Mit Lebensratgebern auf Max Webers Spuren

Einblicke

Ein Streifzug durch die Buchläden macht es genauso offensichtlich wie der Blick auf die Bestsellerlisten der Sachbücher: Lebensratgeber finden reißenden Absatz. Ob das Kind in uns Heimat finden muss, wir zum Café am Rande der Welt reisen oder wir endlich erkennen, dass man nicht von allen gemocht werden muss – das Repertoire an Ratgeberliteratur bietet für alle Lebenslagen etwas. In einer immer komplexer werdenden Welt bieten die Bücher Orientierung, Erklärung, Hilfestellung, Rat. Dabei ist das Prinzip an sich nicht neu, weiß Steven Sello. Der Doktorand am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt forscht im Rahmen seiner Doktorarbeit über „Narrative Selbstverhältnisse und die Rezeption von Lebensratgeberliteratur“. Dass sich sein Werdegang, der ihn schließlich nach Erfurt führte, selbst liest, als wäre er von einem Ratgeber inspiriert, sei aber reiner Zufall, versichert der Forscher. „WortMelder“ sprach mit ihm über ein Forschungsthema, bei dem so gut wie jede*r mitreden kann…

Steven Sello

Zwölf Jahre lang widmete sich Steven Sello der IT-Systemadministration, zunächst als Auszubildender, dann als Angestellter eines Berliner Unternehmens. Irgendwann verlor er schlicht das Interesse daran, erinnert er sich. Das konnte doch nicht alles gewesen sein! „Ich wollte stärker meinen Interessen nachgehen. Ich wollte verstehen, wie Gesellschaft funktioniert und Antworten suchen auf die Frage ‚In was für einer Welt leben wir eigentlich?‘. Mich hat es interessiert, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu untersuchen, sie zu erklären und – diese Hoffnung hat man ja am Anfang eines Studiums noch oft – sie vielleicht sogar irgendwie ändern.“ Steven Sello tat das, was ihm viele Lebensratgeber wahrscheinlich auch empfohlen hätten. Er änderte sein Leben. Er machte die IT zum Nebenjob und begann ein Soziologie-Studium an der Humboldt Uni Berlin. Auf den Bachelor folgte gleich der Master und nun also die Promotion am Max-Weber-Kolleg der Uni Erfurt.

Sein Forschungsthema ist aber nicht etwa das Ergebnis seines Lebenslaufes oder umgekehrt. Auf die Idee, sich mit Ratgeberliteratur zu beschäftigen kam er, als ihm während des Studiums zufällig ein Lebensratgeber aus dem Jahr 1916 in die Hände fiel: „Die Gesetze der Lebenskunst“ von Friedrich Albert Brecht. „Im Prinzip sagt das Buch, das Leben sei ein einziger Kampf und deshalb müsse man es so führen, wie man einen Krieg führt. Man müsse sich bewaffnen und dürfe der Gesellschaft als Masse nicht vertrauen“, fasst Sello zusammen. „Mich hat interessiert, wie man überhaupt darauf kommt, so etwas zu schreiben, und welchen Einfluss Bücher wie dieses dann auf den einzelnen Menschen und auf die Gesellschaft haben.“ In seiner Master-Arbeit beschäftigte er sich schließlich mit dem Konzept der Lebensführung, nahm sich dafür Brechts Werk einmal genauer vor und entfaltete die These, dass Lebensratgeber zur Prägung des narrativen Selbstverhältnisses beitragen. Seine Arbeit, die gerade im Beltz-Juventa Verlag erschienen ist, bildet eine erste Grundlage für seine Doktorarbeit. Mit der möchte er nun noch tiefer der Frage auf den Grund gehen, wie Lebensratgeber die Menschen in der Erzählung über sich selbst beeinflussen. Wie sprechen die Leser*innen darüber, wer sie sind und woher sie kommen, warum sie auf eine bestimmte Art denken, handeln und fühlen und wie rechtfertigen sie das? Wie bedienen sich die Menschen an den Ratgebern, um ihre eigenen Befindlichkeiten zu deuten? „Es gibt schon einiges an Forschung zum Thema Ratgeberliteratur. Aber die beschränkt sich bisher meist auf die Texte selbst und schließt davon auf die Gesellschaft oder auf das sogenannte ‚neoliberale Subjekt‘“, weiß Sello. „Niemand schaut eigentlich, was dann die Leute tatsächlich mit diesen Texten machen, wie sie gelesen werden, wie damit umgegangen wird, wie sich das in den Alltag und die Praktiken übersetzt.“

