„Schon als kleines Kind habe ich Ungerechtigkeiten stark wahrgenommen und mich unwohl dabei gefühlt“, erinnert sich Alejandra Ortiz-Ayala und beschreibt damit nichts Geringeres als den Ausgangspunkt ihrer wissenschaftlichen Laufbahn. Denn was als kindliches Bewusstsein für (Un-)Gerechtigkeit beginnt, führt die Kolumbianerin nun an die Willy Brandt School of Public Policy der Universität Erfurt, wo sie im September die Leitung des Bereiches Conflict Studies and Management übernommen hat. Für unseren Forschungsblog „WortMelder“ haben wir mit der „akademischen Außenseiterin“, wie sie sich selbst bezeichnet, gesprochen – über ihre Laufbahn, die Bedeutung der Konfliktforschung und darüber, warum es wichtig ist, unbequeme Fragen zu stellen.
Wenn Alejandra Ortiz-Ayala heute durch die Straßen und kleinen Gassen der Erfurter Altstadt geht, staunt sie nicht nur über die charmante Architektur, sondern wird sich auch immer wieder bewusst, welches Glück sie hat. Für ein Kind einer alleinerziehenden Mutter aus dem globalen Süden ist es nämlich nicht selbstverständlich, im Ausland eine akademische Leitungsposition inne zu haben. Und für eine Kolumbianerin, die im Bürgerkrieg und in einer stark ausgeprägten Klassengesellschaft aufgewachsen ist, schon gar nicht. Ortiz-Ayala hat aber genau das geschafft, allen Widrigkeiten zum Trotz. „For my mother“ steht über ihrer Doktorarbeit, denn zu verdanken hat sie all das einerseits ihrer Mutter, die sie schon von klein auf für die politischen Dimensionen ihres Landes sensibilisierte, und andererseits dem Privileg, Mentoren und Freunde als Unterstützer zu haben. „Wenn du in Kolumbien eine gute Ausbildung haben willst, musst du sie bezahlen können. Wir haben dafür kein staatliches System wie in Deutschland. Wenn man aus den unteren Klassen kommt oder einer bestimmten ethnischen Gruppe angehört, sind die Chancen, auf eine renommierte Universität zu kommen, sehr gering. Wenn man es schafft, muss man härter arbeiten als die anderen – und man braucht Menschen, die an einen glauben“, erklärt die Politikwissenschaftlerin aus Erfahrung. In einem „gemeinsamen Kraftakt“ gelang es ihr schließlich, für den Aufnahmetest einer Universität zugelassen zu werden, ihn zu bestehen und sich einzuschreiben. Nicht etwa für Jura, wie man es von einem gerechtigkeitsliebenden Menschen vielleicht erwarten würde, sondern für Politikwissenschaft. „Ich wollte das politische System verstehen lernen, erkennen, wie es funktioniert und wie es eigentlich funktionieren sollte, wer Teil des Systems ist und wie darin das Verhältnis zwischen Bürgern und Politik ist. Und über dieses Wissen dann einen Beitrag leisten zu können, das war mein Antrieb.“
...mit klaren Forschungsfragen im Kopf
Während andere das Studentenleben genossen, arbeitete sie nicht nur nebenbei, sondern büffelte auch Englisch, denn anders als ihre Kommilitonen, die auf internationalen Schulen waren, durfte sie dies nicht schon seit dem Kindesalter lernen. Schnell wurde sie zudem Forschungsassistentin in ihrem Fachbereich und arbeitete an Projekten zur öffentlichen Meinung mit. „Meine Mutter sagte immer zu mir: ‚Du kannst nicht einfach eine von vielen Absolventen werden, Du musst herausstechen. Such Dir etwas, das Dich besonders macht!‘“. Für Ortiz-Ayala stand rasch fest: Das ist die Wissenschaft. „Ich habe mich schnell in die politische Forschung verliebt und liebe es seither, Daten zu sammeln und auszuwerten, ob qualitative oder quantitative.“ Dieser Liebe zur Wissenschaft wollte sie auch nach ihrem Abschluss unbedingt weiter nachgehen. Doch um die Chancen auf eine gute akademische Karriere zu erhöhen, ist es für die meisten Kolumbianer eine Notwendigkeit, ins Ausland zu gehen. Also hieß es wieder: Englisch pauken, Geld als Dozentin und Beraterin verdienen und sich nebenbei weltweit für PhD-Stellen bewerben – und das mit klaren Forschungsfragen im Kopf, die sie seit einer Beratertätigkeit für das kolumbianische Militär während der Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und den revolutionären Streitkräften Kolumbiens nicht mehr loslassen: Wie kann man das Mindset von Soldaten ändern nach Jahren der Gewalt? Wie kann man ihnen sagen, dass es Zeit für Frieden ist? Dass der Feind nun „umarmt“ werden muss, weil ein Reintegrationsprozess beginnt? Wie kann das bei Soldaten gelingen, die viele Jahre ausgebildet wurden, um andere zu töten? „Ich war nahezu besessen von diesen Fragestellungen. Und das sind ja auch sehr relevante Fragen, nicht nur in Kolumbien, sondern in verschiedenen Konflikten. Wenn es wieder zum Frieden zwischen der Ukraine und Russland kommen sollte beispielsweise. Welche Narrative nutzen wir eigentlich, um Gewalt zu rechtfertigen? Wenn wir das wissen, können wir Frieden verstehen und erkennen, wie wir ihn herbeiführen können.“
Wir sind die, die sich einmischen, die Konfrontationen provozieren und den Dialog fordern.
