Die Universität Erfurt beteiligt sich am Modellprojekt „Achtsame Hochschule“. Worum es dabei geht und was genau das für die Studierenden und Beschäftigten bringt, darüber haben wir mit Dr. Birgit Jäpelt, Ansprechpartnerin für die Universität Erfurt im Modellprojekt, gesprochen...
Was genau muss man sich unter dem Begriff vorstellen, Frau Dr. Jäpelt?
Ich gebe zu, dass wir hier einen verwirrenden Projekttitel verwenden, weil eine Hochschule selbst nicht achtsam ist, sie kann zum Thema eine Position erarbeiten. Selbstverständlich wird Achtsamkeit in einer Hochschule durch die agierenden Personen verkörpert. Durch dieses Modellprojekt (2018/2019) ist allerhand in Thüringen angestoßen worden und eine bundesweite Vernetzung gelungen. Es geht um die Einübung einer achtsamen Haltung im Umgang miteinander. Dafür sind im Projekt spezifische Achtsamkeitstrainings für die verschiedenen Personengruppen an Hochschulen entwickelt und evaluiert worden. In Thüringen finden diese Trainings in den Universitäten Jena, Ilmenau, Erfurt und Weimar, sowie an der Hochschule in Nordhausen statt. „Keimzelle des Modellprojekts“ ist die EAH in Jena.
Als überregionale Kooperationsplattform deutschsprachiger Länder wird das Projekt auch nach Ablauf der geförderten Laufzeit fortgesetzt und setzt sich zum Ziel, praxisorientierte Forschung zur Klärung der Frage zu initiieren, welche Effekte die hochschulspezifische Vermittlung der mentalen Meta-Kompetenz Achtsamkeit bewirkt.
Und welche konkreten Angebote macht die Uni in diesem Rahmen?
Die Uni Erfurt hat auch in der Vergangenheit schon Angebote in diesem Themenfeld gemacht, z.B. werden vom Universitätssportverein Yoga- und Achtsamkeitskurse organisiert. Ich z.B. biete gemeinsam mit dem Zen-Lehrer Gerald Weischede seit 2009 Seminare im Studium Fundamentale (StuFu)unter dem Titel „Labor auf dem Sitzkissen“ an. Hier erlernen die Studierenden die Praxis der Zen-Meditation und die damit verbundenen Möglichkeiten, sich selbst zu studieren. Die zielgruppenspezifischen Kursformate aus dem o.a. Projekt werden seit 2018 von ausgebildeten Trainer*innen umgesetzt und von der AOK PLUS finanziert. So habe ich in den vergangenen drei Jahren je eine StuFu-Veranstaltung „Mindfulness Based Student Training (MBST) - Achtsam studieren“ angeboten und darüber hinaus einen Kurs für Mitarbeitende (Mindfulness Based Employee Training: MBET) organisiert. Im Rahmen des Universitären Gesundheitsmanagements sollen diese Kurse verstetigt werden.
In Kooperation mit Prof. Dr. Elke Gemeinhardt wurde zudem im Sommersemester 2019 in Erfurt ein von der FH Nordhausen organisierter Kurs für Hochschullehrende (Mindfulness Based Teacher Training: MBTT) durchgeführt. In dessen Fortsetzung findet im aktuellen Winter- und folgenden Sommersemester ein Zertifikatskurs „Achtsame Hochschullehrende“ statt.
Was ist das Ziel dieser Angebote?
Jede*r, der*die eine Praxis der Achtsamkeit im Alltag pflegt, kann erfahren, dass täglich durchgeführte Achtsamkeitsübungen und Meditationen zu einem souveränen Umgang mit stressverschärfenden Gedanken beitragen. Denn dass das Stresslevel an Hochschulen steigt, belegt z.B. eine empirische Untersuchung zum Studierendenstress in Deutschland aus dem Jahr 2016.
Wirksamkeitsstudien im Zusammenhang mit den von Jon Kabat-Zinn in den 70er-Jahren entwickelten MBSR-Kursen (Mindfulness Based Stress Reduction) zeigen, dass sich Achtsamkeitstrainings positiv auf den Umgang mit Stress und Depressionen auswirken. Insofern stehen diese Angebote im Dienste der Gesundheit. Ziel der Angebote ist aber auch, das Potenzial von Achtsamkeit als Kulturtechnik zu verstehen und in den Bildungskanon der Hochschulen einfließen zu lassen.
Haben wir als Hochschule denn da so viele Probleme bzw. Nachholbedarf?
