Mit seiner Rede „I have a dream“ 1963 in Washington D.C. ist Martin Luther King in die Geschichte eingegangen. Ein Jahr später wurde er für seinen gewaltlosen Kampf gegen Ungleichbehandlung von Schwarzen und gegen Rassismus mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. “WortMelder” hat bei apl. Prof. Dr. Michael Haspel vom Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt nachgefragt: Welche Impulse gehen noch heute von Kings Nobelpreisrede aus?
Die Vorgeschichte der Nobelpreisverleihung ist symptomatisch für die Situation Kings und der Bürgerrechtsbewegung 1964. Einerseits war die Unterzeichnung des neuen Bürgerrechtsgesetzes durch Präsident Johnson im Juli 1964 der bis dahin größte Erfolg der Bürgerrechtsbewegung. Andererseits verschlechterte sich die Situation der Schwarzen vor allem in den Ghettos des Nordens und der Backlash der rassistischen Weißen gewann an Kraft. So ist es bezeichnend, dass King die Nachricht von der Verleihung des Friedensnobelpreises erhielt, während er wegen Erschöpfung und Depression – heute würde man wohl Burnout sagen – im Krankenhaus war. Erfolge und Rückschläge lagen nahe beieinander.
Eine entscheidende Folge des Nobelpreises war, dass King nun die Bürgerrechtsbewegung noch stärker in einen internationalen Horizont sah. In seiner Dankesrede am 10. Dezember in Oslo betonte King, dass er den Preis stellvertretend für alle annimmt, die gegen Segregation und Rassismus gekämpft haben. Zudem nahm er ausdrücklich Bezug auf Chief Luthuli, dem Präsidenten des südafrikanischen African National Congress (ANC), der den Friedensnobelpreis des Jahres 1960 für seinen gewaltlosen Kampf gegen die Apartheid bekommen hatte. Übrigens ist es wohl eine Ironie der Geschichte, dass es dann Nelson Mandela war, der gegen den Willen Luthulis den bewaffneten Arm des ANC gründete.
Mit diesem Bezug zum Anti-Apartheidskampf machte King deutlich, dass er die amerikanische Bürgerrechtsbewegung im Kontext der weltweiten De-Kolonisierung sah. Dies verdeutlichte er am folgenden Tag bei seiner Nobelpreisrede an der Universität Oslo. Er identifizierte die drei zusammenhängenden Grundübel Rassismus, Armut und Krieg. Durch den von ihm analysierten Zusammenhang von Rassismus und Armut wird klar, dass Rassismus ein weltweites, vielschichtiges und strukturelles Problem ist, das vor allem auch eine wirtschaftliche Dimension hat und sich nicht auf rückständige Einstellungen von Teilen der Bevölkerung reduzieren lässt. Mit der Betonung der Überlagerung dieser Formen von Ungerechtigkeit hat er Einsichten dessen vorweggenommen, was heute als Intersektionalität bezeichnet wird. Allerdings ist offensichtlich, dass bei King das Thema des Sexismus fehlt. Aufgrund seiner patriarchalen Prägung hatte er hier einen blinden Fleck.
In seiner Analyse der Armut entwickelt er zwei Hauptthesen: Zum einen, dass es genug für alle gibt und eigentlich niemand hungrig zu Bett gehen müsste. Zum anderen, dass es ein Skandal ist, dass im reichsten Land der Welt 20 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen sind.
Bei seiner Kritik der Rüstung und des Kriegs ist vor allem der Kontext leitend, dass jeglicher kriegerische Konflikt im Kalten Krieg zu einem Nuklearkrieg und damit zu wechselseitiger Auslöschung führen könnte. Die Kubakrise war ja erst zwei Jahre her.
Als positive Vision entwickelte King die Metapher vom “großen Welthaus”, in dem alle Menschen ihre Wohnungen hätten und irgendwie lernen müssten, miteinander zu leben. Denn die moralische Entwicklung der Menschheit habe nicht Schritt gehalten mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung. Es gelte zu lernen, als Weltgemeinschaft in aller Unterschiedlichkeit friedlich zusammenzuleben.
Diese Gedanken waren 1964 wahrscheinlich genauso utopisch wie heute. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen wirken sie vermutlich völlig idealistisch. Aber gerade, weil King sie auf Grundlage empirischer Analysen der Ursachen entwickelt, können sie auch heute noch anregen, über Ungerechtigkeit und Rassismus nachzudenken und Lösungsstrategien zu entwickeln. Dabei kann es nicht darum gehen, King einfach eins zu eins zu übertragen. Das ginge schon deshalb nicht, weil er wichtige Entwicklungen, wie etwa die Klimakatastrophe, noch gar nicht voraussehen konnte. Aber die klare Argumentation und bildhafte Sprache können heute helfen, auch in der Schule und an der Universität, eigene Perspektiven der Weltverantwortung zu entwickeln. Denn leider sind die Grundübel Rassismus, Armut und Krieg immer noch aktuell.