„Wir leben in einer Zeit, in der Wissenschaft immer wieder diskreditiert wird. Entweder, weil die Menschen das Vertrauen in die Wissenschaft verloren haben oder weil sie schlichtweg selektiv rezipieren, sich also nur die Informationen aussuchen, die ihren sowieso schon vorhandenen Vorstellungen und Meinungen entsprechen“, sagt Johannes Bauer, Professor für Bildungsforschung und Methodenlehre an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Ihn treibt schon lange die Frage um, wie Menschen mit wissenschaftlich fundiertem Wissen umgehen, die selbst keine Wissenschaftler*innen sind, aber zum Beispiel in ihrem Beruf mit Forschungsergebnissen in Berührung kommen – im medizinischen Bereich zum Beispiel, in der Politik oder in der Bildung. In dem Forschungsprojekt „Aufklärung Reloaded“ untersuchen Bauer und sein Forschungsteam zusammen mit einer Arbeitsgruppe des Fachbereiches Psychologie um Prof. Dr. Tilmann Betsch, welche Voraussetzungen und Prozesse der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen zugrunde liegen und wie es genutzt wird. Die Gruppe von Professor Bauer hat dabei besonders Lehrkräfte und angehende Pädagog*innen im Blick.
„Gerade im Bildungsbereich wird Wissenschaft oft nicht als so relevant wahrgenommen wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen“, erklärt der Bildungsforscher. „Dabei ist Bildung ein zentrales Thema, das immer wieder Stoff für öffentliche Debatten liefert.“ Denn welche Eltern wünschen sich nicht professionelle Lehrer*innen für ihre Kinder und begründbare Entscheidungen seitens der Bildungspolitiker? Diese Professionalität beruhe aber darauf, das eigene Handeln auf eine solide Basis zu stellen, die auch wissenschaftliche Befunde einbezieht. Handeln werde also dadurch professionell, dass es nicht einfach aufgrund eigener subjektiver Überzeugungen erfolgt, sondern dass es auch eine objektive, rationale Rechtfertigung für Handlungen und Entscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, also auf Evidenz, gibt.
Doch den Forscher*innen fallen gerade im Bildungsbereich immer wieder unhinterfragte Routinen und auch Fehlvorstellungen auf, die zum Teil schwer korrigierbar sind und so das Handeln von Lehrkräften beeinflussen. „Vieles scheint nach dem Motto zu gehen: ‚Das wurde schon immer so gemacht.‘“, bedauert Bauer. Ein sehr alltägliches Beispiel für solche Routinen ist das Thema Hausaufgaben. Lehrer*innen könnten sich hierzu beispielsweise fragen, wie häufig und in welchem Umfang Hausaufgaben überhaupt gegeben werden sollten. Wie müssen Haussaufgaben gestaltet sein, damit sie die Schüler*innen zu einer möglichst aktiven Auseinandersetzung mit dem Lernstoff anregen? Was gilt es bei der Hausaufgabenvergabe im Unterricht zu beachten? Das Forschungsteam betont, dass es zu solchen und ähnlichen praxisrelevanten Fragen durchaus wissenschaftliche Befunde gibt, dass Lehrkräfte diese aber häufig nicht kennen oder sie in der Praxis nicht als Entscheidungsgrundlage heranziehen.
Ähnlich sei es bei dem Verharren auf Bildungsmythen, sagt Bauer, die sich – obwohl längst wissenschaftlich entkräftet – hartnäckig halten: Noch immer seien beispielsweise Überzeugungen verbreitet wie die, dass Sitzenbleiben die Leistung verbessere, es verschiedene Lerntypen gebe oder kleinere Klassen automatisch einen besseren Unterricht bedeuten. Die Liste der Bildungsmythen ist lang und viele Menschen sind schon einmal auf den einen oder anderen Mythos hereingefallen. „Jeder hat seine eigene Bildungsbiografie mit Erlebnissen, die solche Fehlvorstellungen möglicherweise sogar zu bestätigen scheinen. Problematisch wird es jedoch dann, wenn solche Mythen im Kontext von Schule oder anderen Bildungseinrichtungen die Grundlage von Handeln und Entscheiden sind. Uns ist es wichtig, dass Lehramtsstudierende an der Universität lernen, welche Rolle Wissenschaft für ihren zukünftigen Beruf spielt und wie sie mit wissenschaftlichen Befunden umgehen und sie als Ressource einbeziehen können.“ Dies decke sich u.a. mit den Standards für die Lehrerbildung, in denen die Kultusministerkonferenz festgelegt hat, was Lehrkräfte wissen und können sollen. So wird erwartet, dass sie dazu in der Lage sind, verfügbare Befunde und bewährte wissenschaftliche Theorien zu berufsrelevanten Themen kritisch zu lesen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in verschiedenen Situationen ihrer pädagogischen Praxis zu nutzen.
„Mehr Evidenz im Bildungsbereich, bitte“ lautet also die aufklärerische Forderung von Professor Bauer und seinem Team. Evidenz jedoch nicht verstanden als rezeptartige Handlungsanweisung, sondern als Grundlage für ein Problembewusstsein, als Hilfestellung und gegebenenfalls auch als Korrektiv, anpassbar an verschiedene Bedingungen und kritisch interpretierbar. Es gehe nicht darum, schulische Praxiserfahrung durch Wissenschaft zu ersetzen, sondern vielmehr Erfahrungswissen mit wissenschaftlichem Wissen abzustimmen und zu fundieren. Das sei natürlich aufwendiger als ein bewusstes oder unbewusstes Abwehrverhalten, zu dem einige Menschen tendierten, wenn sie auf neue, den eigenen Überzeugungen entgegenstehende Erkenntnisse stoßen. Solche Abwehr- und Abwertungsreaktionen können beispielsweise darin bestehen, eigenen Überzeugungen zuwiderlaufende wissenschaftliche Befunde schlicht zu ignorieren oder gar der Wissenschaft ihre Fähigkeit abzuerkennen, das entsprechende Thema überhaupt untersuchen zu können. „Doch auch wenn die Auseinandersetzung mit Forschung und ihren Ergebnissen für Nicht-Wissenschaftler*innen sicherlich schwierig ist, lohnt es sich, den Weg des größeren Widerstandes zu gehen“, ist Johannes Bauer überzeugt. Denn wie in anderen akademischen Berufen auch sei wissenschaftliches Wissen die Basis für professionelles und qualitativ hochwertiges Handeln im Bildungsbereich.
Übrigens: Eine Hilfestellung für Lehramtsstudierende und Lehrkräfte, wie man Bildungsmythen erkennt, bietet ein Beitrag von Prof. Dr. Johannes Bauer gemeinsam mit Jana Asberger, Dr. Eva Thomm und Holger Futterleib in dem Buch „Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht“, das im April 2022 im Springer Verlag erscheint.