Die Europäische Kommission hat 2023 eine Expertengruppe zur "Förderung des Wohlbefindens an Schulen" berufen. Eingerichtet wurde sie, um wissenschaftsbasierte politische Empfehlungen und Leitlinien im Rahmen der Leitinitiative „Wege zum schulischen Erfolg“ für den europäischen Bildungsraum zu entwickeln. Zu diesen Expert*innen zählen Forscher*innen, Lehrer*innen und Schulleiter*innen, Lehrertrainer*innen sowie Schul- und Kinderpsycholog*innen. Einer von ihnen ist PD Dr. habil. Benjamin Dreer-Göthe, wissenschaftlicher Geschäftsführer der Erfurt School of Education an der Universität Erfurt. Erste Arbeitsergebnisse der Expertengruppe liegen nun vor, darunter zwei Leitlinien mit Handlungsempfehlungen, um das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit junger Menschen und von Lehrkräften an Schulen zu verbessern. Wir sprachen darüber mit Benjamin Dreer-Göthe …
Herr Dreer-Göthe, an wen richten sich diese Leitlinien, für wen wurden sie erarbeitet?
Die bildungspolitischen Strukturen in Europa sind sehr vielfältig, was eine gewisse Differenzierung von Anfang an erforderlich machte. Die Leitlinien wurden deshalb so erarbeitet, dass es nun ein Dokument für bildungspolitische Entscheidungsträger*innen und ein Dokument für Schulen gibt. So konnte schon bei der Erarbeitung darauf geachtet werden, dass spezifische Empfehlungen für die Zielgruppen formuliert werden.
Warum sind solche Handreichungen überhaupt erforderlich?
Zahlreiche Berichte über das sinkende Wohlbefinden und die sich verschlechternde psychischen Gesundheit von Schüler*innen und Lehrkräften geben uns Anlass zur Sorge. Wir stehen da überall in Europa vor großen Herausforderungen. Dazu gehört, dass sich mit sinkendem Wohlbefinden auch die Schulleistungen von Kindern und Jugendlichen verschlechtern, was sich wiederum auf ihre Bildungserfahrung und später auf ihre Beschäftigungsfähigkeit und Gesundheit auswirken kann. Aber auch mit Blick auf die Lehrkräfte zeigt sich, dass der Mangel an ausreichenden Ressourcen, Ausbildung und Unterstützung die Attraktivität des Berufs zunehmend beeinträchtigt und mittlerweile zu einem deutlichen Mangel an Lehrerinnen und Lehrern geführt hat. Das sehen wir ja auch direkt vor unserer Haustür in Thüringen. Wir möchten mit den nun veröffentlichten Leitlinien vor allem Lehrkräfte und Schüler*innen bei der Bewältigung dieser zunehmenden Herausforderungen im Arbeits- und Lernalltag unterstützen. Und ebenso wie Iliana Ivanova, die Kommissarin für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend, bin ich optimistisch, dass uns dies gelingt und wir damit die Grundlagen für eine gesündere und inklusivere Bildungslandschaft in Europa schaffen können. Durch solche und andere Initiativen schaffen wir es, die Bedeutsamkeit des Themas Wohlbefinden besser sichtbar zu machen und zunehmend auch den Menschen nahezubringen, die noch immer glauben, dass Überanstrengung, Dauerstress und Leidensdruck normale Bestandteile von Lernprozessen sind. In Deutschland lassen sich bereits kleine Zeichen des Umdenkens erkennen: So hat zum Beispiel die Universität zu Köln – eine der größten lehrerbildenden Hochschulen – das Jahr 2024 zum Fokusjahr für Gesundheit und Wohlbefinden in der Lehrerbildung erklärt. Viele Veranstaltung und Initiativen werden dort unter dieser besonderen Perspektive organisiert.
Was genau steht in den Leitlinien – können Sie das kurz zusammenfassen?
Im Grunde plädieren wir darin als Expertengruppe dafür, das Thema Wohlbefinden in der Schule umfassend und integriert anzugehen, wobei ein besonderes Augenmerk auf der Prävention liegen sollte. Dazu braucht es unserer Auffassung nach einen sogenannten "Whole School Approach", der die Verantwortung nicht bei einzelnen Personen ablädt, sondern eine ganze Schulgemeinschaft einlädt und befähigt, sich dem Thema auch unter Rückgriff auf Netzwerke und externe Partner*innen zu widmen.
Die Leitlinien enthalten insgesamt elf Empfehlungen, die unter anderem betonen, dass Lehrkräfte und Pädagog*innen mit zusätzlichen Kompetenzen ausgestattet und mit mehr Ressourcen für die Erhaltung ihres eigenen Wohlbefindens unterstützt werden müssen. Hier sind wir an der Universität Erfurt schon vorbildlich unterwegs. Ich weiß von einigen Kolleg*innen, die das Thema in ihren Veranstaltungen sehr ernst nehmen. Als Erfurt School of Education bieten wir zudem einen Kurs zur Begleitung des Praxissemesters an, in dem wir positive Zugänge zum beruflichen Wohlbefinden angehender Lehrkräfte aufzeigen.
Und wie geht es jetzt weiter, was geschieht mit den Leitlinien und wer trägt dafür Sorge, dass sie an den Schulen und Bildungseinrichtungen umgesetzt werden können?
Im Herbst wird die Expertengruppe ihren Abschlussbericht veröffentlichen. Dieser wird noch einmal eine ausführlichere Fassung der Leitlinien mit unterstützenden Forschungsergebnissen, zusätzlichen inspirierenden Verfahren und praktischen Tipps enthalten. Die Europäische Kommission wird über die Sommerpause dafür sorgen, dass die jetzt vorliegenden Dokumente in alle europäischen Sprachen übersetzt und über die entsprechenden Kanäle verteilt werden. Dann ist es auch an uns Expert*innen, die Ergebnisse auf Konferenzen und Arbeitsgruppen in den Ländern bekanntzumachen.