Am 16. Oktober 2020 findet der internationale Tag der Sprachentwicklungsstörungen (DLD awareness day) unter dem Motto „DLD – See me! bzw. SES - Schau hin! statt. Das Team um Prof. Dr. Sandra Neumann, Professorin für Inklusive Bildungsprozesse bei Beeinträchtigungen von Sprache und Kommunikation an der Universität Erfurt, beteiligt sich mit einem Quiz, das zur Aufklärung beitragen soll, daran. „WortMelder“ hat bei ihr nachgefragt: „Warum braucht es solch einen internationalen Tag und was können Sie als Wissenschaftlerin – neben dem Quiz – dazu beitragen, Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) zu helfen?“
„Der Internationale Tag der Sprachentwicklungsstörung (DLD awareness day) wurde 2010 in Großbritannien ins Leben gerufen. Man hatte damals festgestellt, dass in der dortigen Bevölkerung sowie weltweit wenig Wissen über Sprachentwicklungsstörungen (SES) bestand. SES schien unsichtbar. Danach begannen sowohl eine wissenschaftliche Debatte als auch ab 2013 eine große Öffentlichkeitskampagne, um SES weiter in den Fokus zu rücken. 2019 wurden beim 'DLD awareness day' unter anderem Wahrzeichen wie die Niagara Fälle und die Victoria Bridge in Brisbane (Australien) in den Kampagnenfarben violett und gelb erleuchtet. Außerdem fanden weltweite Social-Media-Aktionen statt. In diesem Jahr wird im deutschsprachigen Raum der 16. Oktober als Tag der Sprachentwicklungsstörung unter dem Motto ‘SES - Schau hin!’ begangen. Denn es braucht auch heute, zehn Jahre später, noch mehr Öffentlichkeitsarbeit zu dieser Thematik. Unser Beitrag daran ist in diesem Jahr die Erstellung eines SES Quizes für die breite Öffentlichkei. Hierzu hat unser Team das radld-Quiz übersetzt und visuell ansprechend umgesetzt. Anhand von zehn Fragen kann man hier sein Wissen über Sprachentwicklungsstörungen testen. Am Ende gibt es eine Punktzahl und falsch gewählte Antworten werden durch kurze Infos richtiggestellt. So lernt man spielerisch Hintergründe zu Sprachentwicklungsstörungen und deren Auswirkungen auf die betroffenen Menschen. Probieren Sie das doch direkt mal aus! Sie werden sich wundern, wie viel Sie noch nicht wussten!
Das grundlegende Problem bei SES ist, dass sie sich je nach Schweregrad und Komplexität langfristig auf die Entwicklung eines Kindes auswirken kann und somit auch noch im Schulalter fortbesteht. Die Idee, dass sich eine Entwicklungsstörung 'verwächst', ist wissenschaftlich nicht zu belegen. Vielmehr zeigen sich häufig auch Folgestörungen. Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung werden beispielsweise als ängstlicher oder hyperaktiver erlebt als typisch entwickelte Kinder. Da das schulische Lernen stark auf Sprache und Sprechen aufbaut, fällt Kindern und Jugendlichen mit einer Sprachentwicklungsstörung das Lernen allgemein oft schwer. Was einfach viele nicht wissen ist, dass jeder 14. Mensch eine SES hat. Das bedeutet, dass pro Schulklasse oder Kindergartengruppe im Schnitt zwei Kinder von einer SES betroffen sind. Deshalb ist es notwendig, dass auch Lehrkräfte über das Störungsbild der SES informiert sind und wissen, wo sie Unterstützung bekommen. Im schulischen Bereich können ausgebildete Lehrkräfte mit sonderpädagogischer Expertise im Förderschwerpunkt Sprache das Lernen der Kinder und deren soziale Teilhabe fördern. Letztere werden bei uns an der Universität Erfurt durch unseren neu aufgebauten Arbeitsbereich 'Inklusive Bildungsprozesse bei Beeinträchtigungen von Sprache und Kommunikation' sowohl im Bachelor- als auch im Master-Studiengang Förderpädagogik ausgebildet. Ziel ist die qualitativ hochwertige sonder- und sprachpädagogische Lehrer*innenausbildung für den gemeinsamen Unterricht in Thüringen. Dabei spielt das Wissen und Fertigkeiten in einer adäquaten Förderdiagnostik, der darauf aufbauenden Förderplanerstellung, kollegialen Fallberatung sowie Elternberatung, konkrete Sprachförderung im Unterricht sowie der reflektierte Einsatz von Lehrer*innensprache und Gesprächshandeln eine übergeordnete Rolle. Darüber hinaus können Studierende des außerschulischen Master Sonder- und Integrationspädagogik den Schwerpunkt nun als eigenständigen Studienbereich intensivieren, was stark angenommen wird. Hier bilden wir in Richtung Elternberatung und individuelle Sprachförderung aus.
Aber auch in der Forschung beschäftigen wir uns als Arbeitsgruppe in aktuell sieben Forschungsprojekten mit der kommunikativen Teilhabe von Kindern mit SES und anderen Sprachstörungsbildern, wie Lippen-, Kiefer-, Gaumen-, Segelfehlbildungen, Aussprachestörungen oder Stottern. Methodisch kommen hier neben konzeptuell-theoretischen Ansätzen, z.B. zum Konstrukt der kommunikativen Teilhabe oder der Verständlichkeit im Kontext, Methoden der Fragebogenentwicklung bzw. -adaption, deren formative und psychometrische Evaluation, systematische Reviews, der Einsatz von bildgebenden Verfahren (MRT/fMRT), sowie die Erhebung quantitativ(-qualitativer) Daten zu Grundlagenforschung und Sprachtherapieeffektivität zum Tragen. Uns interessieren die Auswirkungen von unterschiedlichen Sprachstörungen auf die Verständlichkeit, das Wohlbefinden, die Lebensqualität und die kommunikative Teilhabe bzw. soziale Integration der betroffenen Kinder im Schul- und Vorschulalter. Darauf aufbauend wollen wir herausfinden, welche gesellschaftlichen, institutionellen und individuellen Voraussetzungen geschaffen werden müssen zur Verbesserung der kommunikativen Teilhabe der betroffenen Kinder in inklusiven schulischen, wie außerschulischen Settings. Es werden im Sinne der ICF-CY (außer-)schulische Barrieren bzw. Förderfaktoren für Kinder eruiert, die dann zur Weiterentwicklung inklusionsspezifischer Inhalte in der Ausbildung von Sonderpädagog*innen genutzt werden sollen. Konkret sollen Konzepte für wirksame Maßnahmen sprachförderlichen Handelns konzipiert werden.
Wir versuchen die Inklusion und Sicherung gesellschaftlicher Teilhabe von Kindern mit sprachlich-kommunikativen Unterstützungsbedarf weiter voranzutreiben. Unser langfristiges Ziel ist: SES bzw. andere Sprachstörungen und ihre weitreichenden psychosozialen Auswirkungen sollen nicht weiter unsichtbar sein!"