicht sich selten in das Hirn einer Historikerin oder eines Historikers. Öffentliche Äußerungen über Vergangenes setzen sich demgegenüber zuweilen erschreckend naiv – zuweilen auch entlarvend ideologisch – über diese Unsicherheit hinweg.
Dies geschieht etwa immer dann, wenn Äußerungen über Vergangenes nicht an dessen “Geschichtlichkeit” interessiert sind, sondern einzig daran, “wie wir es heute verstehen wollen.” In derlei Äußerungen werden, zumal in (gesellschafts-)politischen Diskussionen, aktuelle Interessen aus dem Hier und Jetzt sichtbar. Historikerinnen und Historiker entgehen diesem Mechanismus nicht, doch muss er sorgfältig reflektiert werden. Wenn Politikerinnen und Politiker in die Argumentationskiste der Geschichte greifen, ist immer Vorsicht geboten. Denn der Rückgriff auf die Geschichte verlangt Respekt vor dem Vergangenen. Historikerinnen und Historiker üben diesen Respekt grundsätzlich dadurch aus, dass sie als Mindestmaßstab einen allgemein anerkannten Methodenweg (die historische Quellenkritik) einhalten, sofern sie verantwortlich und einem wissenschaftlichen Ethos verpflichtet arbeiten.
Geschieht dies nicht, wird bei der Bezugnahme auf die Vergangenheit das geschichtliche Beispiel oder Argument allzu oft zu einem Steinbruch. Eine auf diese Weise “steinbrüchig” geworden Vergangenheit kann sich nicht wehren. Professionelle Historikerinnen und Historiker sollten daher stets für eine reflektierte und plausibel erschlossene Geschichte und ihre Interpretation eintreten. Das bedeutet auch, dass sie sich zuweilen der Mühe unterziehen müssen, öffentlich Erinnerungen an Vergangenes auf das Eigeninteresse und die Intention des sich Erinnernden hin zu kommentieren. Der vorliegende Kommentar versucht daher, kritisch einige Aspekte der Rede, die der AfD-Bundessprecher Alexander Gauland im Juni 2018 im Rahmen eines Treffen der “Jungen Alternative” darbot, zu beleuchten.
Herr Gauland führte bei dieser Gelegenheit aus: “Wir haben eine ruhmreiche Geschichte – daran hat [undeutlich: “schon”/”vorhin”, Anm. js] Björn Höcke erinnert – und die, liebe Freunde, dauert länger als die verdammten zwölf Jahre. Und nur, wenn wir uns zu dieser Geschichte bekennen [js: gemeint ist also die “ruhmreiche Geschichte”], haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten. Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die zwölf Jahre. Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.”
Diese Aussage beschäftigt mich seither. Als Historiker kann ich sie nicht einfach nur als Unsinn abtun, obwohl ich sie unter vielerlei Hinsicht für völlig unsinnig halte und man sie daher eigentlich nicht weiter beachten müsste. Ich sehe in ihr aber neben der politischen Gefährlichkeit, auch einen Frontalangriff auf die Würde historischer Erkenntnisfähigkeit, zu der hin ich die Theologiestudierenden der Universität Erfurt befähigen möchte: Sie sollen historisch denken lernen!
Dies ist für angehende Fachleute wichtig, die kompetent über das Christentum als eine historische Offenbarungsreligion sprechen sollen, in der “Tradition” eine einschlägige Bedeutung hat. Daher habe ich mit meinen Studierenden die Implikationen der “Vogelschiss”-Aussage diskutiert, ohne politisch über sie zu urteilen. Ich habe mit den Studierenden reflektiert, warum die Aussage rein gar nichts mit historischer Analyse zu tun hat. Sie widerspricht rein formal betrachtet – also ungeachtet, ob man dem Inhalt der Aussage zustimmt oder nicht – allen Regeln, Methoden und theoretischen Zugängen zum Verständnis historischer Prozesse, die ich zu vermitteln suche.
Ich möchte dies nur an einem einzigen Aspekt erläutern: Die Behauptung (nicht Analyse!), es gäbe so etwas wie den “Erfolg” oder etwas “Ruhmreiches” an einer geschichtlichen Epoche, müsste erst dann ernst genommen werden, wenn Kriterien für die Werturteile “Erfolg” und “ruhmreich” angegeben würden. Dass Herr Gauland – der vermutlich ein geschichtliches Proseminar im Rahmen seines Geschichtsstudiums zu belegen hatte – solche Kriterien nicht vorlegt, lässt den Schluss zu, dass die geschichtliche Bezugnahme in den Dienst politischer Stimmungsmache genommen wurde.
