Bild: Juanky Pamies Alcubilla/Flickr CC BY-NC 2.0
In Reaktion auf den Tod Benedikts XVI. haben sich viele teils kritische, teils würdigende Stimmen aus Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft zu Theologie und Pontifikat des emeritierten Papstes geäußert. Benedikt Kranemann und Jörg Seiler haben hier aus ihrer jeweiligen Perspektive als Liturgiewissenschaftler und Kirchenhistoriker über ihre Erfahrungen mit und ihren Blick auf die theologischen Positionen Benedikts geschrieben.
Dem Theologen Joseph Ratzinger bin ich das erste Mal literarisch noch vor dem Studium begegnet. Jemand hatte mir die „Einführung in das Christentum“ empfohlen, an deren Lektüre ich mich gerne erinnere. Zweifellos ein brillantes, ein gelehrtes Buch, ein Klassiker der Theologie, ansprechend geschrieben. Ein Werk, das begeistern konnte und kann. Später kamen für mich andere Schriften dazu, zunächst die Kommentare des jungen Ratzinger zu Gaudium et spes und Dei verbum, Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sie haben historischen, zweifellos auch bleibenden Wert. Auf dem Konzil galt Ratzinger, der als Peritus teilnahm, als Reformer und Widerpart vieler Konservativer. Seine frühen Schriften sind davon deutlich geprägt und lohnen die Lektüre und Auseinandersetzung.
Ratzinger war als Konzilstheologe schon weniger im Bewusstsein, als ich mein Theologiestudium aufnahm. Erst Erzbischof von München-Freising, dann Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre – der Ratzinger des Konzils stand bald neben dem Ratzinger des Kirchenapparats, der feinsinnige Theologe und Intellektuelle neben dem römischen Präfekten mit all seiner zumindest kircheninternen Macht, der im Sinne einer immer stärker regulierten und sich gegenüber der Moderne abgrenzenden Kirche seine Entscheidungen treffen konnte – und traf. Dieser heftige Paradigmenwechsel, offensichtlich in Biografie und Erlebnissen verankert, ließ sich, nicht nur für einen Studenten, kaum begreifen. Die Ambivalenz im Blick auf Joseph Ratzinger ist geblieben. Viele Themen der Theologie, die schon junge Theologinnen und Theologen der 1980er- und 1990er-Jahre bewegten, z. B. die Frauenordination, der Zölibat, die Rolle der Gläubigen in der Kirche, das Verhältnis der Kirche zur Moderne, waren keine Themen, für die man auf Ratzinger als Parteigänger hätte hoffen können.
Viel später erst las ich im Zusammenhang die Schriften Ratzingers zur Liturgie. Ich begegnete einem Theologen, dem die Liturgie und ihre Schönheit, insbesondere die rechte Weise der Anbetung und die Ästhetik des Gottesdienstes zentrale Anliegen waren. Die Sorge um die Liturgie trieb ihn persönlich und existenziell um, das steht außer Frage. Eine gedanklich klare Welt, die durchaus faszinieren kann, begegnet im Buch „Der Geist der Liturgie“. Romano Guardini hatte noch zurückhaltender „Vom Geist der Liturgie“ getitelt. Aber ich traf auch auf eine in sich geschlossene Welt, in der zumindest ich als Theologe, der in der ostdeutschen Diaspora arbeitet und sich ihr stellt, nicht zuhause bin. Die Anfragen der Moderne an Gottesdienst und Glauben der Kirche, die Wahrnehmung der Spannungen, die der Liturgie und der Kirche zu eigen sind, die Suche nach Inhalt und Form des Gottesdienstes für die Zeit der „säkularen Option“ (Charles Taylor) uvm. waren Ratzingers Sache nicht. Viele Entscheidungen zur Liturgie, die Ratzinger als Kurienkardinal mitverantwortet hat und die er als Papst selber auf den Weg gebracht hat, etwa zur Wiederzulassung der sog. „Alten Messe“ – die Liste ist lang –, gehen für mich als Liturgiewissenschaftler in die falsche Richtung – theologisch, aber auch kirchenpolitisch. Nicht von ungefähr hat Papst Franziskus als sein Nachfolger vieles davon rückgängig gemacht.