Das Nationale Zentrum für Friedens- und Konfliktstudien im neuseeländischen Otago gab Alejandra Ortiz-Ayala schließlich die Chance, diesen Fragen von globaler Dimension in einer Dissertation nachzugehen – basierend auf Daten, die sie bei einem viermonatigen Feldexperiment unter kolumbianischen Staatskämpfern sammelte. Eine Frau aus dem globalen Süden, die nun in dem von Männern dominierten Bereich der Sicherheits- und Militärforschung mitmischt? Wieder habe sie sich eher als Außenseiterin wahrgenommen, sagt Ortiz-Ayala. Doch sie sticht damit eben auch hervor, so wie es sich ihre Mutter immer für sie gewünscht hat, – und ist wie gemacht für die Willy Brandt School of Public Policy der Uni Erfurt. Hier kann sie ihrer Forschung zur Beziehung zwischen Sicherheitssektor, Staat und Bürgern sowie ihrem zweiten Untersuchungsgegenstand, der Vertreibung und (Binnen-)Migration und der damit einhergehenden strukturellen Gewalt in Form von Rassismus und Diskriminierung, weiter nachgehen und ihre Erfahrungen mit den Studierenden, die aus aller Welt nach Erfurt kommen, teilen. Ihre Themen sind weltweit von Bedeutung und die Kolumbianerin möchte nicht nur ihre eigene Stimme in den geführten oder noch anzustoßenden Debatten erheben, sondern auch ihre Studierenden anregen, dies zu tun. „Konfliktforscher sind diejenigen, die die unbequemen Fragen stellen“, sagt sie und lacht. „Wir sind die, die sich einmischen, die Konfrontationen provozieren und den Dialog fordern. Ein Gespräch über den Frieden, muss nicht immer friedlich verlaufen, deshalb kann auch das Studium schon sehr emotional und herausfordernd sein. Ich hoffe, die Studierenden sind bereit, sich an komplizierten, konfrontativen Fragestellungen zu beteiligen. Natürlich werde ich versuchen, es so zu gestalten, dass sie trotzdem Spaß daran haben. Aber sie müssen Eines erkennen: Wenn wir in einer friedlichen Gesellschaft leben wollen, müssen wir auch schwierige Konversationen führen. Das wird unbequem, aber es lohnt sich.“
Dieses Unbequeme, das Alejandra Ortiz-Ayalas Arbeit mit sich bringt, und die nötige Selbstreflexion, die damit immer wieder einhergeht, begleiteten sie bisher überall hin. „Mein Kopf arbeitet eigentlich ununterbrochen. Aber ich habe mir vorgenommen, mich hier in Erfurt endlich auch einmal um mich selbst zu kümmern. Das ist ein großes Privileg, finanziell und zeitlich. Ins Fitnessstudio gehen, mich bewusster ernähren, Salsa tanzen, Erfurt und die Menschen hier noch näher kennenlernen – darauf freue ich mich genauso wie auf die Arbeit mit den Studierenden und den Kolleginnen und Kollegen an der Brandt School.“ In diesem Sinne: bienvenido a la Universidad de Erfurt!