Diese Lücke möchte der Soziologe mit seiner Forschung weiter schließen. Er möchte sich nicht nur aktuelle Ratgeber anschauen, sondern auch untersuchen, wie diese Titel rezipiert werden. Um das zu untersuchen, arbeitet sich Sello durch verschiedene Internet-Foren, -Rezensionen und -Diskussionen, die es zu einem Werk gibt. Ein prominentes Beispiel hat er auch gleich parat: „‘Das Kind in Dir muss Heimat finden‘ von Stefanie Stahl steht seit sechs Jahren auf Platz 1 der Bestsellerliste Paperback-Sachbuch. Von Leserrezensionen wie ‚Das Buch hat mein Leben verändert!‘ bis zu Therapeuten-Kommentare wie ‚Danke für die neuen Patienten‘ sind die Internetforen voll von Meinungen, Debatten und Erfahrungsaustausch.“ Dies zeige, wie stark Ratgebermedien Fachdiskurse über Psychologie, Neuro- und Sozialwissenschaft popularisiert und zum Teil auch trivialisiert haben. Denn Ratgeberliteratur gibt es schon lange, nur ihr Ton hat sich stark geändert. Nach den Vorläufern der Sitten- und Benimmbücher, die sich einst vor allem an die Oberschicht wendeten, erfuhr sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen stetigen Aufstieg. Manche Bestseller, wie Dale Carnegies „How to win friends and influence people“ aus dem Jahr 1937, werden bis heute in dutzenden Sprachen aufgelegt. Doch die anfänglich sehr direktive Art, die dem Individuum vorschrieb, was es zu tun und zu lassen habe, um zu einem Ergebnis zu kommen, die änderte sich schließlich in den 1970er-Jahren hin zum wissenschaftlich untersetzten Anekdotischen. Heute hat fast jede*r hat schon einmal einen Lebensratgeber gelesen, und jede*r kann über die Erfahrungen damit berichten oder nachlesen. Mit ihren populärwissenschaftlichen Ansätzen ist es diesen Sachbüchern heute sogar möglich, Diskurse zu bestimmen und Trends und Vorlieben zu verändern.

Genau diesem Aspekt, wie die individuelle Rezeption letztlich einen gesellschaftlichen Einfluss bekommt, möchte Steven Sello in den nächsten drei Jahren auf den Grund gehen. Dass er das mit einem Stipendium im Rahmen des Erfurter Promotions- und Postdoktorand*innen-Programms am Max-Weber-Kolleg tun kann, passt für ihn wunderbar. Schließlich habe Max Weber in seinem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ etwas ganz Ähnliches gemacht: „Er hat Texte aus der christlichen Seelsorge untersucht und von ihnen auf eine bestimmte protestantische Ethik geschlossen, die eine Wahlverwandtschaft mit dem ‚Geist‘ des frühen Kapitalismus aufweist.“ Auf Webers Spuren zu forschen, ist also Steven Sellos neuer Weg, um den Funktionsweisen und Mechanismen unserer Gesellschaft auf den Grund zu gehen. IT spielt darin kaum noch eine Rolle. „Die habe ich hinter mir gelassen“, sagt er zufrieden. Ob „Das Café am Rande der Welt“ nicht doch vor ein paar Jahren auf seinem Nachttisch lag? Wir fragen lieber nicht nochmal…

Kontakt:

Steven Sello
Doktorand
(Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien)
Weltbeziehungen / C19.01.31