Es gehört zur Tragik des Theologen Joseph Ratzinger, dass manches, was man theologisch mit Gewinn hätte diskutieren sollen, ohne im Letzten zustimmen zu müssen, durch seine Position als Kardinal und Papst rasch zur Kirchenpolitik wurden. Das verschärfte die Auseinandersetzung (immer weiter) und machte sie zum Teil unmöglich.
So paradox das klingt: Mit diesem Pontifikat wird immer der Rücktritt von Papst Benedikt assoziiert werden, der eindrucksvoll war. Ein Schritt mit langfristigen Folgen für die Einschätzung des Papstamtes, die heute noch gar nicht absehbar sind. Aber auch ein persönliches Zeichen, vor aller Welt die Überforderung durch das Amt zu erklären. Vielleicht sogar das Eingeständnis, dass ein bestimmtes Modell von Kirche an ein Ende gekommen ist. Auf jeden Fall aber eine menschlich bewegende Entscheidung.
Joseph Ratzinger wird als Theologe und Papst in all seiner Widersprüchlichkeit mit Licht wie Schatten die Theologie- und Kirchengeschichte noch lange beschäftigen. Das ist keine Zeit weniger Tage und Wochen. Er bleibt eine Persönlichkeit, zu der man sich wird verhalten müssen. Möge er ruhen in Frieden!
Prof. Dr. Benedikt Kranemann ist Inhaber der Professur für Liturgiewissenschaft.
Ich weiß nicht, unter welchem Vorzeichen ich Joseph Ratzinger in seinem Gesamtwerk als einen „großen Theologen“, als einen „Großen“, oder gar als einen „Kirchenlehrer“ bezeichnen oder gerne bezeichnet sehen würde. Ich müßte einen Rahmen abstecken, innerhalb dessen gewiss auch Großes sichtbar wäre. Rahmen hat der Theologe Joseph Ratzinger und hat Papst Benedikt nicht gesprengt. Und über gute, innovative Theologie darf man immer dankbar sein. Dass ein guter Theologe auf dem Stuhl Petri Platz genommen hat: Sollte dies etwa ein Verdienst sein? Peinlich, müsste man es als bemerkenswert festhalten, dass ein Papst theologisch gebildet ist. Der Verstorbene kannte unsere Fakultät von Besuchen und Wahrnehmungen schon aus DDR-Zeiten her. Eigentümlich diese Vermutung, dass wohl kein Papst diese kleine Fakultät in der Mitte Deutschlands, die früher „der Osten“ war, besser kannte und verstand und gewiss für sie betete und sich einsetzte wie Benedikt XVI. und wie Kardinal Ratzinger und wie Professor Ratzinger. Die deutsche Theologie, auch die staatlichen Fakultäten bei aller komplizierten Zuordnung, waren es eben auch (neben der erfahrenen Frömmigkeit seines Zuhauses; neben der gewiss einfühlsamen existenziellen Selbstgestaltung und Gottessuche; neben dem Verstehenwollen des Größeren, das eigene Gebrechen zusammenzuhalten sucht), die den Theologen und Geistlichen Joseph Ratzinger hervorgebracht haben.