Erkenntnisleitende Werturteile, die einer historischen Analyse zugrunde liegen, sind in der Regel Vorurteile, die dem zu analysierenden historischen Prozess bzw. Gegenstand nicht gerecht werden. In der “Vogelschiss”-Bemerkung wird dies durch die Relation von 12:1.000 Jahren sichtbar. Das Werturteil des “Vogelschiss”-Vergleichs liegt also nicht in der (Nicht-)Distanzierung von der NS-Zeit – nach Herrn Gauland waren es “die verdammten zwölf Jahre”, von denen er sich verbal tatsächlich zu distanzieren suchte – sondern in der zweimaligen Betonung von “zwölf Jahren” kurz hintereinander, die dann zu den vermeintlich ruhmreichen “1.000 Jahren” in Beziehung gesetzt wurden. Diese qualitative Relationsbeschreibung verharmlost zwangsläufig und bewusst die NS-Zeit.
Kein halbwegs reflektiert denkender Mensch wird ernsthaft davon überzeugt sein, dass zeitliche Abläufe – und damit auch Geschichte – nicht unterschiedlich relevant sind. Die Jahre von 1933 bis 1945 sind nicht einfach nur “zwölf Jahre” wie etwa die Zeit von 1727 bis 1739. Dies zu unterstellen, zerstört einen für die deutsche Geschichte seit Mitte des 20. Jahrhunderts wesentlichen kulturellen Konsens. Der “Vogelschiss”-Vergleich will provozieren und demaskiert in dieser Provokation heutige Interessen und Ideologien.
Hinter dem wohl kalkulierten Tabubruch steht die argumentative Entgrenzung – um nicht zu sagen: Überwindung – eines aus historischer Erfahrung gewachsenen politischen und kulturellen Konsenses: Die Erfahrung und das (historische) Wissen um die Gräuel nationalsozialistischer Gewalt, um eine menschenverachtende Politik und um eine todbringende Ideologie sowie deren von der Duldung bis zur fanatischen Unterstützung reichenden Akzeptanz durch die Mehrheit der zur “Volksgemeinschaft” überformten Deutschen, haben seit 1945 in zuweilen langwierigen Debatten und schmerzhaften Erinnerungsprozessen dazu geführt, eine besondere politische und menschenrechtlich fokussierte Verantwortung der Deutschen gegenüber der Welt – insbesondere gegenüber den Opfern der Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen sowie ihren Nachfahren – anzuerkennen, zu übernehmen und zu verteidigen.
Zu dieser Verantwortung gehört auch der Konsens, die NS-Zeit nicht zu verharmlosen, etwa indem man sie auf “nur” zwölf Jahre reduziert. Das Grauen dieser Jahre ist seither in das kulturelle Gedächtnis der Welt eingeschrieben. Herr Gauland verkennt dies, wenn er eine “Verantwortung für [Hervorhebung js] die zwölf Jahre” bekennt. Für die NS-Zeit und ihre Gräueltaten sind die damaligen Zeitgenossen und -genossinnen verantwortlich zu machen. Die bleibende Verantwortung aller Deutschen ergibt sich vielmehr aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur.
Verantwortung kann man aus historischer Erfahrung angemessen dann übernehmen, wenn die Vergangenheit methodisch sicher erforscht und dadurch Geschichte im gesellschaftlichen und politischen Diskurs relevant gemacht werden kann. Geschichte hat in ihrer Unverfügbarkeit (!) eine Bedeutung für heute. Wer sich hingegen von heutigen Interessen die Vergangenheit gefügig macht – vor demjenigen muss gewarnt werden! Nicht zuletzt, aber auch, aus Respekt vor einer Vergangenheit, die sich gegen Instrumentalisierung nicht wehren kann.
Hinweis der Redaktion: Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des jeweiligen Autors bzw. der Autorin und nicht die der Redaktion wieder.
Prof. Dr. Jörg Seiler ist Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Erfurt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte des Deutschen Ordens im Reich, Kirchengeschichte in kulturwissenschaftlicher Perspektive und Historische Friedensforschung / Kirche im Krieg.