Das würde ich nicht so negativ bewerten, weil ich durch meine Aktivitäten in diesem Feld schon viele Lehrende kennengelernt haben, die offen für dieses Thema sind und sich v.a. im privaten Bereich Formen achtsamer Praxis angeeignet haben. Auch in den o.a. Zertifikatskurs sind sechs Hochschullehrende der Universität Erfurt dabei, im vorgängigen MBTT-Kurs waren es sogar acht. Wir als Hochschule sind im Rahmen des Gesundheitsmanagements ja schon recht gut aufgestellt. Verändern wird sich jedoch, wie Achtsamkeit selbstverständlich in die Lehre integriert und kommuniziert wird.
Sie sind ja im Bereich der Lehrerbildung unterwegs – gibt es für angehende Lehrer*innen da spezielle Bedarfe? Sie starten ja in einen sehr anspruchsvollen Job und sollen hier bei uns an der Uni genau darauf bestmöglich vorbereitet werden…
Tatsächlich scheint es in explizit sozialen Handlungsfeldern wie z.B. der Schule zunehmend mehr erforderlich zu sein, Formen der Selbstfürsorge zu kultivieren. Welche Bedeutung das Verhältnis zur eigenen Gesundheit und die Bewertung von beruflichen Belastungen hat, wurde in einer Studie zu den Psychosozialen Ressourcen im Lehrerberuf aus dem Jahr 2013 untersucht, Achtsamkeit konnte hier als eine wesentliche Ressource für gelingende Unterrichtsgestaltung identifiziert werden. Schließlich geht es darum, Schüler*innen in einer achtsamen Haltung zu begegnen. Haltungen herauszubilden, braucht ausreichend Zeit und Gelegenheiten und diese sollten im Studium gegeben werden.
Wie sind Sie persönlich denn zum Thema „Achtsamkeit“ gekommen und inwieweit hat sich ihr eigenes Leben dadurch verändert?
Mein Zugang zum Thema Achtsamkeit wurde durch eine Ausbildung zur systemischen Beraterin (2002-2004) gebahnt. Dieser Beratungsansatz basiert auf einer grundsätzlich wertschätzenden Haltung gegenüber den Wirklichkeitskonstruktionen anderer und der Anerkennung für deren (Problem-)Lösungsversuche im gegenwärtigen Kontext. Es geht um die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven gleichzeitig bestehen lassen zu können, frei von Bewertungen.
In meiner Dissertation habe ich eine Ausbildung von Pädagog*innen zu systemischen Berater*innen reflektiert. Die Nähe zur Praxis der Achtsamkeit ist mir unmittelbar deutlich geworden. Seit etwa 15 Jahren ist die Zen-Meditation ein Teil meines Alltags. Mit dieser Praxis erfahre ich regelmäßig aber auch einen Ausstieg aus dem Alltag in einem eine Woche andauernden Retreat.
Ich werde oft gefragt, wie das mein Leben verändert hat und dies nicht selten mit der Erwartung, dass sich der Erfolg von Achtsamkeitspraxis in andauernder Gelassenheit und noch besserer Belastungsfähigkeit zeigt. So einfach würde ich dem nicht zustimmen. Sich selbst in dieser Weise zu studieren, erfordert vor allem Beständigkeit. Auf dem Weg zu bleiben, ihn in der Verfassung von Anfänger*innen immer wieder neu zu gehen, ist wohl die entscheidende Veränderung in meinem Leben. Im Zen wird diese Haltung Anfängergeist genannt: „Im Anfänger-Geist gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige“ (SUZUKI 2002, 22). Diese Praxis weiter zu vertiefen, möchte ich im kommenden Jahr an einem 90-Tage-Retreat teilnehmen, wenn es die Pandemielage dann zulässt. Dafür nehme ich mir die Zeit in einem Sabbatical.
Haben Sie für uns eine kleine Achtsamkeitsübung für den Alltag parat – sozusagen als „Einstieg“ in das Thema?
Eine wunderbare Übung ist für mich immer wieder, ausgewählten alltäglichen Verrichtungen im Verlauf des Tages mit Achtsamkeit bzw. nicht wertender Aufmerksamkeit zu begegnen und ganz und gar im Einklang mit dieser Tätigkeit zu sein ohne sich darin zu verlieren. Dabei hilft es den Atem einfach nur zu beobachten, wie er sich selbst atmet. Über den Atem sind wir immer gegenwärtigen Moment.
Eine Meditation von Thich Nhat Hanh geht so:
Einatmend beruhige ich meinen Körper. Ausatmend lächle ich. Einatmend weile ich im gegenwärtigen Augenblick. Ausatmend weiß ich, dass es ein wunderbarer Augenblick ist.
Und ein Zitat von ihm lautet:
Unsere Verabredung mit dem Leben findet immer im gegenwärtigen Augenblick statt. Und der Treffpunkt unserer Verabredung ist genau da, wo wir uns gerade befinden.
Aus diesem Gewahrsein heraus fühlt es sich ganz anders an, Kaffee bzw. Tee zu trinken, im Büro zu sitzen oder über den Campus zu gehen.