Ernst zu nehmen ist sein eigenes Framing: Er sei ein „einfacher Arbeiter im Weinberg des Herrn“, das Papstamt ein „unerhörter Auftrag“, menschliches Vermögen übersteigend (bei seiner Papstwahl) und er sei als Bischof „nicht ein Manager, ein Chef von eigenen Gnaden, sondern der Beauftragte des Anderen, für den er eintritt, ein Gesandter, der eine Botschaft auszurichten hat, die größer ist als er“ (bei seiner Bischofsweihe 1977). Das sind realistische Aussagen und Selbstwahrnehmungen. Joseph Ratzinger hat sich als Priester, Erzbischof, Kardinal und dann als Papst ganz in Dienst nehmen lassen für Gott und von dort her für die Kirche — das ist bemerkens- und bewundernswert. Gewiss sorgte er sich mit all seinen Fähigkeiten um den Weinberg des Herrn. Geistlich unklar bleibt mir, wie ein Papst, ein Kardinal, ein Erzbischof und ein Priester damit umzugehen hat, dass es „des Herrn“ Weinberg ist: eines Herren, der eben auch über all das seine Sonne aufgehen lässt, was dem Arbeiter als Gestrüpp, Unkraut und eben nicht als Frucht für einen leckeren Traubensaft erscheint (Mt 5,45). Arbeiten, um zu pflegen, was da ist (und was da ist). Der Weinberg ist ein Biotop. Vielfältig wenigstens. Und gerade weil dieses Priesterliche unerhört Aufgegebenes ist, bedarf es Gott geöffneter Ohren. Gewiss besaß Benedikt XVI., für den Musik etwas Tageszerrissenes zusammenbrachte, diese Ohren. Ich hätte mir gewünscht, so manches in Lehre und Selbstbeschreibung, was Kirche sei, wäre brüchiger geblieben, weil wir alle Gebrochene sind. Und in der Kommunion, dem Empfang und der Gabe des gebrochenen Herrn, würden wir einander großzügig Gebrechlichkeit zusprechen. Papst Benedikt imponiert mir, dass er 2013 seine schwindenden Kräfte benennen konnte und realistisch wohl auch dies eingestanden hat, dass ein Bischof eben auch Managerqualitäten besitzen muss, denn er muss als Gesandter des Größeren sich das zu Eigen machen, was nicht eigene Begabung, eigenes Wollen und vorhandene Kompetenz ist. Hierfür sind Kräfte endlich.
Ich verstehe historisch das Pontifikat Benedikts XVI. als jenes, welches das 20. Jahrhundert abschloss — mit seiner Reihe sehr disparater Papstpersönlichkeiten, die alle vom Konzil her sich Gott, der Welt und den eigenen Lebensaufgaben näherten.
Ich sehe Analogien zum großen Paul VI. Wo der Montini-Papst so wunderbar einseitig Diplomat war, war Benedikt vielleicht einseitig Theologe? Beide suchten die Konzilsskeptiker oder Moderne-Befremdeten weiter katholisch einzubinden. Ob dies gelungen oder nicht gelungen ist oder gelingen kann, ist historisch nicht die Frage. Vielmehr ist mir als Historiker klar, dass es globale und weltgeschichtliche Prozesse sind, absolut unabhängig von Religion und Kirche und Glaube, die zu Unrecht vereinseitigt werden, wenn der Bezug auf sie vornehmlich als „Relativismus“ verstanden wird. „Moderne“ ist komplex. Wir sind in sie hineingestellt. Relativ ist des Menschen Stellung zur Welt immer. Muss die hieraus sich ergebende Vielfalt wirklich „Relativismus“ werden? Trauen wir doch Gott zu, dass Er die Welt uns als Berufung gibt. Und dass die vielen diese Berufung vielfältig als Suchende annehmen. Dann ist da nicht so sehr der befürchtete Dammbruch, den aufzuhalten ja eine doch gar zu schwere Last ist. Haben beide das verstanden? Es mag sein, dass mit Benedikt ein weiterer Europäer gestorben ist, der ein großer Europäer geworden wäre (oder es tatsächlich war?), hätten nicht die ungeklärten Probleme der Kirche den eigenen Gestaltungsradius beengt. Das 21. Jahrhundert wird nicht jenes Europas sein.
Ein kluger Freund gab mir den Schlüssel für Benedikts Pontifikat: Er sei jemand, der Gott nicht verzwergen wollte und dies auch nicht zuließ. Das ist schön: Gott nicht verzwergen. Dann bleibt Er eine Zu-Mutung, weil Er der Größere ist. Benedikt hat uns dies in Erinnerung gebracht.
Prof. Dr. Jörg Seiler ist Inhaber der Professur für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit.